Handelsblatt - 22.08.2019

(ff) #1
„Kümmert sich denn niemand
im Weißen Haus darum,
dass die morgendliche
Pillenration auch
eingenommen wird?“
Ralf Stegner, SPD-Bundesvize, auf Twitter
zu US-Präsident Trumps öffentlich geäußerter
Absicht, Grönland zu kaufen.

„Olaf Scholz kann viele
Sachen unheimlich gut
erklären. Ich kann viele
Sachen gut auf den
Punkt bringen.“
Klara Geywitz, SPD-Politikerin, über die
Rollenverteilung bei ihrer gemeinsamen
Kandidatur mit Olaf Scholz für den
Parteivorsitz

Stimmen weltweit


Die Wiener Tageszeitung „Die Presse“
kommentiert nach dem Rücktritt des
italienischen Premierministers Giuseppe Conte,
die Zukunft Europas entscheide sich in Rom:

I


taliener zuerst“ lautet die schamlos kopierte
Erfolgsparole des Mini-Trumps aus Mailand.
Damit kann man in Zeiten wie diesen in Um-
fragen punkten und auch Wahlen gewinnen.
Doch es wird nicht reichen, um Italien zu regie-
ren. Europas viertgrößte Volkswirtschaft steckt
seit Jahren in einer schweren strukturellen Krise.
Die Arbeitslosenrate steckt bei zehn Prozent
fest, das Bankensystem schwächelt bedenklich,
die Fluglinie Alitalia trudelt. Der Staat gibt vier-
mal mehr Geld für Pensionen aus als für Bildung.
Reformen sind oft angekündigt, aber selten um-
gesetzt worden.
Kein anderer EU-Staat außer Griechenland
weist einen derart hohen Schuldenstand auf
wie Italien. Doch um Defizitregeln mag Salvini
sich nicht kümmern. Ihm schwebt ein Ausga-
benpaket im Umfang von 50 Milliarden Euro
vor. Dieser Mann stellt eine Gefahr für die Euro-
Zone dar. Er glaubt, die EU erpressen zu kön-
nen, weil Italien zu groß sei, um es fallen lassen
zu können.

Die italienische Tageszeitung „Corriere della
Sera“ spricht nach dem Rücktritt Contes von
einem dramatischen Tag:

E


in dramatischer Tag, an dem die bösar-
tigsten Anschuldigungen Umarmungen
ablösten, an dem sich eine Koalition zer-
malmt hat, die in den vergangenen Monaten von
ihren Protagonisten mehr Kälte und Stiche als
Übereinstimmung gesehen hat (...).
(Die Koalition) zerschellte an der unvermeidli-
chen Mauer der Regierungskrise, die Menschen
gespalten, Gegner angenähert und jeden Ver-
such, ein gescheitertes Experiment am Leben zu
ddp/abaca press, AFP, imago images/Jens Schickehalten, pulverisiert hat.

Die Schweizer „NZZ“ hebt in der italienischen
Regierungskrise den Aspekt hervor, dass
Vizepremier Salvini es nun eilig hat,
Neuwahlen anzuberaumen:

S


alvini hat die Koalitionsregierung in Rom
zum Einsturz gebracht, es dauerte etwas
länger als geplant, aber es gelang. Jedoch
wird voraussichtlich nicht sogleich eine neue
Wahl anberaumt werden, da hat er sich zumin-
dest vorläufig nicht durchgesetzt. Das Parla-
ment, vor anderthalb Jahren gewählt, ist weiter-
hin im Amt.
Im Schoße dieses Parlaments beginnt jetzt die
Suche nach einer neuen Regierungsformel. Sol-
che Verhandlungen gestalten sich in Italien oft
langwierig, und der Ausgang ist in diesem Fall
höchst ungewiss. (...)
Salvini hat aber Eile, er will Wahlen möglichst
bald, denn die Umfragen stehen derzeit gerade
günstig für ihn. 36 Prozent Zustimmung für seine
Lega-Partei werden gemeldet, vor Kurzem waren
es sogar 38 Prozent. Mit so vielen Stimmen könn-
te er dank – von der Verfassung gewollten – Ver-
zerrungen im Wahlsystem in beiden Kammern
des Parlaments nahe an eine Mehrheit kommen,
zusammen mit den Neofaschisten wohl darüber.

