Handelsblatt - 22.08.2019

(ff) #1
Frank Specht Berlin

E


s fällt leicht, Donald
Trump und Boris John-
son die Schuld in die
Schuhe zu schieben. Der
vom US-Präsidenten an-
gezettelte Handelskrieg und die vom
britischen Premier befeuerte Brexit-
Unsicherheit belasten die exportori-
entierte deutsche Industrie. So san-
ken die Ausfuhren der Maschinen-
bauer im ersten Halbjahr gegenüber
dem Vorjahreszeitraum um 0,9 Pro-
zent auf 89,2 Milliarden Euro, wie der
Branchenverband VDMA mitteilte.
Doch nicht nur die Weltkonjunk-
tur, sondern auch hausgemachte Pro-
bleme tragen dazu bei, dass die In-
dustrie Deutschland in die Rezession
zu treiben droht. „Wenn jetzt der Die-
sel verteufelt wird, dann geraten die
Autohersteller noch stärker unter
Druck“, sagt Karl Brenke vom Deut-
schen Institut für Wirtschaftsfor-
schung (DIW). „Und wenn es denen
schlecht geht, leiden irgendwann
auch die Maschinenbauer und die
Zulieferer.“
Megatrends wie die Digitalisierung
und die E-Mobilität führten nicht nur
in der Autobranche, sondern auch in
der Chemieindustrie zu massiven
strukturellen Veränderungen, sagt
Klaus-Peter Stiller, Hauptgeschäfts-
führer des Arbeitgeberverbands
BAVC. „Die Unternehmen benötigen
viel Geld für Investitionen, die Stand-
orte und Arbeitsplätze zukunftsfähig
machen.“ Die Arbeitskosten dürften
auch deshalb nicht so stark steigen
wie in den Jahren zuvor, fordert Stil-
ler: „Kostendisziplin ist das Gebot der
Stunde.“ In der Chemiebranche steht

im Herbst die nächste Tarifrunde an,
die Metall- und Elektroindustrie folgt
im kommenden Jahr.
Eine Arbeitsstunde im verarbeiten-
den Gewerbe kostete im vergange-
nen Jahr 41 Euro je Arbeitnehmer. Im
42-Länder-Vergleich des arbeitgeber-
nahen Instituts der deutschen Wirt-
schaft (IW) rangierte Deutschland da-
mit auf Platz fünf. Gegenüber dem
Durchschnitt der Industrieländer lie-
gen die Arbeitskosten hierzulande
um fast ein Drittel höher. Seit der
Jahrtausendwende sind sie jedes Jahr
um 2,1 Prozent gestiegen.
DIW-Experte Brenke sieht aber kei-
nen Grund für Lohnzurückhaltung
der Gewerkschaften. „Die Lohnerhö-
hungen sind ja durchaus im Rahmen
des Verteilungsspielraums geblieben.

Wir haben keine Entwicklung, dass
sie der Produktivität enteilen.“
Allerdings schafft Deutschland es
auch nicht, den Kostennachteil ge-
genüber Wettbewerbern aus dem
Ausland durch eine höhere Produkti-
vität wettzumachen. „Bei den Ar-
beitskosten haben wir in den zurück-
liegenden zehn Jahren unsere Positi-
on international nicht verbessert“,
sagt der Chefvolkswirt des Arbeitge-
berverbands Gesamtmetall, Michael
Stahl. Bis zur Finanzkrise hätten die
Firmen steigende Arbeitskosten ein
Stück weit durch höhere Produktivi-
tät abfedern können. Doch das gelin-
ge wegen der akuten Produktivitäts-
schwäche seither immer weniger.
So rangierte die deutsche Industrie
bei den Lohnstückkosten, die die Ar-

