Die Welt - 27.08.2019

(Michael S) #1

W


as er am ersten Tag
im Weißen Haus tun
würde, als neuer
amerikanischer Prä-
sident im Januar
2021, davon hat Max Abramson schon
eine recht konkrete Vorstellung. „Als
Präsident werde ich unsere Soldaten
aus dem Nahen Osten zurückholen.
Dieser Befehl wäre meine erste politi-
sche Entscheidung“, sagt Abramson.
Bereits nach ein paar Monaten wäre der
Abzug abgeschlossen, ist er überzeugt.

VON DANIEL FRIEDRICH STURM
AUS SEABROOK/NEW HAMPSHIRE

Albert „Max“ Abramson, 43, allein-
stehend, Softwareentwickler aus der
Kleinstadt Seabrook in New Hamp-
shire, möchte John F. Kennedy und Ro-
nald Reagan, Barack Obama und Do-
nald Trump beerben: Das Mitglied der
Libertären Partei will nächster ameri-
kanischer Präsident werden. Als wir
Abramson treffen, überreicht er uns so-
gleich seine Visitenkarte. Sie führt all
seine Software-Skills auf samt diverser
Zertifikate.
Abramsom trägt Anzug. An seinem
Revers prangt ein Button, der zu seinem
Programm passt. „Besteuerung ist
Diebstahl“ ist darauf zu lesen. Außer-
dem ein Namensschild und das alte Sie-
gel von New Hampshire. Seit 2014 sitzt
Abramson im Repräsentantenhaus die-
ses 1,3 Million-Einwohner-Bundesstaa-
tes, zeitweise auf dem Ticket der Repu-
blikaner, nun als Libertärer. Libertär
nenne man sich, sagt Abramson, weil in
die USA die Demokraten das liberale
Label tragen.
Ziemlich genau kennt er die Lage der
FDP, der AfD, er erwähnt die Namen
Christian Lindner und Philipp Rösler.
Jahrelang fuhr Abramson auf Handels-
schiffen durch die Welt, hörte jeweils
dort die Nachrichten, lernte dabei aller-
hand über die Mehr-Parteien-Systeme,
etwa in Asien und Europa, auch in
Deutschland. Parlamente mit sechs,
acht, zehn Parteien sind ganz nach sei-
nem Geschmack, Koalitionen sowieso.
Bei einem Treffen des Steuerzahler-
bundes von New Hampshire Anfang Juli
verkündete Abramson seine Bewerbung
für die Präsidentschaftskandidatur der
Libertären. In der anschließenden Rede
listete er sein politisches Programm
auf: Steuersenkungen, Truppenabzüge,
freie Schulwahl. Der Tenor stets: weni-
ger Staat. „Wir müssen unsere Verfas-
sung wieder ernst nehmen und zu der
begrenzten Regierung zurückkehren,
die wir 200 Jahre lang hatten“, sagt Ab-

ramson bei einem geeisten Caffè Latte
im „Starbucks“ seiner Heimatstadt. Seit
den 1960er-Jahren baue die Regierung
den Staatsapparat stetig aus, kritisiert
Abramson. Er sieht im amerikanischen
Staat eine Krake, die die Bürger um ih-
ren Wohlstand bringt. Immer stärker
werde die Mittelschicht geschröpft.
Sein Rezept dagegen? „Der Staat
muss deutlich weniger Geld ausgeben.
Die Mittelschicht soll gar keine Steuern
zahlen müssen.“ Als Präsident würde er
Einkommen bis 100.000 Dollar (etwa
90.000 Euro) komplett steuerfrei stel-
len: „Niemand bis zu dieser Einkom-
mensklasse müsste eine Steuererklä-
rung ausfüllen.“ Wer mehr verdient, soll
zehn Prozent Steuern zahlen, anstei-
gend bis zu 25 Prozent.
Abramson liefert einen klassisch li-
bertären Politikansatz. Anstelle des
Staates, so sagt er, sollen sich Gemein-
den, Kirchen, Schulen, Wohltätigkeits-
organisationen um Arme, sozial Schwa-
che, Süchtige, Obdachlose kümmern.
Eltern sollen das Recht erhalten, ihre
Kinder auf die Schule ihrer Wahl zu
schicken, und zwar ohne, dass sie dafür
eine Genehmigung der Schulaufsichts-
behörde benötigen. Trumps „Krieg ge-
gen Drogen“ will er beenden, Drogen-
süchtige therapieren statt inhaftieren,
und „weniger Gefängnisse“. Generell
fordert Abramson mehr Subsidiarität,
sprich: mehr Seabrook, weniger Wa-
shington.
In der Außenpolitik verlangt Abram-
son praktisch den Rückzug von der in-
ternationalen Bühne. „Die anderen Län-
der sollten ihre Politik so betreiben, wie
sie es für richtig halten“, sagt er. „Wir
Libertäre sind dagegen, weltweit militä-
risch präsent zu sein.“ Aus Syrien, Af-
ghanistan und dem Irak will er binnen
weniger Monate alle Truppen zurück-
holen. Wollen Sie sogar alle amerikani-
schen Soldaten aus Südkorea abziehen?
Abramson denkt kurz nach, antwortet
dann, wegen der Bedrohung Südkoreas
durch Nordkorea sollten die USA dort
schon noch präsent bleiben. Dass Präsi-
dent Trump die jüngsten Raketentests
Nordkoreas ignoriere, passt Abramson
gar nicht, erst recht nicht die liebesdie-
nerischen Worte Trumps gegenüber
Diktator Kim Jong-un. „Trust, but veri-
fy“, also etwa „Vertrauen ist gut, Kon-
trolle ist besser“, zitiert er Ronald Rea-
gan, das hält er für ein kluges außenpo-
litisches Motto.
Wie aber will dieser Regionalpolitiker
mächtigster Mann der Welt werden?
Abramson ist auf diese Frage vorberei-
tet. Der erste Schritt ist für ihn die No-
minierung durch die Libertäre Partei,

