Süddeutsche Zeitung - 02.09.2019

(John Hannent) #1
Nein, von Krise kann eigentlich keine Rede
sein. Imletzten Jahr hat der Google-Mut-
terkonzern Alphabet einen Gewinn von
mehr als 30 Milliarden Dollar gemacht.
Aber Geld ist halt doch nicht alles. Von ei-
nem „Bürgerkrieg“ innerhalb des Unter-
nehmens ist die Rede, von „drei Jahren Mi-
sere“, wie das amerikanische Technik-Ma-
gazinWireddie Situation auf seinem aktu-
ellen Titel nennt. Der Kulturkampf inner-
halb des Konzerns entzündete sich 2017
am Project Maven, bei dem Google für das
Pentagon KI-gesteuerte Bilderkennungs-
software für die Zielerkennung militäri-
scher Drohnen entwickelte.
Noch mehr Zunder gab es im vergange-
nen Jahr beim Project Dragonfly, das eine
Rückkehr in den chinesischen Markt vor-
sah – mit einer zensierten Version von Goo-
gles Suchmaschine. Dazwischen gab es im-
mer wieder Berichte über sexuelle Belästi-
gungen von weiblichen Mitarbeitern, die
meist mit einer großzügigen Abfindung
des Beschuldigten endeten, über Diskrimi-
nierungen und Entlassungen aufgrund po-
litischer Ansichten. Auf Twitter häufen
sich Postings ehemaliger Angestellter, die
halb nach Generalabrechnung mit dem mi-
litärisch-industriellen Komplex klingen,
halb nach verzweifelten Briefen enttäusch-
ter Liebhaber. In dieser angespannten
Situation versandte Google-CEO Sundar
Pichai in der vergangenen Woche neue
Richtlinien für den Arbeitsplatz, die unter
anderem untersagen, politische Fragen in
den zahlreichen internen Message-Boards
des Unternehmens zu debattieren. Man sol-
le sich stattdessen auf die Arbeit konzen-
trieren, für die man bezahlt werde.

Das klingt nun nicht ganz so aufgeklärt.
Praktischerweise wurde das noch immer
viel zitierte Konzernmotto „Don’t be evil“
bereits 2015 aus dem Unternehmenskodex
gestrichen und durch das – wesentlich deu-
tungsoffenere – „Do the right thing“ er-
setzt. Die Frage ist nur, ob sich die Google-
Angestellten den Maulkorb gefallen las-
sen. Es hat lange gedauert, bis sie über die
Auswirkungen ihrer Arbeit zu reflektieren
begannen. Der immer noch nicht ganz zer-
setzte Gründungsmythos des Silicon Val-
ley nährte die Illusion, auf der Seite des Gu-
ten und des Fortschritts zu stehen.
Nun aber gründen sich Initiativen wie
Neveragain.tech. Hier versprechen Tausen-
de von Softwareentwicklern, sich „zu wei-
gern, an Datenbanken mitzuarbeiten, die
dazu dienen, Individuen aufgrund ihrer
Rasse, Religion oder Herkunft“ eindeutig
zu identifizieren. Ähnliches gilt für die Non-
Profit-Organisation Tech Solidarity, die
sich das wohl etwas naive Motto „Tech ser-
ves People“ zu eigen gemacht hat. Das hef-
tige Erwachen betrifft freilich nicht nur
Google. Auch die Angestellten von Tech-
Konzernen wie Facebook, Amazon oder Mi-
crosoft äußern ihre Bedenken hinsichtlich
der Art und Weise, wie die Arbeitgeber mit
Militär und Politik Geschäfte machen.
Die beiden letzteren etwa konkurrierten
bis vor Kurzem in der finalen Runde um
die Vergabe eines Pentagon-Projekts im
Umfang von zehn Milliarden Dollar. Hier
werden zwar „nur“ Daten verarbeitet, den-
noch dient das Projekt laut Verteidigungs-
ministerium der „Erhöhung von Tödlich-
keit und strategischer Bereitschaft“. Das
möchte nicht jeder liberale Ideenarbeiter
gerne in seinem Lebenslauf stehen haben.
Gestoppt wurde die Ausschreibung aber
nicht etwa wegen der Proteste der Mitarbei-
ter, sondern weil es angeblich zu Unregel-
mäßigkeiten zugunsten von Amazon ge-
kommen war. Ob das von Google verhäng-
te Sprechverbot Wirkung zeigt, ist übri-
gens fraglich. Vor Kurzem wurde bekannt,
dass der Konzern mit der US-Grenz- und
Zollbehörde CBP über ein Cloud-Compu-
ting-Projekt verhandelt, das bestimmt
nicht den Statuten der Tech-Arbeiterbewe-
gung entspräche. Die nächste Krise ist
schon unterwegs. michael moorstedt

