Handelsblatt - 02.09.2019

(lu) #1

Geld genug


Die zunehmende Zahl von Menschen, die gut von


ihrem Vermögen leben können, liefert der SPD


Munition für ihre Gerechtigkeitsdebatte.


Martin Greive, Frank Specht Berlin


M


it gerade mal 24 Jahren traf Jan
Henning eine Entscheidung fürs
Leben. Er war damals Filialleiter
in einem Sportgeschäft, arbeitete
60 bis 70 Stunden die Woche. Der
Verdienst war gut, aber für Freunde und Freizeit
blieb kaum Zeit. So sollte sein Leben nicht ewig
weitergehen. Henning fasste deshalb einen Ent-
schluss: „Ich gehe in Rente. Nicht sofort, aber spä-
testens mit 40.“ Henning ging zur Bank, nahm ei-
nen Kredit auf und kaufte für 115 000 Euro eine
115-Quadratmeter-Wohnung in Kassel, mit der er
seine Laufbahn als Vermieter startete. Heute be-
sitzt der 43-Jährige mehrere Immobilien, lebt von
den Mieteinkünften und verbringt den Winter in
Südafrika. Sich selbst bezeichnet er als nicht mehr
„aktiv berufstätig“.
Henning gehört zur Gruppe der „Privatiers“ in
Deutschland, die ihren Lebensunterhalt nicht mit
Arbeit bestreiten, sondern von ihrem Vermögen
leben, von Ersparnissen, Zinsen, Mieteinkünften
oder Verpachtung. Schien die Existenz einer sol-
chen Gesellschaftsgruppe lange ein Phänomen
vergangener Jahrhunderte zu sein, erleben Priva-
tiers hierzulande gerade ein überraschendes
Comeback.
So finanzierten im vergangenen Jahr 627 000
Bürger ihren Lebensunterhalt „überwiegend“ aus
eigenem Vermögen. Ein deutlicher Anstieg gegen-
über der Jahrtausendwende, als es noch 372 000
waren. Dies ergab eine Sonderauswertung, die das
Statistische Bundesamt auf Anfrage des Handels-
blatts vorgenommen hat. Auch gegenüber 2010, als
es noch 415 000 Privatiers gegeben hatte, fiel der
Anstieg kräftig aus. 6 000 der aktuellen Privatiers
sind sogar unter 18 Jahren, hängen also trotz ihrer
Minderjährigkeit finanziell nicht von ihren Eltern
ab; so groß ist bereits ihr Vermögen.
Vermögen hat somit zur Finanzierung des Le-
bensunterhalts seit der Jahrtausendwende deutlich
an Bedeutung gewonnen – und das trotz Dauer-
niedrigzinsen und Jobbooms. So stieg die Zahl de-
rer, die ihr Leben hauptsächlich durch Arbeit fi-
nanzieren, seit dem Jahr 2000 lediglich um 13 Pro-
zent, während die Zahl derjenigen, die von ihrem
Vermögen leben, um 68,5 Prozent zunahm.