gegründet 1971 und nach eigenen Anga-
ben rund eine halbe Million Mitglieder
stark (zum Vergleich: die Republikani-
sche Partei hat knapp 33 Millionen, die
Demokratische mehr als 44 Millionen
Mitglieder). Im Mai 2020 werden rund
1000 Delegierte aus den ganzen USA für
einen Parteitag ins texanische Austin
reisen. Dort will sich Abramson gegen
seine konkurrierenden Parteifreunde –
bisher etwa ein Dutzend – durchsetzen.
Als härtester Mitbewerber könnte sich
Justin Amash erweisen, Abgeordneter
im US-Repräsentantenhaus in Washing-
ton, seit Juli als Unabhängiger, zuvor als
Republikaner. Abramson kontert, er
kenne etliche Delegierte, seit 20 Jahren
besuche er Parteitage auf nationaler
und bundesstaatlicher Ebene. Stolz prä-
sentiert er seinen Mitgliedsausweis der
Libertären Partei, der er seit 2000 ange-
hört. Seine Botschaft: Ich bin verankert
und vernetzt.
Die Libertären haben bei den vergan-
genen Präsidentschaftswahlen stets ei-
nen Kandidaten nominiert. Im Novem-
ber 2016 holte der Libertäre Gary John-
son gut drei Prozent der Stimmen, rund
4,5 Millionen Amerikaner votierten für
ihn. Im Electoral College aber, dem
Wahlmännergremium, das letztlich den
Präsidenten wählt, stellten die Libertä-
ren keinen einzigen Sitz. Alle Erfahrung
spricht dafür, dass das auch im nächsten
Jahr so sein wird. Abramson aber lässt
sich nicht entmutigen. Er will kämpfen
und die Außenseiter-Chance nutzen,
damit es 2020 ganz anders laufen wird
als bisher in der Geschichte Amerikas.
Er will seinen Wahlkampf auf bevöl-
kerungsschwache Bundesstaaten kon-
zentrieren, auf Menschen ausrichten,
die Republikaner wie Demokraten leid
sind. „New Hamsphire, Maine, Ver-
mont, Rhode Island, Wyoming“, be-
ginnt Abramson aufzulisten und singt
das hohe Lied auf taktische Wähler.

VVVon der Provinz ins Weiße Haus on der Provinz ins Weiße Haus


Der Libertäre Max Abramson ist Abgeordneter in New Hampshire. Sein Ziel: US-Präsident werden


mit einem Programm radikaler Staatsferne. Der amerikanische Traum eines Außenseiters


KKKraft der Provinz: Die Kleinstadt Seabrook in New Hampshire, die Heimat von Albert „Max“ Abramson, ist sehr grün – und sehr ruhigraft der Provinz: Die Kleinstadt Seabrook in New Hampshire, die Heimat von Albert „Max“ Abramson, ist sehr grün – und sehr ruhig


