Handelsblatt - 02.09.2019

(lu) #1

Norbert Häring Frankfurt


B


evor in Deutschland im
Januar 2015 erstmals ei-
ne allgemeine Lohn -
untergrenze von 8,
Euro eingeführt wurde,
hatten deutsche Ökonomen entspre-
chende Pläne scharf kritisiert und
hohe Beschäftigungsverluste voraus-
gesagt. Die simple Logik dahinter:
Wenn Arbeitskräfte teurer werden,
werden weniger Arbeitskräfte nach-
gefragt. Wer weniger bringt, als er
nach der neuen Regelung kostet,
wird arbeitslos. Die Kritiker sagten
den Verlust von 500 000 bis zu mehr
als einer Million Arbeitsplätzen durch
die Mindestlohneinführung voraus.
Andreas Knabe, Ronnie Schöb und
Marcel Thun etwa prognostizierten
2014 in ihrem Standardmodell den
Verlust von einer halben Million Mi-
nijobs, 250 000 sozialversicherungs-
pflichtigen Stellen sowie 90 000
Rentner- und Studentenjobs. Der
Sachverständigenrat zur Begutach-
tung der wirtschaftlichen Entwick-
lung schrieb in seinen Jahresgutach-
ten seit 2004 gegen den Mindestlohn
an, mit dem Argument, er werde
sehr viele Stellen kosten.
Der Verein für Socialpolitik, die
führende deutschsprachige Ökono-
menvereinigung, hat sich nun mit ei-
nem Themenheft seiner Zeitschrift
„German Economic Review“ der Fra-
ge gewidmet, ob und wie viele Ar-
beitsplätze die Lohnuntergrenze nun
tatsächlich gekostet hat. Den ersten
Anschein haben die Kritiker gegen
sich. Die Beschäftigung stieg im Jahr
der Einführung des Mindestlohns
und in den Folgejahren kräftig an.
Das kann aber natürlich nicht direkt
auf die Mindestlohneinführung zu-
rückgeführt werden. Es ist ja mög-
lich, dass bei der guten Konjunktur -
lage noch mehr Stellen geschaffen
worden wären, wenn der Mindest-
lohn nicht eingeführt worden wäre.
Um den Einfluss der Lohnunter-
grenze zu isolieren, vergleichen em-
pirische Studien, wie die Beschäfti-
gungsentwicklung dort war, wo der
Mindestlohn eine große Rolle spielt
und wie sie dort war, wo er eine ge-
ringe oder keine Rolle spielt, weil das
allgemeine Lohnniveau zu hoch ist.
Die Gruppenbildung kann sich dabei
nach Regionen richten, also Niedrig-
lohnregionen versus Hochlohnregio-
nen, oder nach Wirtschaftszweigen,
oder nach persönlichen Merkmalen
der Arbeitnehmer.
Theoretisch lassen sich sowohl po-
sitive als auch negative Wirkungen
des Mindestlohns auf die Beschäfti-
gung begründen. Das von Kritikern
favorisierte theoretische Modell geht
davon aus, dass auf Güter- und Ar-
beitsmärkten annähernd vollkom-
mene Konkurrenz herrscht. Es gäbe
dann keine Gewinne zu verteilen
und die Beschäftigten würden annä-
hernd mit dem Ertrag vergütet, den
ihre Arbeit hervorbringt. Zwingt
man unter solchen Bedingungen die
Arbeitgeber, Niedriglöhnern mehr zu
bezahlen, werden deren Arbeitsplät-
ze wegrationalisiert, weil sie sich
nicht mehr lohnen.
Das wichtigste Konkurrenzmodell
geht davon aus, dass die Arbeitgeber
in unterschiedlich großem Umfang
Marktmacht als Arbeitsnachfrager ha-
ben. Das beruht vor allem darauf,

dass die Arbeitnehmer in Pendel-
reichweite nur eine sehr begrenzte
Auswahl an möglichen Arbeitgebern
und freien Stellen vorfinden. Einge-
schränkte Konkurrenz erlaubt den Ar-
beitgebern, die Löhne niedrig zu hal-
ten und dadurch ihren Gewinn zu
steigern. Eine Vorschrift zur Erhö-
hung der niedrigsten Löhne muss da-
her nicht dazu führen, dass sich die
entsprechenden Arbeitsplätze für die
Arbeitgeber nicht mehr lohnen. Sie
kann sogar theoretisch dazu führen,
dass sie mehr Leute einstellen. Denn
der sonst übliche Effekt, dass man hö-
here Löhne bieten muss, um mehr Ar-
beitsplätze zu füllen, fällt weg, wenn
die Löhne ohnehin erhöht sind.
Zwei Beiträge mit sehr ähnlicher
Methodik von Alfred Garloff vom In-
stitut für Arbeitsmarkt- und Berufs-

