Süddeutsche Zeitung - 02.09.2019

(John Hannent) #1

N


eben dem Tisch von Heiko
Knorr hängt ein Wimpel mit
dem Wappen der Stadt Mei-
ßen. Darüber, auf einem Holz-
balken, steht ein Teelicht, es
flackert wild unentschlossen, als am
Abend die ersten animierten Balken auf
dem Bildschirm wachsen. Signifikante Ver-
luste für die CDU, die dennoch ein Ergeb-
nis erzielt, das man gut nennen kann. Sehr
starke Zuwächse für die AfD, die ein gutes
Ergebnis erzielt, das dennoch zu gering ist
für den ganz großen Triumph. Ein biss-
chen unentschlossen sitzt nun auch Knorr
am Tisch, von dem noch die Rede sein wird
und zu dem zunächst nur gesagt sei, dass
er sich in Meißen zu Hause und politisch et-
was heimatlos fühlt, irgendwo zwischen
CDU und AfD, mit deutlicher Tendenz zu
letzterer. Mit Knorr am Tisch sitzen ein
paar Männer, denen es zumindest poli-
tisch ähnlich geht, die Runde ist vorläufig:
ein stummes tja. Dieser Sonntag war, das
sagt schließlich Heiko Knorr, eine Rich-
tungswahl. Und jetzt? „Jetzt gibt es keine
richtige Richtung.“ Das konservative Lager
habe zwar in Summe zugelegt, aber es wer-
de wohl trotzdem weitergehen wie bisher.
Willkommen am Abend der Wahl in
Sachsen, willkommen im Garten des Ho-
tels Schlossberg Meißen. Sachte plätschert
nebenan ein Brunnen und wie bisher wer-
de es weitergehen, sagt also Heiko Knorr.
Nur, was würde das heißen? Die vergange-
ne Legislaturperiode in Sachsen begann
mitdem erstmaligen Einzug der AfD in ein
Landesparlament und mit dem Aufkom-
men von Pegida kurz darauf. Es folgten Un-
ruhen in Freital, Heidenau, Clausnitz und
Chemnitz, und es folgte darauf ein wirklich
erstaunlicher Sprintdauerlauf des Minister-
präsidenten, Michael Kretschmer, der in al-
le Winkel des Landes eilte, um mit höchs-
tem Einsatz die Leute von sich zu überzeu-
gen. Und der maßgeblich bewirkte, dass
Sachsen nach Jahren politischen Wachko-
mas und dem Merkel-muss-weg-Gift im
Bundestagswahlkampf 2017 Wochen ech-
ten politischen Wettstreits erlebte, ein blei-
bender Wert, unabhängig vom Ergebnis.
An einen bleibenden Wert erinnert in
der Meißner Altstadt auch ein Denkmal, es
gilt dem Liudolfinger Heinrich I., der jene
Burg errichten ließ, deretwegen Meißen
als „die Wiege Sachsens“ gilt. Auf 1090 Jah-
re bringt es die Stadt, und wie arg sich Sach-
sen in den letzten fünf dieser Jahre verän-
dert hat und was dies für seine Zukunft
nach dieser Wahl bedeutet, lässt sich hier
in Meißen besonders gut nachvollziehen.