von tobias kniebe

S


ein zwanghaftes Lachen schmerzt in
den Ohren, sein dürrer Körper ist
kaum anzuschauen, die Qual in sei-
nen Augen haut einen um. Und dann ist da
noch dieses unkontrollierte Zittern in den
Beinen, dieser Hang zum anfallartigen, ent-
rückten Ausdruckstanz, dieses Flackern
von Glamrock, Lampenfieber und nack-
tem Wahnsinn. Joaquin Phoenix, das wur-
de am Samstagabend klar, ist ein „Joker“
für die Filmgeschichte. Und das will etwas
heißen bei dieser Rolle, die schon Heath
Ledger zu einer Intensität getrieben hat,
hinter der dann nur noch der Tod lauerte.
Diese Figur aus dem Universum der DC-
Comics, Erzfeind des Superhelden Bat-
man, hat in dem neuen Film von Todd Phil-
lips etwas Hochpolitisches, ja fast schon
systemverändernde Sprengkraft. Und das
fügt sich dann gut, dass die beiden am hei-
ßesten erwarteten Filme beim Festival von
Venedig zugleich die politischsten sind.
Der andere ist „The Laundromat“, der am
Sonntag Premiere hatte, der Versuch von
Autor Scott Z. Burns und Regisseur Steven
Soderbergh, sich einen Reim auf die welt-
weiten Enthüllungen der Panama Papers
zu machen – aber der Reihe nach.
Alle, die sich der Rolle des Jokers anneh-
men, scheint diese Figur an ihre Grenzen
zu treiben: Schon Jack Nicholson ließ 1989
in Tim Burtons „Batman“ alle Sicherungen
durchbrennen, was augenzwinkernden
Camp betraf, und in eine ähnliche Rich-
tung geht Jared Leto, im Duo mit seiner
Gangsterbraut Harley Quinn in „Suicide
Squad“. Noch mal anders relevant und ge-
fährlich aber wird es, wenn sein volles anar-
chistisches Potenzial zum Tragen kommt,
in den Performances von Heath Ledger
und jetzt eben Joaquin Phoenix.


Christopher Nolan war es mit seinem
„Dark Knight“ (2008), der die Figur neu de-
finierte: als Agent des reinen Chaos. Mit-
ten in der globalen Finanzkrise wurde der
Joker nicht nur der Feind jeder Ordnung,
sondern auch der Hauptfeind des globa-
len, alternativlos gewordenen Kapitalis-
mus der Superreichen. „Why so serious?“
fragte er und demonstrierte, dass es sehr
wohl Alternativen gibt, wenn man der
Krise ins Gesicht lacht und nichts mehr zu
verlieren hat – die Feuerwerke des Unter-
gangs. Erstaunlicherweise traf das beim
Publikum weltweit einen Nerv.
Der neue „Joker“ (deutscher Kinostart:



  1. Oktober), wirkt nun wie die meisterhaf-
    te Vorgeschichte dieses Films. An Super-
    schurkentum ist da anfangs gar nicht zu
    denken – während Gotham im Müllstreik
    versinkt, nimmt der psychisch schwer
    gestörte Arthur Fleck, der an krankhaft
    unmotivierten Lachanfällen leidet, brav
    seine Medikamente, schlägt sich mit winzi-
    gen Werbejobs im Clownskostüm durch
    und träumt vom Erfolg als Stand-up-Co-
    median, obwohl nicht einmal seine kran-
    ke, delirierende Mutter ihn für lustig hält.
    Dies hat mit einer Comicverfilmung, wie
    man sie bisher kennt, nichts mehr zu tun –
    es ist die Fallstudie eines Mannes, der wirk-
    lich bei jeder Gelegenheit brutal in die Fres-
    se kriegt, in einer Stadt voller Hoffungslo-
    ser und aggressiver Bullies. Und der dann
    eines Tages eine Pistole hat, weshalb die
    nächsten Bullies in der Subway, drei üble
    Investmentbankerschnösel, sterben müs-
    sen. Die Massen feiern den unbekannten
    Mörder mit der Clownsmaske, woraufhin
    der Boss der Getöteten, der Milliardär Tho-
    mas Wayne, gleich alle Armen als „Clowns“
    bezeichnet. Es brodelt in Gotham, plötzlich
    sind Clownsmasken überall.