NEWSCOM

DPA PICTURE-ALLIANCE /ANDRE JENNY

Sollten die Libertären in mehreren
Staaten stärkste Partei werden, könnten
am Ende im Electoral College weder
Demokraten noch Republikaner eine
Mehrheit haben. In einem solchen Fall
ist vorgesehen, dass das Repräsentan-
tenhaus den Präsidenten wählt. Genau
dort setzt Abramson auf all jene Abge-
ordneten beider Parteien, die die Präsi-
dentschaft für verzichtbar halten, und
stattdessen auf ihre eigene Wiederwahl
im Jahr 2022 setzen – „all sie könnten
dann für den Kandidaten einer dritten
Partei stimmen“. Soweit also Abram-
sons Szenario für die Eroberung des
Weißen Hauses.
Für den Kongress kandidiert Abram-
son nicht. „Ein Senatssitz kostet 150
Millionen Dollar, für einen Sitz im Re-
präsentantenhaus muss man zwei bis
drei Millionen bezahlen“, sagt er. Das
will er sich im wahren Wortsinn erspa-
ren, und lieber in den Präsidentschafts-
wahlkampf investieren. Im Wahlkampf
2016 hätten 25.000 Bürger rund 41 Mil-
lionen Dollar an die Libertären gespen-
det, mit einer solchen Summe könne
man schon allerhand Wahlkampf ma-
chen. Bereits jetzt spricht Abramson re-
gelmäßig persönlich und am Telefon
mit Mitstreitern, die unentgeltlich für
ihn werben wollen.
Das faktische Zwei-Parteien-System
Amerikas sei verantwortlich für die
Spaltung des Landes, sagt Abramson.
Für Demokraten und Republikaner hat
Abramson im Grunde nur Verachtung
über. „Trump steht für Handelskriege,
Protektionismus, Interventionen, ei-
nen Krieg gegen Drogenkonsum, die
Erosion bürgerlicher Freiheiten“, sagt
er. „Washington kriminalisiert alles:
Marihuana-Raucher, Prostituierte. So
etwas gibt es in Europa nur in Weiß-
russland.“ Nicht eine libertäre Ent-
scheidung habe Trump getroffen. Und
die Steuerreform? „Die hat der Mittel-
schicht nichts gebracht, die hat sie eher
etwas gekostet.“
Die Demokraten drifteten immer
mehr nach links, „sie wollen den Sozia-
lismus in den USA einführen, alles ver-
staatlichen“. Ihr Kandidat werde nicht
in den Vorwahlen gekürt, sondern im
Hinterzimmer, vom Establishment. Bei-
de Parteien eskalierten immer mehr,
programmatisch, politisch, verbal. „Gut
möglich, dass es bald zu einem Bürger-
krieg in den USA kommt“, sagt Abram-
son. Und wie lautet Ihr Friedensplan,
Herr Abramson? „Unsere Bürger wer-
den Demokraten und Republikaner eine
Botschaft senden, die lautet: ,Wir wol-
len Eure Eskalation nicht mehr. Wir
wollen Euch nicht mehr.‘“

Albert „Max” Abramson, Mitglied der
Libertären Partei der USA

DANIEL FRIEDRICH STURM

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27.08.19 Dienstag, 27. August 2019DWBE-HP



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DIE WELT DIENSTAG,27.AUGUST2019* POLITIK 7


A


ls sich Denis Mukwege beim
Friedensforum im französischen
Caen in diesem Sommer mit ei-
ner Handvoll Journalisten an einen
Runden Tisch setzte, war seine Bot-
schaft unmissverständlich: „Vergewalti-
gung ist eine der effizientesten Kriegs-
waffen. Sie richtet verheerende Zerstö-
rung an.“ Vergewaltigung als Massen-
vernichtungswaffe? „Ja“, sagt Mukwege
trocken, „sie zerstört die Opfer körper-
lich, seelisch, und langfristig zerrüttet
sie soziale Strukturen.“