In Meißen marschierte die „Initiative
Heimatschutz“ und lavierte der Oberbür-
germeister, es folgten ein schlammiger
Kampf um dessen Amt und Kommunal-
wahlen, an deren Ergebnis eine neue Ord-
nung abzulesen ist: fünf Sitze im Stadtrat
für die AfD, fünf Sitze aber auch für die
überparteilichen „Bürger für Meißen“. Alte
Gewissheiten sind verloren gegangen,
links wie rechts, und überall dazwischen
haben sich Menschen politisiert. Es gibt
neue Bündnisse, aber auch neue Verwer-
fungen. Und über allem steht die Frage, ob
diese Verwerfungen das Leben auf Dauer
nur ungemütlicher machen, oder ob sie so
etwas sind wie vorübergehende Wachs-
tumsschmerzen der Demokratie.
Den Verlust von Gewissheiten bespricht
man am besten mit Daniela Kuge, 44, seit
2014 direkt gewähltes Mitglied des Sächsi-
schen Landtags für die CDU. Vor fünf Jah-
ren baute Kuge nicht einmal Wahlkampf-
stände auf, es war nicht nötig. In diesen Wo-
chen war sie viel unterwegs und mit ihr oft
eine „Meckerbox“. Die Leute konnten auf
grüne, gelbe und rote Zettel schreiben, was
ihre kleinen Wünsche sind, was sie stört
und was sie extrem stört. Eines der Forma-
te von Kuge heißt „Daniela im Dialog“, sie
hat dazu eingeladen am Dienstag vor der
Wahl in eine Beachbar an der Elbe.
Vor Kuge liegen viele rote und gelbe Zet-
tel, kaum grüne. Ihr gegenüber sitzt Mei-
ßens parteiloser Oberbürgermeister Olaf
Raschke, der von der CDU getragen wird.
Zu Beginn des Abends bittet Kuge den OB,
zu erzählen, „was wir so alles Schönes er-
reicht haben in den letzten Jahren“.
Ende der Achtziger gab es im ZDF einen
Beitrag über die Stadt, der in eine dringli-
che Reiseempfehlung mündete: Besuchen
Sie Meißen, solange es noch geht. Die Stadt
war zu 90 Prozent verfallen. Heute, sagt
Raschke, sehe man fast nur frisch sanierte
Dächer, wenn man von der Burg auf die
Stadt schaue. Fernwärme überall, Deutsch-
lands beliebtester Radweg, die vierte
Grundschule sei am Netz, der Tourismus
wieder um zehn Prozent gewachsen. Politi-
ker berichten im Wahlkampf sonst oft, was
sie anders und besser machen wollen. An
diesem Abend fällt auf, dass später auch
Kuge vor allem sagt, was sie in den vergan-
genen fünf Jahren bereits getan habe.
Die Leute, sagt Kuge später, würden ge-
leistete Arbeit nicht mehr automatisch
würdigen, „da ist jetzt eine nervöse Unsi-
cherheit und die Frage: Was war die letzten
14 Tage so los?“ Zu erklären, wie langwie-
rig die Arbeit von Abgeordneten ist und
wie das politische System funktioniert,
„ist hier 30 Jahre lang nicht hinreichend
passiert“, sagt Kuge und meint damit nicht
zuletzt ihre eigene Partei. Im Ergebnis ste-
he nun, dass die AfD ihren Reiz nicht so
schnell verlieren werde, den Reiz, die Wahl-
urne mindestens zu einer Art Meckerbox
zu machen. Im Ergebnis stehe außerdem,
dass Vertrauen verloren gegangen sei.
Das lasse sich alles aufholen, sagt Kuge,
wenn der neue Stil unter Kretschmer sich
nicht wieder verflüchtige. Die Lust auf Dis-
kussionen und auch Streit sei „ein Hype,
von dem alle Parteien profitieren können“.
Wie lange das dauere, lasse sich nicht seri-
ös sagen, für den Wahlsonntag sei anderes
entscheidend: „Wie viel Asylkrise steckt


noch in der Wahl? Ich hatte hier auf zehn Ki-
lometern vier Erstaufnahmen. Und das ist
etwas, was die Leute nicht vergessen.“ Der
späte Abend zeigt, dass dieser Verdacht be-
gründet war und dass vom Hype zunächst
andere profitieren: Kuge verliert ihr Direkt-
mandat wohl an einen kaum bekannten
Mann von der AfD.
Dass Politik fundamental anders wahr-
genommen und bewertet wird, hängt we-
sentlich zusammen mit der digitalen Kom-
munikation, die sich wie ein unsichtbares
Netz auch über Meißen gelegt hat. Wenn
man Heiko Knorr zum Beispiel über Face-
book um ein Gespräch bittet, begegnet
man schon Stunden später unbekannten
Leuten in der Stadt, die einem zur Begrü-
ßung sagen, sie hätten schon viel von ei-
nem gehört. Als man ihn schließlich selber
trifft, sagt Knorr, er unterhalte drei Profile
auf Facebook, weil er ständig gesperrt wer-
de, und „ich bin nun mal Facebook-süch-
tig, ich hab’s eine Woche mal ohne ver-
sucht, aber das ging überhaupt nicht“.