Thomas Wayne ist niemand anders als
der Vater von Bruce Wayne, des künftigen
Batman. Dieser ist hier etwa acht Jahre alt
und ein unschuldiges Kind, aber sein alter
Herr wird als ein derartiges Schwein
gezeigt, dass sich die Sympathiewerte im
Batman-Kosmos bedenklich verschieben.
Kaum besser ist Murray Franklin (Robert
De Niro), ein populärer Talkshow-Host. Als
jemand Arthur Flecks gescheiterte Stand-
up-Versuche mitfilmt, bringt er sie ins
Fernsehen und macht sich darüber lustig.
Dann lädt er den Gedemütigten, der seine
Show liebt, auch noch in die Sendung ein.
Sagen wir mal so, das hätte er besser
nicht getan. Denn das wird nun die eigentli-
che Geburtsstunde des Jokers – kein zufäl-
liger Sturz in einen Säuretank, wie er frü-
her die Herkunft des Joker-Wahnsinns er-
klären musste. Dieser Joker ist menschen-
gemacht, er ist auch das Produkt der Bud-
getkürzungen im Gesundheitswesen,
durch die er seine Medikamente verliert, ei-
nes durch und durch herzlosen Systems.
Aber all das könnte kaum funktionieren
ohne einen Schauspieler, der die Qual die-
ser Figur in jeder Faser seines Körpers spü-
ren will. Joaquin Phoenix war schon all die
Jahre fast zu intensiv, um normale Men-

schen zu verkörpern, aber hier stürzt er
sich in den Wahnsinn und schaut nicht
mehr zurück. Man spürt keinen Millimeter
Distanz zu den Träumen dieses Arthur
Fleck, zu seinen Hoffnungen, seinem
Schmerz, seiner Erniedrigung und Wut.

Phoenix habe in diesem Film einen „Zu-
stand der Gnade“ erreicht, sagt Alberto Bar-
bera, der Festivalchef von Venedig, und sei
an Orte gelangt, „wo wenige Schauspieler
je hinkommen, wo es verstörend wird.
Müsste ich den Oscar vergeben, hätte ich
keinerlei Zweifel“.

Eine derart zentrale Performance gibt es
in Steven Soderberghs „The Laundromat“
nicht – dafür aber viele herrliche Miniatu-
ren. Das beginnt schon damit, dass Jürgen
Mossack und Ramón Fonseca, die beiden
zwielichtigen Anwälte im Herzen der Pana-
ma-Papers-Enthüllungen, höchstpersön-
lich auftreten, gespielt von Gary Oldman
und Antonio Banderas. Aber nicht nur das,
sie reden direkt mit den Zuschauern, mit
starkem deutschen beziehungsweise spa-
nischen Akzent, und erklären ihr
Geschäftsmodell wie zwei Entertainer – an-
gefangen beim Geld als solchem und dem
Tauschhandel in der Steinzeit, der dann
auch gleich mit ein paar Lederschurz-Sta-
tisten visualisiert wird.
Ist alles hier also nur eine lustige Farce?
Das auch wieder nicht, denn in der nächs-
ten Sequenz sieht man Ellen (Meryl
Streep), eine Rentnerin, die mit ihrem Ehe-
mann eine Bootsfahrt auf dem Lake
George in New York unternimmt – und ihn
dann verliert, als das Boot kentert. Dies ist
eine reale Tragödie, und der Film nimmt
das Leid durchaus ernst, genau wie den zu-
sätzlichen Tiefschlag, als die Versicherung
des Kapitäns nicht bezahlt, weil dahinter ei-
ne Scheinfirma steckt. Die Spur führt auf

die Karibikinsel Nevis und dann nach Pana-
ma, zur Kanzlei Mossack Fonseca.
Derweil fungieren Mossack und Fonseca
weiter als Zeremonienmeister – offenbar
mit dem Ziel, sich selbst in ein besseres
Licht zu rücken, in die Rolle von bloßen Er-
füllungsgehilfen. Sie erzählen Geschich-
ten von Verrat und Ehebruch, Geschäfts-
tricks, Erpressung und Mord, die dann ge-
zeigt werden, die alle irgendwie zu ihrer
Kanzlei in Panama führen: überdreht wie
ein Tarantino-Film, doch sehr vieles, wenn
nicht sogar alles ist wahr. So wie der Tod
eines Mannes in einem Hotelzimmer in
China, der von der Frau des chinesischen
Handelsministers Bo Xilai vergiftet wurde


