Brexit
Johnsons harte
Tour gegen die
Abweichler
Carsten Volkery London
I
n der Woche vom 9. September
beginnt die fünfwöchige Zwangs-
pause, die Boris Johnson dem
britischen Parlament verordnet hat.
Der konservative Premierminister
will mit allen Mitteln verhindern,
dass die Abgeordneten noch vor die-
sem Termin ein Gesetz gegen den un-
geordneten Brexit am 31. Oktober
verabschieden. Bis zu 20 Tories
könnten sich diese Woche gegen
Johnson wenden, schätzen Beobach-
ter. Darunter sind viele ehemalige Mi-
nister und Staatssekretäre der Vor-
gängerregierung von Theresa May.
Sie wollen verhindern, dass Johnson
das Land ins Chaos stürzt.
Der Regierungschef geht mit har-
ten Bandagen gegen die Abweichler
vor. Laut britischen Medienberichten
droht er damit, sie bei der nächsten
Wahl nicht mehr aufzustellen. In ei-
nem Interview mit der „Sunday Ti-
mes“ sagte der Premier, jeder Abge-
ordnete müsse sich entscheiden, auf
welcher Seite er stehe – hinter La-
bour-Oppositionsführer Jeremy Cor-
byn oder hinter ihm. Am Montag
trifft er führende Rebellen, darunter
Ex-Finanzminister Philip Hammond
und Ex-Justizminister David Gauke.
Beide haben erklärt, zusammen mit
der Opposition einen weiteren Bre-
xit-Aufschub erzwingen zu wollen.
Hammond und Co. scheinen sich
nicht einschüchtern zu lassen. „Es
kommt der Punkt, an dem man das
persönliche Interesse gegen das na-
tionale Interesse abwägen muss, und
das nationale Interesse geht vor“,
sagte Gauke am Sonntag dem Sender
Sky News. Hammond erklärte auf
Twitter, er kämpfe für einen geregel-
ten Brexit, wie er im konservativen
Wahlprogramm versprochen wurde.
Es wäre „Heuchelei“, Abgeordnete
wie ihn aus der Partei auszuschlie-
ßen, nachdem die Brexit-Hardliner
ungestraft dreimal gegen Mays Brexit-
Deal stimmen durften.
Johnson glaubt, dass die No-Deal-
Drohung in den Brexit-Gesprächen
mit den Europäern wirkt. Es gebe
„interessante Zeichen des Fort-
schritts“, sagte er der „Sunday Ti-
mes“. Im Kabinett soll er vergangene
Woche erklärt haben, die Chancen
für einen Deal stünden 50:50.
Barnier auf alles gefasst
EU-Verhandlungsführer Michel Bar-
nier stellte jedoch am Sonntag klar,
dass der umstrittene Backstop im
Ausstiegsvertrag die „maximale Fle-
xibilität“ sei, die die EU einem Nicht-
mitglied anbieten könne. Man sei of-
fen für andere Vorschläge aus Lon-
don, die mit dem Ausstiegsvertrag
vereinbar seien, schrieb er in einem
Gastbeitrag im „Sunday Telegraph“.
Er sei aber nicht optimistisch, dass
man ein No-Deal-Szenario vermei-
den könne.
In der kommenden Woche wird
das Parlament vorläufig geschlossen.
Es tagt dann erst wieder am 14. Okto-
ber – zweieinhalb Wochen vor dem
Brexit-Datum. Die Opposition will da-
rum am Dienstag eine Notfalldebatte
beantragen und ihren Gesetzentwurf
auf den Weg bringen. Diese Woche
sei „die letzte Chance, einen unge-
ordneten Brexit zu verhindern“, sag-
te Labour-Chef Corbyn.
Dana Heide Hongkong
D
ie Nacht, in der die
Stadt in Flammen un-
terging“ – so lautet am
Sonntag nach den Pro-
testen in der chinesi-
schen Sonderverwaltungszone Hong-
kong die Schlagzeile der „South Chi-
na Morning Post“, darunter ein Foto
einer brennenden Barrikade. Sams-
tagnacht war es zu heftigen Ausei-
nandersetzungen zwischen Polizei
und Demonstranten gekommen. In
der ganzen Stadt waren auch am
Sonntag noch die Spuren davon zu
sehen: Getrocknete Blutflecken, ver-
brannter Asphalt und herausgelöste
Pflastersteine zeugten von den Zu-
sammenstößen, bei denen laut Me-
dienberichten mindestens 40 Men-
schen verletzt und mindestens 63
verhaftet wurden. Die Häuser, an de-
nen früher nie Graffitis waren, sind
seit der jüngsten Nacht der Gewalt
voll mit eilig hingekritzelten Bot-
schaften gegen China, gegen die
Hongkonger Regierung und gegen
die Polizei. Am Sonntag randalierten
einzelne Vermummte weiter, mehre-
re Hundert Protestierende versuch-
ten, den Flughafen lahmzulegen.