Heiko Knorr, 51, stellte mit 18 einen Aus-
reiseantrag, dieser wurde erst nicht bear-
beitet und am 7. April 1989 schließlich ab-
gelehnt, das Datum weiß er noch. Einen
Tag später kündigte Knorr seine Arbeit als
Elektromonteur in der Planeta Radebeul,
und weil derlei „asoziales Verhalten“ in der
DDR nicht ohne Folgen bleiben konnte,
floh Knorr über die Tschechoslowakei in
den Westen. Dort habe er seinen Wunsch-
beruf angetreten, den des Fernfahrers,
„das war ja der Traum der großen Freiheit,
aber dann war ich zehnmal in Paris und
habe den Eiffelturm nicht ein einziges Mal
gesehen“. Knorr sagt, er habe gemerkt, wie
er verblöde, also habe er sich umschulen
lassen zum Versicherungsvertreter, 18 Jah-
re lang hat er das gemacht. Jetzt ist er selb-
ständiger Unternehmer und handelt ne-
benher mit gebrauchten Luxusuhren. Er
besitzt Immobilien in Meißen, wirtschaft-
lich geht es ihm gut, mindestens.
Und sonst? Bis vor fünf Jahren, sagt Hei-
ko Knorr, sei er politisch weitgehend un-
interessiert gewesen, er habe sich, das kön-

ne man so sagen, dann aber recht zügig ra-
dikalisiert, wegen des Ukrainekonflikts.
„Ich bin auch Pegidianer der ersten Stun-
de“, sagt Knorr, ab der vierten Demonstra-
tion sei er dabei gewesen, im Jahr 2015
aber trat er der AfD bei, „weil ich mich von
Pegida verabschieden musste“. Das Schrei-
en und das Pöbeln habe ihn gestört. An-
fangs fühlte er sich in der AfD auch wohl,
weil es dort wieder um die Sache gegangen
sei. Gewählt hat er sie auch an diesem Sonn-
tag, 83 Prozent Übereinstimmung, das war
sein Ergebnis im Wahl-O-Mat. Mitglied
der AfD aber ist Heiko Knorr seit diesem
Jahr nicht mehr. Ihn störe der Fundamen-
talismus vieler Mitglieder und das Posten-
gedrängel einiger Funktionäre.
Knorr sagt, er werde weiter in jede Sit-
zung des Stadtrates gehen, aber mit am
Tisch sitzen, das wolle er nicht. Wenn er
auf Facebook Linke wütend machen kann,
freut sich Heiko Knorr, sein Kommentar zu
Michael Kretschmer lautet: „blablabla“. Po-
litisch am wohlsten gefühlt habe er sich in
den frühen Merkel-Jahren, als die CDU
noch konservativ gewesen sei und er sich
nicht so intensiv mit Politik befasst habe.
Und jetzt? Heiko Knorr sagt, Meißen sei
eine erzkonservative Stadt, er fühle sich un-
gemein wohl hier, und man müsse sich nur
umschauen, er wisse, wie es vor30 Jahren

ausgesehen habe. Knorr sagt, er lebe in der
besten aller Gesellschaftsformen, das
schon. „Allerdings ging es meiner sozialen
Marktwirtschaft, meinem Grundgesetz
und meiner Meinungsfreiheit schon mal
besser. Und dafür mache ich die politische
Korrektheit als Ursache aus.“
Wenn Heiko Knorr über die Dauer sei-
ner Sperren bei Facebook spricht, dann
klingt das, als seien Gefängnisstrafen ge-
gen ihn verhängt worden: „Dreißig Tage.“
Er antworte jedem in der Tonlage, in der er
auch angesprochen werde, „ich habe alle
Partituren drauf, von anständig bis laut,
manchmal habe ich auch echt Blutdruck“.
Und wenn er oder andere dann einmal die
falschen Worte wählten, in der Sache aber
recht hätten, werde heutzutage nur noch
über die falschen Worte diskutiert, nicht
über die Sache. Heiko Knorr sagt, er habe
kein gutes Gefühl, „wenn Ideologie über
Realismus gestellt wird.“ Es ist eher kein
Zufall, dass man Knorr am Sonntag bei kei-
ner der Parteien finden kann, sondern auf
dieser kleinen „Wahlparty der Zwischen-
denstühlensitzenden“.
Von der Frage, wer angefangen hat mit
welchen ideologischen Streits und wer sie
warum verschärft, ernähren sich nicht we-
nige politische Akteure und ernährt sich
der Streit auch selbst. Wenn man, davon

