Handelsblatt - 02.09.2019

(lu) #1
Bert Fröndhoff, Kevin
Knitterscheidt, Ulf Sommer
Düsseldorf

I


n der Essener Villa Hügel zeu-
gen die Ausstellungsstücke
vom Glanz vergangener Tage.
Fotos von Staatsbesuchen
säumen die hohen, zum Teil
holzvertäfelten Wände des früheren
Stammsitzes der Familie Krupp. Ge-
rahmte Titelseiten alter Zeitungen
und vergilbte Dokumente künden
von den wichtigsten Stationen des
einstigen Familienunternehmens: der
Gründung im Jahr 1811, der drohen-
den Zerschlagung durch die Alliierten
nach dem Zweiten Weltkrieg und
zum Schluss von der Fusion mit Thys-
sen, durch die 1999 der heutige Welt-
konzern Thyssen-Krupp entstand.
Wenn am Mittwoch die Deutsche
Börse die neue Zusammensetzung ih-
res wichtigsten Aktienindex bekannt
gibt, wird die bewegte Geschichte
des Ruhrkonzerns um ein Kapitel rei-
cher. Dann endet nach gut 30 Jahren
die Mitgliedschaft von Thyssen-
Krupp im Dax, der Gruppe der 30
wichtigsten deutschen Börsenunter-
nehmen. Der Kursverlauf der vergan-
genen Monate beschreibt das Kapitel
des Niedergangs. Um rund 50 Pro-
zent brach die Marktkapitalisierung
ein, seit Chefkontrolleur Ulrich Leh-
ner und Vorstandschef Heinrich Hie-
singer das Unternehmen im Sommer
2018 verlassen haben.
Maßgeblich für einen Dax-Abstieg
ist einerseits die Börsenkapitalisie-
rung des Unternehmens, anderer-
seits das Volumen der gehandelten
Aktien. Liegt ein Dax-Unternehmen
in einem der beiden Kriterien im Ver-
gleich mit anderen deutschen Bör-
senkonzernen hinter Platz 40 und er-
füllt ein MDax-Konzern gleichzeitig
die Aufstiegskriterien, steigt das Un-
ternehmen ab. Schon vor zwei Wo-
chen lag Thyssen-Krupp bei der Bör-
senkapitalisierung auf Platz 45 – und
hat sich seither nicht erholt.

Prestige geht verloren


Vorstandschef Guido Kerkhoff berei-
tet sich gedanklich schon länger da-
rauf vor, die erste Börsenliga zu ver-
lassen. Bereits bei der Vorlage der
Quartalszahlen vor wenigen Wochen
sagte der Vorstandschef, die Zugehö-
rigkeit zu einem Index gehöre ange-
sichts der vielfältigen sonstigen Pro-
bleme des Konzerns derzeit nicht zu
den Prioritäten des Managements.
„Es geht nicht um Eitelkeiten“, hatte
er zuvor mehrfach betont. Es gehe
vielmehr darum, den Ruhrkonzern
endlich wieder zukunftsfähig aufzu-
stellen.
Dennoch geht mit der Dax-Mit-
gliedschaft auch ein Stück Prestige
verloren – nicht nur für Thyssen-
Krupp, sondern auch für die Region.
„Das ist Ausdruck des Wandels in der
Wirtschaft“, sagte etwa NRW-Wirt-
schaftsminister Andreas Pinkwart
(FDP) dem Handelsblatt. „Digitale
Unternehmen erreichen höhere
Marktbewertungen als die traditio-
nelle Industrie.“ Auch wenn dieser
allgemeine Trend an den Finanz-
märkten nicht die Tatsache schmäle-
re, „dass Thyssen-Krupp eine starke
Marke ist und die Chance hat, sich
trotz mancher Herausforderung neu
auszurichten und weiterzuentwi-
ckeln“, so der Politiker.
In der Villa Hügel sieht man dem
bevorstehenden Abstieg gelassen ent-
gegen. Dort, wo früher die Krupp-Dy-
nastie ihr Zuhause hatte, wacht heute
die gemeinnützige Krupp-Stiftung
über das Vermächtnis der Industriel-
lenfamilie. Mit einem Anteil von 21
Prozent am Börsenkapital von nun-