VON MARTINA MEISTER
AUS PARIS

Mukwege ist ein stattlicher Mann von
64 Jahren, und wenn er einen Raum be-
tritt, dann geschieht das nicht unbe-
merkt. Er hat das, was man Charisma
nennt. Seine Stimme ist sanft, seine Bot-
schaft erschütternd. Der Grund für sei-
ne Ausstrahlung mag das unerträgliche
Maß menschlichen Horrors sein, das er
gesehen hat und dem er ein Gefühl ent-
gegensetzt, das heute nicht mehr bei
vielen auf der Agenda steht: Mukwege
ist angetrieben von Nächstenliebe.
Der Sohn eines evangelischen Pastors
der Pfingstbewegung konnte als Kind
nicht verstehen, warum für ihn Medika-
mente verfügbar waren, während seine
kranken Altersgenossen oft sterben
mussten, weil es für sie keine gab. Da-
mals beschloss er, Kinderarzt zu wer-
den. Als er später begriff, wie hoch die
Sterblichkeitsrate von gebärenden
Frauen ist, sattelte er auf Gynäkologie
und Geburtshilfe um.
Damals wurde er erstmals mit den
Verletzungen vergewaltigter Frauen
konfrontiert und schickte sich an, der
Mann zu werden, „der die Frauen repa-
riert“, wie es im Titel eines Dokumen-
tarfilms über ihn heißt. Heute gilt Muk-
wege als bester Spezialist weltweit für
genitale Verletzungen und Verstümme-
lungen. Im vergangenen Jahr wurde ihm
gemeinsam mit der Jesidin Nadia Mu-
rad der Friedensnobelpreis verliehen.
Längst kümmert er sich nicht nur um
die körperliche Heilung der Frauen, er
kämpft auch für ihre soziale Wiederein-
gliederung und eine andere Form der
Wiedergutmachung. Mukwege will Ge-
rechtigkeit. „Nur die Justiz vermag die
verlorene Würde dieser Frauen wieder-
herzustellen“, sagt der Friedensnobel-
preisträger im Gespräch mit WELT.
In Bukavu, im Südosten der Demo-
kratischen Republik Kongo, eröffnete
Mukwege 1999 ein eigenes Kranken-
haus, die Panzi-Klinik. Seither sind dort
mehr als 50.000 Frauen von ihm und
seinem Ärzteteam operiert worden.
Über die Jahre sind die Täter immer
brutaler, die Opfer immer jünger gewor-
den, konstatiert Mukwege: „Als ich an-
gefangen habe, waren sie zwischen 15
und 80 Jahre alt, heute werden Säuglin-
ge vergewaltigt und verstümmelt. Das
jüngste Baby, das ich operiert habe, war
sechs Monate alt. Die Gewalt ist maka-
ber und grenzenlos.“
Nach zwei Jahrzehnten im Einsatz als
Chirurg weiß er, dass die Vergewalti-
gungen „vorsätzlich, systematisch, kol-
lektiv und öffentlich inszeniert“ sind.
Es sei unmöglich, fügt er an, 300 Frauen
eines Dorfes zu vergewaltigen, ohne
„vorherige Planung“. Seit zwei Jahr-
zehnten sorgen bewaffnete Rebellen-
gruppen für Chaos im Kongo. Sexuelle
Gewalt ist Teil ihrer Strategie, um Dör-
fer auszurotten, Menschen zur Flucht
zu zwingen. „Es geht in diesem Krieg in
Wahrheit nicht um ethnische Konflikte,
sondern um einen Kampf um Territo-
rien“, sagt Mukwege. Die Region im
Südosten des Landes ist reich an Boden-
schätzen. Vor allem Coltan ist begehrt,
das man für Mobiltelefone und Laptops
braucht. In diesem ruchlosen Vertei-
lungskampf ist der Körper der Frauen
ein militärisches Ziel geworden.
„Mein Land gehört zu den reichsten
weltweit und dennoch gehört mein Volk
zu den ärmsten weit und breit“, sagte
Mukwege im Dezember in Oslo, als er
den Friedensnobelpreis entgegennahm.
Jeder möge Luxus, so Mukwege in sei-
ner Dankesrede, aber diese Objekte ent-
hielten Rohstoffe, die in seiner Heimat
oft unter unmenschlichen Bedingungen
von Kindern ausgegraben würden, die
Opfer sexueller Gewalt seien.
Auch seine Arbeit werde daran nichts
grundsätzlich ändern. „Es fehlt bis heu-
te der politische Wille der internatio-
nalen Gemeinschaft, die Gewalt zu be-
enden. Die Augen vor diesem Drama
zu verschließen, heißt, sich schuldig
machen“, sagt Mukwege. Nach Anga-
ben von Unicef arbeiteten im Jahr