ein wenig müde, es mal wieder sehr boden-
ständig haben möchte, dann lohnt ein Be-
such bei Heinz in der Hafenstraße.
Heinz heißt eigentlich Heiko, andere
Geschichte, er betreibt jedenfalls die letzte
Gaststätte hier im Viertel. Bei ihm sitzen
Männer, mit denen man beim Bier lange
schweigen kann, aber auch solche, mit de-
nen es sich gut reden lässt, weil sie nicht
nur die Verhältnisse beklagen, sondern
sich auch selbst reflektieren. Er habe, sagt
einer der Männer, sich immer aufgeregt,
dass es in Meißen kein Kino gebe. Jetzt ge-
be es wieder eines, aber er sei seit Jahren
nicht hingegangen. Also werde er, das sei
hiermit versprochen, nicht schimpfen,
wenn auch dieses Kino wieder verschwin-
det. Wer darauf den Tisch verlässt, um zur
Toilette zu gehen, wird dort von einem be-
sonderen Meißner Porzellan mit großzügi-
gen Maßen überrascht. Heinz hat sich vor
einer Weile den Einbau eines, ja: Kotzbe-
ckens gewünscht, damit er nicht mehr so
oft durchwischen muss, wenn es mal wie-
der länger wird, und es wird bei Heinz ja
meistens länger.

Die Kneipe von Heinz ist assoziiert mit
dem Verein Hafenstraße im selben Gebäu-
de. Vor einer Führung durch dieses sagt
Kerstin Urban zu Recht, man habe es dabei
mit einem „bunten Bauchladen“ zu tun.
Der Verein organisiert Musikunterricht,
das Kunstfest und Ferienfahrten, zum Fa-
sching kommen auch Schulklassen, in de-
nen Deutsch Zweitsprache ist. Es gibt dank
der Hafenstraße wieder Seniorentanz, und
am Samstag vor der Wahl tanzen 60 junge
Menschen durch den Saal, über ihnen Flag-
gen eines geteilten Landes. Es sind zwei
südkoreanische Flaggen, das sollte man da-
zusagen, die K-Pop-Partys werden vom Pu-
blikum immer besser angenommen.
Zweck der Hafenstraße, so steht es in
der Satzung, ist die Förderung einer vielfäl-
tigen Kultur in der Stadt Meißen, beson-
ders in Verbindung mit sozialen Aspekten.
„Wir sind ein Bürgerzentrum für alle, vom
Jugendlichen, der Mist gebaut hat, bis zum
Professor“, sagt Kerstin Urban. Ihr Mann