V


ierzehn Monate hat das Experiment gedauert,
auf das Europa mit Argusaugen geschaut hat. Es
war eine Premiere: Zwei populistische Kräfte ha-
ben gemeinsam in Italien regiert, die fremdenfeindliche
und rechts ausgerichtete Lega und die zentral gesteuer-
te frühere Anti-Establishment-Bewegung Fünf Sterne
mit ihrem Basisprogramm, zu allem „Nein“ zu sagen.
Jetzt ist das Experiment gescheitert – und zwar am
Streit der Partner.
Das populistische Modell funktioniere im Wahlkampf,
aber nicht beim Regieren, sagte Ex-Premier Matteo Ren-
zi im Senat, und er hat recht. Am Ende gab es nur noch
Streit. Dazu kam, dass sich durch den Aufschwung der
Lega in der Wählergunst das Kräfteverhältnis verscho-
ben hatte und Lega-Chef Matteo Salvini seinen Bonus
einfahren wollte.
Premier Giuseppe Conte ist zurückgetreten – ein
Schritt, der ihm viel Beifall gebracht hat. Vor allem, weil
er in seiner Rede im Senat Salvini, den Auslöser der Re-
gierungskrise, mit deutlichen Worten kritisiert hat. Er
stelle seine persönlichen Interessen und die seiner Par-


tei über die des Landes, warf ihm Conte vor. Das Ausru-
fen der Krise sei unverantwortlich gewesen, da Italien
nun eine Spirale aus politischer Unsicherheit und finan-
zieller Instabilität drohe.
Das stimmt. Neuwahlen sind zwar vorerst vom Tisch.
Staatspräsident Sergio Mattarella, genau wie vor einem
Jahr Schlüsselfigur und Garant, entscheidet jetzt, wem
er den Auftrag zur Bildung einer neuen, mehrheitsfähi-
gen Regierung gibt. Das könnte auch Conte sein.
Berechenbarer ist Italien damit aber noch nicht ge-
worden. Denn ein Bündnis von den Fünf Sternen und
der sozialdemokratischen Oppositionspartei PD ist
zwar möglich – aber mit großen Schwierigkeiten ver-
bunden: Wie sollen zwei Parteien, die so verschieden
sind und sich gestern noch bekämpft haben, eine politi-
sche Abmachung treffen? Das verlangt Toleranz von der
einen und politische Reife von der anderen Partei. Und
vor allem Vertrauen als Basis.
Die Zeit drängt. Die Märkte sind nervös, das hochver-
schuldete Italien steht weiterhin unter Beobachtung.
Schon im September stehen die ersten wichtigen Termi-
ne an. Die Haushaltsberatungen beginnen und damit
das kaum lösbare Problem, zusätzlich zur bereits hohen
Neuverschuldung eine schon zweimal aufgeschobene
Erhöhung der Mehrwertsteuer zu verhindern. Wenn ei-
ne neue, sachpolitisch orientierte Regierung zustande
kommt und die notwendigen Reformen angeht, wäre
das der beste Garant für Stabilität. Wenn nicht, fällt Ita-
lien weiter zurück. Wird neu gewählt, ist Italien für Mo-
nate mit sich selbst beschäftigt – und die enttäuschten
Lega-Anhänger können wieder Oberwasser bekommen.

Italien


Die Zeit drängt


Mit dem Rücktritt von
Ministerpräsident Conte ist die
Populistenregierung gescheitert –
verlässlicher wird das Land damit aber
nicht, findet Regina Krieger.

Die Autorin ist Korrespondentin in Italien.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019, NR. 161
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