Die Welt Kompakt - 27.08.2019

(Nora) #1

Rom entgegen, doch ich wurde
positiv überrascht: Die Italiener
gehen sehr vorsichtig mit ihren
Klimaanlagen um. Obwohl die
Temperaturen in Rom im Som-
mer regelmäßig die 30-Grad-
Marke übersteigen, sind bei Wei-
tem nicht alle Wohnungen mit
einer Klimaanlage ausgestattet.
Selbst Geschäfte und Büros sind
nicht auf Temperaturen knapp
über dem Gefrierpunkt abge-
kühlt, sondern nur ein paar Grad
kühler als das Klima vor der Tür.
Dieser vorsichtige Umgang
mit der Klimaanlage mag auf die
uritalienische Angst vor dem
„colpo d’aria“ zurückgehen –
wörtlich übersetzt „Schlag der
Luft“. In einer freien Überset-
zung trifft es wohl die deutsche
Unterkühlung am ehesten.
Italiener glauben fest daran,
dass Schmerzen in verschiedenen
Körperteilen auftreten können,
wenn diese einem Strahl kalter
Luft ausgesetzt wurden – und
zwar nicht nur im Hals, sondern
auch in den Arm- und Beinmus-
keln, dem Rücken und sogar dem
Bauch. Webseiten warnen ihre
Leser, dass eine Klimaanlage mit
zu niedriger Temperatur in extre-
men Fällen sogar zu Erfrierungen
führen könne. VIRGINIA KIRST


FRANKREICH


Ich schreibe diesen Text bei 31
Grad. Nach den Wochen der cani-
culeam Anfang des Sommers,
den Hundstagen, wie das die
Franzosen nennen, kommt mir
das fast angenehm kühl vor. Es
gab tatsächlich schlimmere Tage.


Als Studentin habe ich in einem
„chambre de bonne“ gewohnt, ei-
nem Dienstmädchenzimmer di-
rekt unter dem typischen Pariser
Zinkdach. Im Sommer glüht es
regelrecht und heizt den darun-
terliegenden Raum auf Ofentem-
peratur auf. Im Winter frieren
die Wasserrohre ein.
Klimaanlagen sind in Frank-
reich wie in Deutschland die Aus-
nahme: Nur sechs Prozent der
Privathäuser sind damit ausge-
stattet. Es werden mehr, aber es
sind immer noch wenige. Seit
2003 während der Hitzewelle an
die 20.000 vor allem alte Men-
schen gestorben sind, nehmen
die Franzosen das Thema sehr
viel ernster als zuvor. Seither
müssen in Altersheimen zumin-
dest die Gemeinschaftsräume
klimatisiert sein.
In öffentlichen Neubauten wie
Schulen werden trotzdem immer
noch riesige Glasfronten einge-
baut. Das Umdenken dauert. Die-
ses Jahr musste der brevet, das
Abschlussexamen der Zehnt-
klässler, verschoben werden. Bei
40 Grad im Schatten bekommt
man nicht einmal mehr eins und
eins zusammen.
In Paris ist die Hitze beson-
ders schlimm: Niemand traut
sich die schönen Fassaden der
Bauten des Baron Haussmann
mit Klimaanlagen zu verschan-
deln. Parks und Bäume, die die
Temperatur nachweislich abküh-
len, gibt es kaum. Im Büro haben
wir uns mit Fußbecken mit kal-
tem Wasser und Eiswürfeln un-
ter dem Schreibtisch beholfen.
Morgens betet man die Num-

mern der Metrolinien herunter,
die klimatisiert sind: eins, zwei,
fünf, neun und vierzehn. Und
wehe, man täuscht sich. Zwi-
schen Nation und Étoile, auf der
Linie sechs, wird geschwitzt. Im-
merhin lassen sich die Fenster
öffnen. MARTINA MEISTER

RUSSLAND

An einem Samstagmittag im Juni
verließ ich bei 30 Grad im Schat-
ten das Haus. Ein Termin führte
mich in die Nähe des Olympia-
stadions am südlichen Rand der
Innenstadt. Unterwegs in der
Moskauer Metro, deren Statio-
nen bis zu 80 Meter tief unter der
Erde liegen, war es kühl. Auf dem
Rückweg entschied ich mich für
ein Experiment und nahm die
erst vor einigen Jahren eröffnete
oberirdische Ring-S-Bahn. Bis-
lang nutzte ich sie nicht, ich er-
wartete stickige Hitze wie in der
Berliner S-Bahn. Umso größer
war meine Überraschung: Ich be-
trat einen Kühlschrank.
Natürlich hat die Moskauer
Ringbahn eine Klimaanlage, was
erwartete ich auch? In meiner
Wohnung gibt es gleich zwei.
Schließlich gehören Klimaanla-
gen in Russland zum Alltag, spe-
ziell in Großstädten wie Moskau,
wo Sommertemperaturen um die
35 Grad keine Seltenheit sind. An
Häuserfronten im Zentrum und
selbst an den Fassaden von Plat-
tenbauten am Stadtrand kleben
die Ventilatormodule von Split-
geräten.
Die Russen, die sonst eine irra-
tionale Angst vor Zugluft pfle-

gen, setzen sich im Restaurant
gerne direkt unter die Klimaanla-
ge. Ein Büro, eine Amtsstube, wo
im Sommer nicht für erträgliche
Temperaturen gesorgt wird? In
Moskau undenkbar.
Das hat nicht zuletzt mit sehr
niedrigen Strompreisen zu tun.
Großzügig bemessene sowjeti-
sche Kraftwerke produzieren
Strom für die schrumpfende Be-
völkerung und Industrie. Je nach
Region zahlt man in Russland
umgerechnet zwischen einem
und zehn Euro-Cent pro Kilo-
wattstunde – die Klimaanlage
können sich viele Russen trotz
fallender Realeinkommen
schlicht leisten. PAVEL LOKSHIN