Ralf, Bruder des sächsischen AfD-Spitzen-
kandidaten Jörg Urban, sagte schon bei Da-
niela Kuge in der Beachbar, dieses Bürger-
zentrum kämpfe gerade übrigens um sei-
ne Zukunft. Es geht dabei ums Ehrenamt
und um Fördermittel, um viel Bürokratie
und das sächsische Kulturraumgesetz.
Urbans haben das Aufblühen Meißens
miterlebt, aber auch die Unruhe seit 1989 –
abgewickelte Betriebe, abwandernde Ju-
gend. Sie haben es hier mit auseinanderge-
rissenen Familien zu tun, für die „der güns-
tigste Treffpunkt heute das Hermsdorfer
Kreuz ist, Autobahnraststätte“, sagt Ralf
Urban. Und sie haben miterlebt, wie sich
viele in der Stadt seit 2014 verkracht ha-
ben. Die Hafenstraße sei als Haus politisch
neutral, sagt Kerstin Urban. Und wenn
vom Gericht mal wieder einer dorthin ge-
schickt wird, weil er Mist gebaut hat, sagt
Ralf Urban, dann sei ihm zunächst total
egal, aus welchem Land der komme.
Urbans sagen einerseits, dass es nicht
sein könne, dass der Staat seine eigenen Re-
geln immer weniger durchsetze. Urbans sa-
gen andererseits, dass es trotz der Verwer-
fungen in ihrer Stadt allen Grund gebe, zu-
versichtlich zu sein. Es zeige sich doch mit
einem Blick in die Geschichte, dass es lang-
fristig noch immer besser geworden sei.
Dem Ministerpräsidenten Kretschmer at-
testiert Ralf Urban immerhin, in wohlwol-
lender Skepsis: „Er scheint bemüht.“ Und
Politisierung überall und die hohe Wahl-
beteiligung, so sagt es Urban am Sonntag-
abend auf dem Markt, sie freuten ihn. Softi-
ge Wahlkämpfe, die werde es so schnell
nicht mehr geben: „Die Leute sind wach.“

Die Leute sind wach, und das trifft auch
gut auf Ute Czeschka zu, in Meißen gebo-
ren und seit 2003 mit ihrer Familie wieder
in der Stadt. „Als wir zurückkamen, war
auch noch alles in Ordnung“, sagt Czesch-
ka, und auch sie sagt, das Jahr 2015 habe
sie politisiert. Weinend habe sie am Rand
einer Demonstration in der Stadt gestan-
den und gedacht: „So geht es nicht, jetzt
musst du dich einbringen.“ Czeschka fand
sich parteiübergreifend mit anderen zu-
sammen, aus einer losen Gruppierung wur-
de eine Bürgerinitiative, die den früheren
Bürgerrechtler Frank Richter fast bis ins
Amt des Oberbürgermeisters trug und heu-
te mehr als 100 Mitglieder zählt. Czeschka
leitete Richters Wahlkampf, sie sagt, sie sei
nach wie vor unparteiisch, ihr gehe es um
die Stadt, deswegen sitzt sie jetzt als Abge-
ordnete in deren Rat. Nie hätte sie gedacht,
einmal in die Politik zu gehen, sagt Czesch-
ka, aber jetzt? „Jetzt macht es schon auch
eine Menge Spaß.“
Die Politisierung der Gesellschaft sieht
Ute Czeschka als etwas Positives, „weil die
Leute Verantwortung übernehmen wollen
und nicht mehr nur zuschauen, das finde
ich erst einmal gut“. Sie ist froh, dass Sach-
sen am Sonntag „mit einem blauen Auge“
davongekommen sei, weist aber darauf
hin, dass allen klar sein müsse, dass das Er-
gebnis der Wahl etwas verzerrt sei. Von vie-
len aus dem tendenziell linken Lager in
Meißen wisse sie, dass dieses eine Mal die
CDU ein Kreuz oder sogar zwei von ihnen
bekommen habe: „Die haben mit Verstand
gewählt, auch wenn sie lieber mit dem Her-
zen gewählt hätten.“ Froh wäre Ute Czesch-
ka übrigens auch, wenn nach eineinhalb
Jahren mit vielen Wahlen in Meißen nun
wieder etwas Ruhe einzöge. Denn: „Dieses
Tempo und diese Intensität, das hält man
auf Dauer nicht durch.“ Auch Czeschka
sieht die Verwerfungen in der Stadt und
den vielen Streit. Aber sie sieht mehr noch,
dass ein viel zu manifestiertes System
endlich aufgebrochen ist und dass jede
Politik nun gefragt ist, wieder bürgernäher
und einfacher und sachbezogener zu arbei-
ten. Politik, sagt Ute Czeschka, „bedeutet,
dranzubleiben“.
Den Wahlabend verbringt Ute Czeschka
in einer privaten Runde ihrer Mitstreiter
von der Bürgerinitiative. Ralf Urban sitzt
mit Vertrauten am Markt, im Rathaus ne-
benan werden zwar die Meißner Zwischen-
stände übertragen, aber kaum jemand
schaut zu. Alle haben sie sich in ihren klei-
nen Gruppen zusammengefunden, analo-
ge Echokammern.
Damit noch einmal zurück an den Tisch
von Heiko Knorr, in den kleinen Garten ne-
ben dem Schlosshotel. Die ersten Progno-
sen werden hier eher gleichmütig mit einer
Flasche Limoncello verarbeitet, frisch aus
dem Frost suppt er zäh in kleine Gläser.
Ein schwaches Prost, ein irgendwie ge-
mischtes Gefühl. Die AfD ist irgendwann
am Abend sogar stärkste Kraft in Meißen.
In ganz Sachsen hat sie stark zugelegt, ja,
aber die CDU weniger verloren, als ge-
dacht. „Das Wichtigste“, sagt Knorr, „ist,
dass mein Sachsen konservativ bleibt, das
genügt mir.“ Die ersten Zahlen für Sachsen
bewegten sich im Rahmen seiner Erwar-
tungen, es werde weitergehen wie bisher,
und wenn es in einer möglichen Koalition
mit den Grünen vielleicht doch interessant
werde, dann, „weil die CDU nicht gewohnt
ist, den Bückling zu machen“.
Der Grill zischt nun hörbar und brutzelt
die erste Auflage, der Swing von nebenan
ist knatschiger geworden. Aus Knorrs Run-
de fallen noch ein paar Livekommentare
zum Fernsehen, aber so richtig kommen
sie nicht in Schwung. Irgendwann ver-
bannt der über die Stadtgrenzen hinaus,
nun ja, stadtbekannte Betreiber des Hotels
die Wahlberichterstattung deswegen ganz
vom Fernseher. Stattdessen ist dort nun
seine Facebookseite zu sehen, er scrollt sie
durch. Statt neuer Zahlen schauen nun al-
so alle auf ein paar alte Posts, die Stim-
mung wird ein wenig leichter, die Zungen
langsam deutlich schwerer.
Wenigstens hält das Wetter. Es war hefti-
ger Regen angesagt worden, für genau 18
Uhr, aber in Meißen, am Hotel Schloss-
berg, hat es dann doch nur kurz getröpfelt.