beitskosten ins Verhältnis zur Pro-
duktivität setzen, laut IW 2017 auf
Rang acht von 28 Industrieländern.
Japan produzierte 14 Prozent billiger,
die USA sogar 20 Prozent. In der Me-
tall- und Elektroindustrie sind die
Lohnstückkosten nur in Großbritan-
nien, Italien, Frankreich und Japan
höher als hierzulande.
Wie sich die Kostenbelastung der
Industrie aufteilt, hat IW-Experte
Christoph Schröder errechnet. So
kostet ein Arbeitsplatz in der chemi-
schen und pharmazeutischen Indus-
trie heute im Schnitt gut 89 000 Euro
im Jahr. Das Entgelt für geleistete Ar-
beitszeit macht dabei nur knapp
46 500 Euro aus. Aber auf jeden ge-
zahlten Euro kommen weitere 71
Cent für gesetzliche, tarifliche oder
betriebliche Zusatzkosten obendrauf.
In der Metall- und Elektroindustrie
machen gesetzlich bedingte Kosten –
neben der Vergütung von Urlaubs-,
Feier- und Krankheitstagen vor allem
Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversi-
cherung – ein Viertel der gesamten
Personalkosten aus.
Entsprechend hat es auch der Ge-
setzgeber mit in der Hand, die Wett-
bewerbsfähigkeit der deutschen In-
dustrie nicht weiter zu verschlech-
tern. Im Frühjahr hatten sich die
Spitzenverbände BDI, BDA, DIHK
und ZDH in einer gemeinsamen Er-
klärung dafür starkgemacht, die
lohnbezogene Belastung durch Sozi-
alversicherungsbeiträge auf unter 40
Prozent zu begrenzen und dies auch
im Grundgesetz festzuschreiben.
„Viele Unternehmen werden schon
durch die hohen Energiekosten be-
lastet“, sagt Gesamtmetall-Chefvolks-
wirt Stahl. „Da darf uns der Staat
nicht auch noch mit höheren Sozial-
kosten in den Rücken fallen.“
Die Unternehmen sehen mit Sorge,
dass die Große Koalition mehr auf
Umverteilung setzt als auf eine Stär-
kung der Wettbewerbsfähigkeit. In ei-
ner aktuellen IW-Umfrage zu den
größten Risiken für die Wirtschaft
nannte jedes dritte Unternehmen hö-
here Arbeitskosten durch die Vertei-
lungspolitik der Regierung als „hohes
Risiko“. Größere Sorge bereitet den
Befragten nur der anhaltende Fach-
kräftemangel – der ebenfalls den
Preis der Arbeit treibt – und die Ab-
schwächung der Inlandsnachfrage.
Trump, Johnson & Co. rangieren
viel weiter unten. Die Beeinträchti-
gung der eigenen Exporte durch Pro-
tektionismus oder von Handel und
Produktion durch einen No-Deal-Bre-
xit sehen jeweils „nur“ 17 Prozent der
Unternehmen als hohes Risiko an.

Konjunktur


Industrie fordert


Kostenbremse


Abschwung und Strukturwandel belasten die Unternehmen. Weiter steigende


Arbeitskosten seien deshalb nicht zu verkraften, warnen die Arbeitgeber.


Arbeitskosten im Vergleich
Industrie in Deutschland
Kosten 2018 je Arbeitnehmer
in Euro

Entgelt für geleistete Arbeitszeit

Betriebliche Altersversorgung

Sonstige Personalzusatzkosten

Arbeitskosten gesamt

51 960

11 261

5 785

10 462
5 079

4 520

89 067

44 945

10 115

4 910

10 065
2 325

3 085

75 445

Vergütung arbeitsfreier Tage

Fest vereinbarte Sonderzahlungen

Sozialversicherungsbeiträge

(Urlaub, Entgeltfortzahl., Feiertage)
(leistungsunabhängig)

des Arbeitgebers

Chemie/
Pharma

Metall/
Elektro

Verarbeitendes Gewerbe
Kosten pro Arbeitnehmer je geleistete Stunde in Euro

HANDELSBLATT 1) Westdeutschland; 2) Einschl. leistungs- und erfolgsabhängiger Sonderzahlungen • Quelle: IW Köln

51,
48,
41
37,
33,
2
,
25,
24,

Schweiz
Norwegen
Deutschland
Frankreich
USA
Großbritannien
Südkorea
Japan

1
2
5
9
12
15
17
18

...
...
...
...
...

Beschäftigter in
der Metallindustrie:
Im internationalen
Vergleich ist die Arbeit teuer.

Florian Gaertner/imago/photothek

BAVC-Haupt-
geschäftsführer
Klaus-Peter Stiller:
„Kostendisziplin
ist das Gebot der
Stunde.“

ECEG

Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019, NR. 161
10
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