2014 mehr als 40.000 Kinder in den Mi-
nen im Süden des Landes. Hilfsorgani-
sationen schätzen die Zahl vergewaltig-
ter Frauen im Land auf 200.000.
Als am 5. Oktober vergangenen Jah-
res die Nachricht vom Friedensnobel-
preis kam, war Mukwege im Operati-
onssaal seines Krankenhauses. Er un-
terbrach die Operation nicht. Er hielt
nur als Zeichen der Freude den Daumen
hoch und widmete später seinen Preis
den „Frauen aller Länder, die Opfer
kriegerischer Konflikte sind und täglich
mit Gewalt konfrontiert werden“.
Mukwege hatte zu diesem Zeitpunkt
eine berechtigte Hoffnung. „Mit diesem
Preis zeigt die Welt, dass sie ihre Augen
nicht mehr verschließt und die Gleich-
gültigkeit verweigert“, sagte er in einer
öffentlichen Erklärung nach der Be-
kanntgabe. Ein Dreivierteljahr später ist
der Chirurg sehr viel skeptischer. Si-
cher, der Friedensnobelpreis habe für
mehr „Sichtbarkeit“ gesorgt, wie er es
im Gespräch formuliert. Er nutzt seine
Bekanntheit, um vor den Vereinten Na-
tionen, Regierungsvertretern, auf Kon-
gressen und selbst mit dem Papst zu
sprechen und die Aufmerksamkeit der
Weltöffentlichkeit auf ein Drama zu
lenken, das nicht nur den Kongo, son-
dern alle bewaffneten Konflikte betrifft:
die langfristige Vernichtung von Volks-
gruppen durch sexuelle Gewalt.
„Die Konsequenzen sind dramatisch,
wenn eine Frau öffentlich vergewaltigt
wird. Ihre Ehemänner verstoßen sie.
Oft gehen sie in große Städte, wo sie al-
lein nicht überleben können. Dadurch
werden Sozialstrukturen langfristig zer-
stört, die Geburtenrate bricht ein. Man-
che Frauen leiden ein ganzes Leben lang
an den Folgen von Pilz- und Virusinfek-
tionen, die sie unfruchtbar oder arbeits-
unfähig machen.“ Ein weiteres Problem
sind die Kinder, die bei Vergewaltigun-
gen gezeugt werden. „Wahre Zeitbom-
ben“, nennt er sie, weil es Kinder ohne
Abstammung, ohne Identität sind,
„Schlangenkinder“ werden sie im Kon-
go genannt. Auch die Jesidinnen, die
von IS-Milizen als Sexsklavinnen gehal-
ten wurde, stehen vor diesem Problem.
Wenn man Mukwege fragt, wie Säug-
linge vergewaltigt werden können, wird
seine Stimme noch leiser. Stöcke, Waf-
fen würden in die Körper eingeführt,
manchmal auch Messer oder glühende
Gegenstände. Dann erläutert er, wie er
die Verletzung kategorisiert: von ober-
flächlichen Wunden über die Zerstö-
rung der Schließmuskel bis hin zur Ex-
plosion des Douglas-Raumes, der Geni-
talien und Gedärme trennt. „Ich habe
mich oft gefragt, wie ein menschliches
Wesen zu solcher Gewalt fähig ist“, sagt
Mukwege. Selbst Mediziner, die vieles
gesehen hätten, seien vom Anblick der
Verletzungen traumatisiert und bräuch-
ten psychologische Betreuung.
AAAuf Mukwege, Vater von fünf Kindern,uf Mukwege, Vater von fünf Kindern,
ist 2012 ein Mordanschlag verübt wor-
den, den er nur überlebt hat, weil ein Si-
cherheitsmann sich für ihn opferte.
WWWenn man ihn fragt, wie er die Hoffnungenn man ihn fragt, wie er die Hoffnung
bewahrt, antwortet er: „Ich nehme mir
ein Beispiel an den Frauen, die ich behan-
dele.“ Viele kämen körperlich zerstört in
sein Krankenhaus, aber ihr Lebenswille
sei ungebrochen. Inzwischen hat er er-
reicht, dass der Internationale Gerichts-
hof für Menschenrechte Vergewaltigung
als Kriegsverbrechen anerkennt. Noch
nicht gelungen ist ihm, dass die Täter, die
weiter vergewaltigen, verfolgt und zur
Rechenschaft gezogen werden.

„Heute werden


Säuglinge vergewaltigt“


Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege prangert


systematische Zerstörung der Menschen im Kongo an


PICTURE ALLIANCE/DPA/FABIAN SOMMER

DIE GEWALT IST


MAKABER UND


GRENZENLOS


DENIS MUKWEGE,Gynäkologe

,,


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