DEFGH Nr. 202, Montag, 2. September 2019 (^) DIE SEITE DREI HMG 3


Wachstumsschmerzen


In der sächsischen Stadt Meißen sind alte


Gewissheiten schon länger verloren gegangen, links wie rechts.


Aber die Menschen haben sich politisiert. Das immerhin ist


eine gute Nachricht in dieser Wahlnacht


von cornelius pollmer


Daniela Kuge sitzt seit 2014
für dieCDU im sächsischen Landtag.
Ihr Direktmandat wird sie jetzt
wohl an einen kaum bekannten Mann
von der AfD verlieren.FOTO: REUTERS

Wirtschaftlich geht es ihm gut.
Der Meinungsfreiheit aber ging es
schon mal besser, sagt Herr Knorr

Meißen gilt als „die Wiege Sachsens“, 1090 Jahre Geschichte. Aber in den vergangenen fünf Jahren hat sich
vieles verändert. Die Frage ist jetzt, was das für die Zukunft bedeutet.FOTO: WESTEND61 / MAURITIUS IMAGES

„Softige Wahlkämpfe“ gibt es
nicht mehr, die Leute sind wach.
Das heißt: Sie beteiligen sich

Landtagswahlergebnisse in Meißen
Angaben in Prozent

SZ-Grafik; Quelle: Stadt Meißen;
Vorläufiges Endergebnis

Grüne

AfD

CDU

SPD

Linke

FW

FDP

Sonstige

32,

29,

9,

6,

8,

2,

5,

6,

Die AfD hat stark zugelegt, ja.
Die CDU hat aber auch
weniger verloren als gedacht

Ende der Achtziger war die Stadt


verfallen, aber heute? Sanierte


Dächer, neue Schulen, Touristen

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