Munition für Gerechtigkeitsdebatte


Die Zahlen dürften für Aufsehen sorgen. Denn sie
platzen mitten in die laufende Gerechtigkeitsdebat-
te über die angeblich immer weiter auseinanderge-
hende Schere zwischen Arm und Reich und die ho-
he Vermögensungleichheit. Besonders die SPD hat
ihr Klassenkämpferherz wiederentdeckt. Vergange-
ne Woche stellte sie Pläne für eine Wiederbelebung
der Vermögensteuer vor. „Multimillionäre“ sollen
künftig ein Prozent ihres Vermögens an den Staat
abgeben. Dies sei „nicht nur eine Frage der Gerech-
tigkeit“, sondern „auch eine Frage des gesellschaft-
lichen Erfolgs“, sagte SPD-Interimschef Thorsten
Schäfer-Gümbel. Auch karikiert die SPD-Bundes-
tagsfraktion in den sozialen Medien gerade Wohl-
habende als Anzugträger, die es sich im Liegestuhl
mit Cocktail in der Hand gemütlich machen, wäh-
rend neben ihnen ein Fließband Geldbündel ab-
wirft. Der Anstieg der Zahl der Privatiers scheint
das klischeehafte Bild nun zu bestätigen. Allerdings
nur auf den ersten Blick.
Die Verwendung des Wortes „Privatier“ kam
während des 19. Jahrhunderts im Zuge des Auf-
stiegs des Bürgertums auf. Mehrere Schriftsteller
setzten dem Privatier in dieser Zeit kleine Denkmä-
ler, etwa Gerhart Hauptmann, Johann Strauss oder
Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ mit Alois
Permaneder, der sich dank einer Mitgift früh zur
Ruhe setzen kann. In dieser Zeit war der Privatier
als Mäzen und Gönner durchaus anerkannt. So fin-
det sich beispielsweise auf der Gründungsurkunde
der Bibliothek der Universität Tübingen der Satz:
„Stipendienstiftung, errichtet 1881 von Friedrich
Wilhelm Breitling, Privatier in Oberesslingen“.
In der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der
Bundesrepublik war dagegen kein Platz für den Pri-
vatier vorgesehen. Dass er nun ein Comeback er-
lebt, sei aber nicht wirklich überraschend, findet

Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs Prog-
nosen und gesamtwirtschaftliche Analysen beim
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
(IAB). „Bekanntlich hat die Lohn- und Einkom-
mensungleichheit seit den 1990er-Jahren zumin-
dest bis Ende des vergangenen Jahrzehnts zuge-
nommen.“ In dieser Zeit sei eine größere Gruppe
auf dem Arbeitsmarkt bei den Einkommen zurück-
gefallen. Im Umkehrschluss gebe es auch eine
Gruppe mit sehr guter Einkommensentwicklung.
Fragt sich nur, wie problematisch diese Ent-
wicklung ist. Ob Privatiers etwa als wichtige Ar-
beitskräfte auf dem Arbeitsmarkt fehlen und das
Land deshalb unproduktiver ist. Und ob ihre Zu-
nahme Ausdruck eines immer größeren Vermö-
gensgefälles ist – und damit ein Argument für die
Wiedereinführung einer Vermögensteuer wäre.
„Bei jeder Statistik sollte man sich die Sachverhal-
te dahinter anschauen“, sagt dazu der CDU-Bun-
destagsabgeordnete Thomas Heilmann, der vor
seiner Wahl erfolgreicher Unternehmer, Start-up-

Finanzier und Justizsenator in Berlin war. So sei-
en 40 Prozent der Privatiers schon im Rentenal-
ter. Und viele jüngere engagierten sich gemein-
nützig, etwa in Stiftungen, investierten in
Start-ups oder seien in einer Übergangsphase:
„Als ich für den Bundestag kandidiert habe, habe
ich auch ein knappes Jahr vom Ersparten gelebt“,
sagt Heilmann.
Holger Bonin, Forschungsdirektor beim Institut
zur Zukunft der Arbeit (IZA), erklärt mit der demo-
grafischen Entwicklung die Zunahme der Zahl der
Privatiers: „Es gibt mehr Ältere, die sich auf dem
ausruhen können, was sie sich in jungen Jahren er-
arbeitet haben.“ Tatsächlich ist der Anteil der über
65-Jährigen an den Privatiers seit der Jahrtausend-
wende von 30 auf 40 Prozent gestiegen. Und selbst
wenn man alle jüngeren Privatiers wieder zum Ar-
beiten bringen könnte, wäre das für die Beschäfti-
gung ein Tropfen auf den heißen Stein. „Bezogen
auf den Gesamtarbeitsmarkt sind Rentiers ein
Randphänomen“, sagt IAB-Mann Weber.

Niels Thies/Bundesbank [M]

68,


PROZENT


Um diesen Wert ist
die Zahl der Privatiers
seit der Jahrtausend-
wende gewachsen.

Quelle: Destatis


Titelthema


Privatiers in Deutschland


MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019, NR. 168


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