ISRAEL

Ein Grad Celsius klingt nach
nicht viel, aber in Israel kann er
über das Fortbestehen einer Ehe
entscheiden. Zumindest in mei-
nem Fall. Wer von Deutschland
nach Tel Aviv reist, stößt im
Sommer schon beim Ausstieg aus
dem Flugzeug vor eine klimati-
sche Wand: 35 Grad im Schatten
mit 75 Prozent Luftfeuchtigkeit
verwandeln die Luft in eine er-
drückende Masse.
Dem kälteverwöhnten Nord-
europäer bleibt deshalb von Ju-
ni bis September nur eine Opti-
on: möglichst viel Zeit in Innen-
räumen zu verbringen. Von Bü-
ros über Einkaufszentren, Res-
taurants bis hin zu den kleinen
Lobbys vor den Aufzügen gro-
ßer Tiefgaragen: Klimaanlagen
kühlen jeden Ort so sehr, dass
man zu längeren Veranstaltun-

gen im Hochsommer am besten
stets einen Pulli im Gepäck bei
sich trägt.
Diesem israelischen Brauch
huldigte ich als Single gern, be-
sonders nachts, indem ich die
Temperatur meiner Klimaanlage
aufs Minimum reduzierte. Die
Idee, das Fenster aufzulassen,
um die Meeresbrise reinzulassen,
musste ich angesichts Dutzender
dröhnender Klimaanlagen mei-
ner Nachbarn schnell aufgeben.
Lang hielt ich diese Affinität zur
künstlichen Kälte für eine uni-
versale israelische Eigenschaft,
doch seitdem ich mit einer Israe-
lin verheiratet bin, hat sich das
geändert.
Daheim im Ehebett wird fast
täglich über die ideale Betriebs-
temperatur des Schlafzimmers
diskutiert. Dank der Hartnä-
ckigkeit meiner Gattin kletterte
der Zeiger in vergangenen Jah-
ren so beständig von erfrischen-
den 19 auf schweißtreibende 23
Grad. Dieses Diktat wurde we-
nigstens von einem kleinen
Kompromiss begleitet: Neuer-
dings durfte ich wenigstens ei-
nen Deckenventilator installie-
ren, damit die flüssigen Perlen
schneller von meiner heißen
Stirn verdampfen. GIL YARON

BRASILIEN

In den riesigen Metropolen La-
teinamerikas wie São Paulo, Bue-
nos Aires oder Rio de Janeiro
steigen die Temperaturen regel-
mäßig auf über 40 Grad, die Luft
steht, die Sehnsucht nach der
Kühle der Klimaanlage ist riesen-
groß. Doch nicht alle können sie
sich leisten, so wie ein befreun-
detes junges brasilianisches Paar,
das im bettelarmen Westen von
Rio lebt. Als ich sie einmal in ih-
rer Wohnung besuchte, war die
Temperatur auf gefühlte 45 Grad
angestiegen.
Doch für Mayarah und Filippe
ist eine Klimaanlage „viel zu teu-
er“, wie sie sagen. Ein halbwegs
ordentliches Gerät kostet einen
Monatsmindestlohn (ca. 200 Eu-
ro). Und in der Tat, wer sich um-
schaut in den Favelas von Rio de
Janeiro, wird nicht allzu viele Kli-
maanlagen finden. Es reicht gera-
de mal für einen Ventilator.
Als ich wenig später die Tür
zur eigenen Wohnung im Orts-
teil Copacabana öffnete und die
angenehme Kühle der Klimaanla-
ge spüren durfte, ist mir zum ers-
ten Mal klar geworden, was für
ein Privileg das ist. Inzwischen
haben das auch die Elektromärk-
te festgestellt. Es gibt gelegent-
lich sogenannte Programme der
„Stromsolidarität“, die Klimaan-
lagen zum halben Preis abgeben.
Offenbar unterstützt von den
Energieversorgern, die natürlich
das Anschlussgeschäft mit der
Stromrechnung machen wollen.
Tatsächlich ist die Klimaanlage
in Lateinamerika ein guter Indi-
kator dafür, wo die Grenze zwi-
schen Arm und Reich verläuft. Es
reicht ein Blick auf die Häuser-
fassaden, und es wird deutlich,
wer sich Sommerfrische leisten
kann und wer schwitzen muss.
TOBIAS KÄUFER

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,27.AUGUST2019 PANORAMA 31


Der globale Siegeszug


der Klimaanlage -


und ihre Tücken


In Deutschland werden die Sommer heißer, viele wünschen sich jetzt kühle Büros und


Wohnungen. Wie stark in anderen Ländern künstlich gekühlt wird, hängt nicht nur von


der Hitze ab. Ein internationaler Erfahrungsbericht – von dem wir einiges lernen können

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