  • nach einem Disput über Offshore-Ge-
    schäfte in Panama, die Bestechungsgelder
    aus China schmuggeln sollten.
    Ellen alias Meryl Steep aber ist ein Opfer,
    das es genauer wissen will – sie fliegt
    selbst auf die Karibikinsel, fragt herum,
    sucht Verbündete in ihrem Kampf. Die fin-
    det sie dann auch, als ein Unbekannter die
    Server von Mossack Fonseca hackt, Tau-
    sende Dokumente kopiert und derSüd-
    deutschen Zeitungzuspielt – dies wird kurz
    in einem Newsclip erzählt, in dem SZ-Jour-
    nalist Bastian Obermayer über die Her-
    kunft des Materials spricht. Wer dieser Un-
    bekannte war, weiß in diesem Film natür-
    lich auch keiner, aber darüber erlaubt sich
    Soderbergh am Ende einen kleinen Scherz.


„The Laundromat“ ist mit dem typi-
schen Soderbergh-Schwung erzählt und
äußerst unterhaltsam, was am Ende sein ei-
gentliches Ziel gefährden könnte, die Zu-
schauer zum politischen Handeln zu moti-
vieren. Kann das alles so wild und verrückt
gewesen sein, wie man es hier sieht? Man
muss schon fast eine Suchmaschine anwer-
fen, um die Details zu verifizieren, bevor
man es wirklich glaubt. Und doch ist die
Botschaft klar: Mossack und Fonseca, die
am Schluss ihre Panamahüte aufsetzen
und davonstolzieren, sind nicht der wahre
Kern des Problems. Die größte Steueroase
der Welt sind immer noch die USA, infor-
miert der Abspann, und daran wird sich
nichts ändern, bis die Wahlkampffinanzie-
rung reformiert ist – auf in den Kampf!
Gemessen am Willen zum Chaos, das im
Herzen des Jokers brennt, plus der Ent-
schlossenheit seiner Anhänger, die Welt in
Brand zu stecken und das ganze System zu
stürzen, mag ein Aufruf zur Reform des
„Campaign financing“ in den USA ziemlich
zahm wirken. Aber die Stoßrichtung ist im
Grunde dieselbe, genau wie die Fassungs-
losigkeit über die Bullies dieser Welt, die
Täuscher und Betrüger, die mit ihren
immer dreisteren Taten viel zu oft davon-
kommen. Steven Soderbergh war schon im-
mer ein linksgerichteter Filmemacher,
Todd Phillips kennt man bisher eher von
seinen wilden, gänzlich unpolitischen
„Hangover“-Komödien.
Jetzt wirken sie auf einmal, als wären sie
Teil einer großen Bewegung, als wäre die
Wut auf die Missstände der Gegenwart im
Herzen des amerikanischen Kinos ange-
kommen – auch dort, wo Blockbuster nach
Comicvorlagen produziert werden. Und
wenn man dann noch James Gray zuhört,
wie er von seinem Film „Ad Astra“ ab-
schweift und über den globalen Kapitalis-
mus spricht, staunt man wirklich: „Ma-
chen wir uns nichts vor“, sagt er. „Auch wir,
die wir Filme produzieren, sind Teil eines
moralisch vollkommen bankrotten Sys-
tems.“ Wenn Hollywood seine Gesell-
schaftskritik in diesem Tempo weiter ver-
schärft, sind sie in zwei Jahren bei einem
Aufruf zur Revolution, der bei Gotham City
nicht mehr haltmachen wird.

NETZKOLUMNE


Es istnur ein kurzer Moment von wenigen
Sekunden in dieser vierstündigen Inszenie-
rung, aber als der Videoausschnitt groß
auf die Bühne projiziert wird, in dem Wladi-
mir Putin 2006 über die Ermordung der
Journalistin Anna Politkowskaja spricht,
da sieht man kurz die nackte Wahrheit. In
diesem Gesicht eines Herrschers, der sei-
nen Aufstieg dem russischen Völkermord
in Tschetschenien verdankt, ist glasklar
die ganze Feigheit eines Mannes gebannt,
der kurz nicht weiß, welche Lüge er aufsa-
gen soll. Soll er die rechtsstaatliche Maske
auflegen, die ein heimtückisches Attentat
auf seine schärfste Kritikerin verurteilt?