Schon knapp drei Monate dauern
die Proteste nun. Auslöser war ein
geplantes Gesetz, das es ermöglicht
hätte, Verdächtige an China auszulie-
fern. Regimekritiker fürchteten,
künftig der Willkür des Pekinger
Rechtssystems ausgesetzt zu sein. In-
zwischen hat die Hongkonger Regie-
rungschefin Carrie Lam das Gesetz
zwar informell zurückgezogen, aber
den Demonstranten ist das nicht ge-
nug. Sie fordern den Rücktritt Lams
sowie freie Wahlen.
In der vergangenen Woche wur-
den prominente Aktivisten, darun-
ter Joshua Wong und Agnes Chow
verhaftet. „Wir verlieren unsere
Freiheit“, fürchtet die Hongkonge-
rin Suyi, die aus Angst vor Repressa-
lien ihren vollen Namen nicht nen-
nen mag. Die Hongkonger haben
kein Vertrauen in ihre Regierung.
Hinzu kommt die Angst, dass Peking
die Rechte der Hongkonger, wie
Meinungs- und Pressefreiheit be-
schneidet.
Trotz Demonstrationsverbots gin-
gen am Samstag Zehntausende Men-
schen friedlich auf die Straße. „Wir
haben das Recht und die Freiheit zu
demonstrieren, aber die Polizei lässt
es nicht zu“, empört sich Suyi. Offi-
ziell war die 34-jährige Suyi mit ihrer
64-jährigen Mutter Yan am Samstag-
mittag ins Zentrum von Hongkong
gekommen, um gemeinsam mit Tau-
senden anderen für Carrie Lam zu
„beten“ – so steht es in der Einla-
dung, die über Messenger-Gruppen
verbreitet wurden. Beten ist schließ-
lich nicht verboten.
Die Versammlung mündete in ei-
nen Marsch. „Hongkong mach wei-
ter!“ und „Kämpft für die Freiheit!“,
riefen die Teilnehmer. Es war zu-
nächst eine entspannte Stimmung,
Helfer verteilten Wasserflaschen,
boten den Mitdemonstrierenden
Snacks an. Gegen Nachmittag er-
richteten vermummte Demonstran-
ten an einzelnen Stellen in der Stadt
Straßensperren. Die Polizei griff zu-
nächst nicht ein. Selbst als Protestie-
rende vor dem Haus von Regie-
rungschefin Carrie Lam eintrafen,
blieb die Lage entspannt.
Gewalt auf beiden Seiten
Je später der Abend wurde, desto
mehr stieg die Nervosität unter den
Demonstranten. Immer wieder lie-
fen Hunderte Menschen auf einmal
panisch los. Immer mehr Ver-
mummte mischten sich unter die
Demonstrierenden, lösten die Stahl-
zäune an den Straßen aus ihrer Be-
festigung und errichteten Barrika-
den. Am Polizeigebäude, wo Joshua
Wong festgehalten wurde, setzten
sie Straßensperren in Brand. Laut
Gerüchten mischten sich Maulwürfe
unter die Demonstranten, die die
Stimmung anheizen sollten.
Vor dem Sitz des Parlaments setzte
die Polizei Wasserwerfer und Tränen-
gas ein, die Vermummten warfen
Molotowcocktails. Im Viktoriapark
feuerte ein Polizist Medienberichten
zufolge Warnschüsse in die Luft. In
der Nacht stürmte eine Sonderein-
heit der Polizei eine U-Bahn-Station,
mehrere offenbar unbeteiligte Passa-
giere wurden von vermummten Poli-
zisten mit Pfefferspray besprüht.
„Die Polizei schlägt willkürlich auf
die Bevölkerung ein“, titelte eine gro-
ße Lokalzeitung am nächsten Tag.
Kampf um Deutung
China nützen vor allem die Bilder
der Gewalt, die von den Demons-
tranten ausgeht. In chinesischen
Staatsmedien werden die Protestie-
renden bereits seit Wochen pauschal
als chaotische Gewalttäter diskredi-
tiert, die von ausländischen Mächten
gesteuert werden. In einer E-Mail an
mehrere Korrespondenten westli-
cher Medien, darunter das Handels-
blatt, rief das chinesische Außenmi-
nisterium am Samstag dazu auf, „die
Wahrheit zu enthüllen“. Angehängt
waren Fotos von gewalttätigen Pro-
testierenden.
Dass die Proteste sich auf abseh-
bare Zeit beruhigen werden, davon
geht momentan niemand aus. Für
diesen Montag ist schon die nächste
Aktion geplant. Studierende, Schü-
ler und Angestellte sind zum Streik
aufgerufen.
Hongkong
Proteste eskalieren weiter
Nach zunächst friedlichen Demonstrationen ist es am Wochenende
in Hongkong zu heftigen Ausschreitungen gekommen.
Demonstranten in
Hongkong: Nicht
immer friedlich.
The New York Times/R/Redux/laif
Wir haben
das Recht
und die
Freiheit zu
demonstrie -
ren, aber die
Polizei lässt es
nicht zu.
Suyi
Demonstrantin
Wirtschaft & Politik
MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019, NR. 168
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