mehr knapp sieben Milliarden Euro
ist sie der wichtigste Aktionär. Auf
Anfrage heißt es: „Für die Stiftung
steht das Wohl des Unternehmens im
Vordergrund – nicht, in welchem In-
dex es gelistet ist.“
Und weiter: „Eine Leistungssteige-
rung ist dringend erforderlich.“ Es sei
der Wille der Stiftung, dass das Un-
ternehmen wettbewerbsfähig aufge-
stellt sei, „mit zukunftssicheren Ar-
beitsplätzen und einer nachhaltigen
Dividendenfähigkeit“.
Dass ein Abstieg aus dem Dax da-
bei sogar helfen kann, zeigt ein Blick
in die Historie des Index. Denn nicht
immer geht damit auch ein wirt-
schaftlicher Absturz des Unterneh-
mens einher.
Von den 30 Gründungsmitglie-
dern, die bei der ersten Berechnung
des Dax am 1. Juli 1988 vertreten wa-
ren, sind nach dem Ausscheiden von
Thyssen-Krupp nur noch zwölf Mit-
glieder übrig – darunter die Allianz,
BMW, Siemens und Volkswagen. An-
dere wie der frühere Papierhersteller
Feldmühle Nobel oder der Industrie-
konzern Deutsche Babcock sind voll-
ständig aus dem öffentlichen Be-
wusstsein verschwunden.
Dabei war der Dax in seinen ersten
Jahren, bezogen auf seine Zusam-
mensetzung, ein besonders stabiler
Index. So gab es in den ersten sieben
Jahren nur zwei Wechsel: Die Metall-
gesellschaft ersetzte Feldmühle No-

bel, und Preussag kam für Nixdorf.
Anschließend kamen und gingen die
Unternehmen immer schneller. Zu-
letzt hatte mit der Commerzbank vor
einem Jahr ebenfalls ein Dax-Konzern
der ersten Stunde die Top-Börsenliga
verlassen, der Zahlungsdienstleister
Wirecard stieg dafür auf.
Es sind Wechsel mit Folgen. Die
Dax-Mitgliedschaft bedeutet nicht
nur Prestige samt höherer Aufmerk-
samkeit in der Öffentlichkeit und vor
allem bei Anlegern. Die immer grö-
ßer werdende ETF-Branche mit ihren
passiv gemanagten Fonds ist gemäß
ihrem Selbstverständnis gezwungen,
in den Dax-Indexfonds die Aktien
entsprechend ihrem Börsengewicht
zu kaufen. Folglich müssen sie bei ei-
nem Abstieg verkaufen. ETF-Markt-
führer Blackrock ist mittlerweile
größter Aktionär bei vielen Dax-Kon-
zernen und hält rund fünf Prozent an
allen 30 Dax-Konzernen.
Doch eine Auswertung der jüngs-
ten zehn Absteiger – neben der Com-
merzbank traf es etwa Lanxess, Salz-
gitter, den Lkw-Hersteller MAN und
Pro Sieben Sat 1 – zeigt: Kurzfristig, al-
so in den drei Monaten nach Aufnah-
me im MDax, entwickelten sich die
betroffenen Aktien im Schnitt ganz
ähnlich wie der Gesamtmarkt. Lang-
fristig dagegen reagieren die Notie-
rungen, die dahinterstehenden Un-
ternehmen und ihre Führungsspitze
sehr unterschiedlich auf den Abstieg.

Bei der Commerzbank, die schon
im Dax mehr als 90 Prozent an Wert
verloren hatte, setzt sich der Nieder-
gang fast ungebremst fort. Auch Pro
Sieben Sat 1 verlor im MDax weiter an
Wert. Anleger erkennen bei diesen
Unternehmen offenbar weder im
Dax noch im MDax ein zukunftsver-
sprechendes Geschäftsmodell.

Abstieg hat auch Chancen


Dagegen hat Hannover Rück 370 Pro-
zent an Wert gewonnen, seitdem das
Finanzinstitut vor zehn Jahren durch
Infineon im Dax ersetzt wurde. Der
Rückversicherer fokussiert sich seit
Jahren, so wie viele MDax-Unterneh-
men, auf wenige, dafür hochprofita-
ble Geschäftssegmente. Mit dieser
Strategie zählt die Firma zu den er-
folgreichsten Titeln im MDax. Auch
der abgestiegenen Eon-Abspaltung
Uniper und der Bayer-Ausgliederung
Lanxess bekommt die Neumitglied-
schaft in der zweiten Börsenliga bes-
ser als die Notierung im großen Dax.
Bei Thyssen-Krupp ist indes noch
offen, ob es gelingt, den Konzern
langfristig profitabler zu machen. „In
den letzten Jahren wurde das Ge-
schäftsmodell nicht gegen konjunktu-
relle Schwächephasen wetterfest ge-
macht“, sagte etwa Ingo Speich, Lei-
ter Corporate Governance bei der
Fondsgesellschaft Deka, dem Han-
delsblatt. „Der Abstieg zeigt den Ver-
trauensverlust der Investoren und

Thyssen-Krupp verlässt Dax


Abschied einer


Industrie-Ikone


Nachdem sich der Aktienkurs innerhalb eines Jahres halbiert


hat, verlässt der Ruhrkonzern die oberste Börsenliga. Doch ein


Abstieg in den MDax kann heilsam sein, zeigen frühere Beispiele.


dpa

Thyssen-


Krupps Abstieg


aus dem Dax


ist Ausdruck


des Wandels


in der


Wirtschaft.


Andreas Pinkwart
NRW-Wirtschafts -
minister

Krupp-Ofen:
Der Konzern
prägte die
Industrie -
geschichte
in NRW.

The New York Times/Redux/laif

Unternehmen & Märkte
MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019, NR. 168

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