forschung und Sebastian Schmitz
vom Arbeitsministerium sind symp-
tomatisch für das Spektrum der Er-
gebnisse. Beide nutzen den Anteil
Niedriglohnbeschäftigter verschie-
dener Regionen, um die Effekte des
Mindestlohns zu isolieren. Sie ver-
glichen die Beschäftigungsentwick-
lung in Regionen mit einem hohen
Anteil von Löhnen unterhalb des
künftigen Mindestlohns mit der in
Regionen mit einem höheren Lohn-
niveau, wo der Mindestlohn weni-
ger stark greift. Garloff verfeinerte
die Vergleichsgruppen noch, indem
er auch noch Altersgruppe und Ge-
schlecht berücksichtigte, die in un-
terschiedlichem Maß vom Mindest-
lohn betroffen sind. Er ermittelt ei-
ne leicht positive Wirkung der
Mindestlohneinführung auf die Be-

schäftigung. Bei Schmitz ist der Ef-
fekt dagegen leicht negativ.
Schmitz, der die Studie vor Auf-
nahme seiner Tätigkeit im Ministeri-
um erstellte, ist sich mit Garloff einig,
dass die ermittelten Effekte in beiden
Fällen so gering sind, dass man sich
darauf einigen könne, keinen ökono-
misch bedeutsamen Effekt ermittelt
zu haben.
In einem Überblicksartikel fassen
Marco Caliendo, Carsten Schröder
und Linda Wittbrodt die Ergebnisse
dieser beiden und einer Reihe weite-
rer Studien so zusammen, dass empi-
rische Studien entweder einen
schwach-negativen oder einen nicht
vorhandenen Einfluss des Mindest-
lohns auf die Beschäftigung ermit-
teln. Eindeutig negativ ist nur der
Einfluss auf die Zahl der Minijobs, die
aber ohnehin als Arbeitsmarktseg-
ment nicht den besten Ruf genießen.
Bei den regulären Beschäftigungsver-
hältnissen reichte die Bandbreite der
ermittelten Wirkungen von schwach
negativ bis schwach positiv.
In Großbritannien, wo es schon
seit 20 Jahren einen Mindestlohn
gibt, hat eine sogenannte Niedrig-
lohnkommission den Auftrag, die
wissenschaftlichen Studien zu den
Wirkungen auszuwerten. Auf Basis
ihrer Empfehlung soll der Mindest-
lohn so weit erhöht werden wie mög-
lich, ohne die Beschäftigungsaussich-
ten zu beschädigen.

Keine negative Wirkung
In einem jüngst veröffentlichten Be-
richt zu 20 Jahren Mindestlohn
schreibt die Kommission, die Lohn-
untergrenze habe den bis 1999 vor-
herrschenden Trend umgekehrt,
dass die niedrigen Lohngruppen im-
mer weiter zurückfallen. Immerhin
30 Prozent der Arbeitnehmer hätten
durch den Mindestlohn profitiert,
entweder direkt oder indirekt, weil
die nach oben angrenzenden Lohn-
gruppen besser bezahlt wurden, um
den Abstand zum Mindestlohn zu
wahren. Die Niedriglohnkommission
hat keine signifikanten negativen Wir-
kungen der Mindestlohnerhöhungen
auf die Beschäftigung gefunden“,
stellt diese resümierend fest. Dabei
wurde das gesetzliche Minimum al-
lein zwischen 2010 und 2017 von 46
Prozent des mittleren Lohns auf 54
Prozent angehoben. Mit dieser Relati-
on liegt Großbritannien nach einem
Vergleich der Industrieländerorgani-
sation OECD eher im oberen Bereich
der Länder mit einem Mindestlohn.
In Deutschland war er mit 48 Prozent
im Vergleich zum mittleren Lohn
deutlich niedriger.
Hätte die deutsche Mindestlohn-
kommission den gleichen Auftrag wie
die britische Low Pay Commission,
so würde die Datenlage wohl für eine
überproportionale Erhöhung des
Mindestlohns relativ zur allgemeinen
Lohnentwicklung sprechen.
Aber die deutsche Kommission hat
diesen Auftrag nicht, sodass den Wir-
kungsstudien hier eine viel geringere
wirtschaftspolitische Bedeutung zu-
kommt. Die deutsche Kommission,
die mit Arbeitgeber- und Gewerk-
schaftsvertretern sowie Wissenschaft-
lern besetzt ist, soll im Kern nur
nachlaufend den Mindestlohn der all-
gemeinen Lohnentwicklung anpas-
sen. Im Januar 2020 steigt er von der-
zeit 9,19 Euro auf 9,35 Euro.

Mindestlohn


Mehr Geld, weniger Jobs?


Bei der Beurteilung der Wirkung des


Mindestlohns sind sich Ökonomen inzwischen


weitgehend einig. Nur die Zahl der Minijobs


nahm nennenswert ab.


Fensterputzer: Keine
großen Effekte im
Niedriglohnbereich.

dpa

9, 35


EURO


wird der Mindestlohn
in Deutschland ab
Januar 2020 betragen.

Quelle:
Bundesregierung

Wirtschaftswissenschaften
MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019, NR. 168

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