Soll er Härte gegen ihre Mörder fordern,
die zumindest mittelbar in seinem Dienst
gehandelt haben? Oder soll er gar Mit-
gefühl heucheln? Putins so oft von starrer
Verlegenheit gezeichnete Mimik kämpft
um die beste Staatsgrimasse, und dann ent-
scheidet er sich dafür, die unwürdigste al-
ler Lügen vorzutragen. Anna Politkowska-
ja sei für die russische Politik völlig „unbe-
deutend“ gewesen.
Es braucht nicht viel mehr an dokumen-
tarischer Wahrheit über die moralische Ver-
faultheit des Putinstaates, um das Theater-


stück „Die Katze und der General“ nach
dem Roman von Nino Haratischwili fest in
der realen Weltpolitik zu verankern. Eine
Weltpolitik, in der Unrecht und Grausam-
keit so schnell vergessen sind. Heute weiß
kaum noch jemand, wer die Tschetscheni-
enkriege angefangen und mit rücksichtslo-
ser Härte so lange geführt hat, bis das Land
vernichtet war und einem Putin-Vasallen
zur Ausbeutung übergeben wurde, der das
Regime später an seinen Sohn vererbte.
Haratischwilis neuer Roman, eine Fort-
setzung ihrer letzten großen Beschäfti-
gung mit russischer Gewaltgeschichte in
ihrer Heimat Georgien, „Das Achte Leben“,
hat Anna Politkowskaja nicht zur Hauptfi-
gur erkoren. Aber die unermüdliche Kämp-
ferin für die Wahrheit über die Massaker-
kriege, die erst Boris Jelzin, aber vor allem
Wladimir Putins Invasionsarmee im Kau-
kasus geführt haben, ist die Graue Emi-
nenz dieser Geschichte. Eine ihrer Reporta-
gen lieferte den Anstoß für Haratischwilis
Roman. Und als ruhige Ernsthaftigkeit, ge-
spielt von Karin Neuhäuser, zentriert sie
auch die Inszenierung des Stoffes am Tha-
lia Theater.
Wie bereits „Das Achte Leben“, so hat
die Regisseurin Jette Steckel auch „Die Kat-
ze und der General“ für das Hamburger
Theater adaptiert. Und ihr ist es brillant ge-
lungen, die 750 Seiten so zu verdichten,
dass die Vorwürfe der Literaturkritik, das
Buch sei etwas hölzern, klischeehaft und

konstruiert, hier nicht wiederholt werden
können. Die Geschichte des Oligarchen Or-
low, der als junger Soldat 1995 von seinen
Vorgesetzten gezwungen wurde, bei der
tödlich endenden Vergewaltigung einer
jungen Tschetschenin teilzunehmen, und
der später Vergeltung für seine Schuld er-
zwingt, ist eine persönlich erzählte Gewalt-
geschichte, die dunklen Bann auf das Publi-
kum legt.
Ohne Ironie oder irgendwelche Exkurse
folgt diese Inszenierung dem Stil einer Po-
litkowskaja-Reportage. In sachlicher und

strikt psychologischer Dokumentations-
weise beschreibt Jette Steckel, wie Krieg
Traumata erzeugt, die sich in neue Trauma-
ta vervielfältigen, und wie manche Men-
schen versuchen, den Schock entfesselter
Gewalt und eigener Beteiligung daran zu
bewältigen. Und dabei findet sie überzeu-
gende Mittel, mit Geräuschen und Video-
verfremdungen die massive und schwer er-
trägliche Gewalt dieser historischen Erzäh-
lung auf der Bühne so darzustellen, dass es
weder abgeschmackt noch unbeholfen
wirkt, sondern wichtig.
Jirka Zett spielt den jungen Küchensol-
daten, aus dem ein russischer Oligarch mit
dem Spitznamen „Der General“ wird, in
berührender Brüchigkeit. Alle gegensätzli-
chen Manöver der gequälten Seele leuch-
tet er aus, Vergangenes zu bewältigen: mit
Ehrlichkeit, mit Verleugnung, mit Adapti-
on der Amoralität, mit Reue, Rache und
Verzweiflung. Sein Gegenpol ist Lisa Hag-
meister als die junge Bauerstochter Nura,
die 1995 das Opfer der soldatischen Gewalt-
sucht wird und 2016 als Wiedergängerin
mit dem Spitznamen „Katze“ in Berlin auf-
taucht und dort mit ihrer zwillingshaften
Ähnlichkeit den „General“ zu seinem Ver-
geltungsplan inspiriert.
Hinreißend lebensgierig spielt Hagmeis-
ter die selbstbewusste junge Frau, die von
der Soldatenbande durch sexuelle Gewalt
getötet wird. Als ihre Doppelgängerin
nimmt sie den Racheplan des Oligarchen

dann für sich selbst auf, weil sie als Kind
ebenfalls einen traumatischen Gewaltein-
bruch verkraften musste. Und um diese
beiden sich langsam annähernden Protago-
nisten einer Selbstjustiz aus Ohnmacht am
russischen Unrechtsstaat zeigt Steckel vie-
le beklemmende Varianten von Verdrän-
gungsmethoden.
Die vom Militär in die Verrohung getrie-
benen Mittäter nehmen entweder aggres-
siv die Gewaltdoktrin der Machthaber als
ihre Rechtfertigung an (Bernd Grawert als
Andrei Schujew), verkriechen sich in Wei-
nerlichkeit (Merlin Sandmeyer als Zaika)
oder wechseln kaltblütig von militärischen
Raubzügen zu ökonomischen im neuen
Russland der Skrupellosen (Ole Lager-
pusch als Petruschow). Es sind Rollen-
modelle eines destruktiven Staatswesens,
das nach dem Recht des Stärkeren funktio-
niert, also eine von allen Beteiligten sehr
überzeugend gespielte Opfergemein-
schaft der Gewaltfolgen.
Und diese Welt skizziert Jette Steckel in
einem Bühnenbild von Florian Lösche, das
aus immer neuen Labyrinthen aus hohen
Mauern besteht, als eindrückliche Kritik
an der russischen Zwangspolitik Putins,
die dank des schnellen Vergessens auch
von manch deutscher Politprominenz ver-
harmlost werden kann, um eigene wirt-
schaftliche Interessen in Russland zu
sichern. Da hat dann die Wahrheit wieder
keine Chance mehr. till briegleb

DEFGH Nr. 202, Montag, 2. September 2019 HM0 9


Wenn es so weitergeht,
ruft Hollywood demnächst
zur großen Revolution auf

Der Gründungsmythos des
Silicon Valley nährte den Glauben,
auf der Seite des Guten zu stehen

Diese Inszenierung folgt dem Stil


einer streng sachlichen Reportage


von Anna Politkowskaja


Feuilleton
Endlich gibt es ein neues Stück
von Wolfram Lotz:
Ein Besuch im Elsass 11

Literatur
Witz,Tempo, gute Ideen:
Carmen Buttjers
Debütroman „Levi“ 11

Schule undHochschule
Waldorfschulen bilden im
strengen Schulsystem
Japans einen Gegenpol 12

Wissen
ImAlter können Menschen noch
Muskeln aufbauen – selbst wenn
sie nie sportlich waren 14

 http://www.sz.de/kultur

Das Ende


einer Illusion


Google-Angestellte rebellieren
gegen Projekte des Konzerns

Sturz in den Wahnsinn


ToddPhilips erzählt, warum der „Joker“ extrem böse wurde, Steven Soderbergh rekonstruiert die Affäre


um die Panama Papers. Beide Filme eint eine enorme Wut auf die Missstände der Gegenwart


Dunkel, einsam, schuldig: Der General
(Jirka Zett). FOTO: ARMIN SMAILOVIC

Mord und Morast


„Die Katze und der General“: Jette Steckel zeigt am Hamburger Thalia-Theater, wie man einen Roman durch eine Adaption verbessert


Der neue Joker wirkt wie die


meisterhafte Vorgeschichte zu


Christopher Nolans „Dark Knight“


FEUILLETON


HEUTE


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Für den Festivalchef von Venedig steht jetzt schon fest, wer den Oscar bekommen muss: Joaquin Phoenix für seine verstö-
rend intensiveJoker-Performance. FOTO: WARNER BROTHERS

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