Handelsblatt - 22.08.2019

(ff) #1
Fabian Ritters, Volker Votsmeier
Düsseldorf

N


iederlagen vor Gericht
gehören längst zum All-
tag für Volkswagen. In
Tausenden Urteilen be-
kamen die Kunden be-
reits Schadensersatz zugesprochen.
Manche Entscheidungen haben da-
bei eine besondere Tragweite. So wie
die des Oberlandesgerichts Koblenz,
das Volkswagen Ende Juni verurteil-
te. Die Richter sahen eine „vorsätz-
lich sittenwidrige Schädigung“ des
Autobauers als erwiesen an. VW
musste das Auto also wieder zurück-
nehmen – und das Geld erstatten.
Der Sieg hatte für den Kläger trotz-
dem einen bitteren Beigeschmack.
Denn von den 31 490 Euro, die der
VW Sharan einst gekostet hat, zog
das Gericht knapp 6 000 Euro wieder
ab. Nutzungsersatz nennen Juristen
die 6 000 Euro Differenz. Die Logik:
Der Kunde darf das Auto zwar zu-
rückgeben und hat Anspruch auf Ent-
schädigung. Trotzdem hat er das
Fahrzeug zuvor genutzt. Dafür muss
er VW seinerseits eine Entschädigung
zahlen. Ihre Höhe bemisst sich am
Kilometerstand des Autos und daran,
wie viel Laufleistung die Richter dem
Diesel zutrauen. Je mehr Kilometer
die Kunden fuhren und je geringer
die angenommene Fahrleistung, des-
to weniger muss VW zahlen.
Für den Fahrzeughersteller könnte
sich der Nutzungsersatz auf ein Ein-
sparpotenzial in Milliardenhöhe sum-
mieren. Rund vier Jahre nach Be-
kanntwerden des Dieselskandals
dürfte VW deshalb ein großes Inte-
resse an langwierigen Rechtsstreitig-
keiten haben. Den Wolfsburgern
könnte vor allem entgegenkommen,
dass die Verhandlung der Musterfest-
stellungsklage mit rund 430 000 po-
tenziell geschädigten Dieselbesitzern
noch nicht einmal begonnen hat.

Im Prinzip stehen die Vorzeichen
für Kläger gut. Ein Großteil der Ver-
fahren endet in Vergleichen. Denn
die sind oft so attraktiv, dass VW-Kun-
den ihre Klagen zurückziehen. Die
weit überwiegende Zahl der Landge-
richte in Deutschland steht inzwi-
schen auf der Seite der Kläger. „Nach
unserem aktuellen Auswertungs-
stand wurden VW und andere Her-
steller bereits an 96 von 115 Landge-
richten verurteilt“, sagt Jura-Profes-
sor Michael Heese, der sich an der
Uni Regensburg wissenschaftlich mit
dem Thema befasst. Ein Grundsatz-
urteil des Bundesgerichtshofs aller-
dings steht noch aus.
Der finanzielle Wert der Urteile
ist eine andere Frage. Etliche Ge-
richte entschieden bisher ähnlich
wie die Richter in Koblenz. Gaben
sie dem Dieselkunden recht, zogen
sie meist vom Schadensersatz, den
Volkswagen ihnen zahlen musste,
eine Nutzungsentschädigung ab.
Für den Konzern bedeutet das: Je
später eine Entscheidung vor Ge-
richt fällt, desto geringer die Scha-
densersatzzahlungen.

Urteil wohl nicht vor 2023
Die Tragweite dieser gerichtlichen
Praxis zeigt sich beim Blick auf die
Masse der Kläger. Am 30. September
2019 beginnt vor dem Oberlandesge-
richt Braunschweig die erste münd-
liche Verhandlung der Musterfest-
stellungsklage gegen VW. Es ist die
größte ihrer Art, 430 000 VW-Käufer
haben sich dafür eingetragen. Müss-
te VW den Kunden einen angenom-
menen vollen Verkaufspreis von
durchschnittlich auf 25 000 Euro er-
statten, würde Volkswagen Forde-
rungen von mehr als zehn Milliar-
den Euro drohen. Wäre da nicht der
Nutzungsersatz.
Bei den schieren Mengen von kla-
genden Kunden kommt diesem eine
immense Bedeutung zu. Für jede

1 000 Euro, die Gerichte den Klä-
gern in der Musterfeststellungsklage
für die Nutzung der schadhaften
Fahrzeuge abziehen würden, spart
Volkswagen in dieser Rechnung 430
Millionen Euro. Volkswagen selbst
rechnet im Musterfeststellungsver-
fahren nicht vor Ende 2023 mit ei-
nem gültigen Urteil.
Die Kölner Roland Prozessfinanz
finanziert mehrere Hundert Einzel-
verfahren einer Potsdamer Anwalts-
kanzlei gegen Volkswagen. Ihre Füh-
rung wirft dem Fahrzeughersteller
eine Verzögerungstaktik vor. Volks-
wagen spiele auf Zeit, um Kosten zu
sparen, so die Vermutung. Vorstand
und Rechtsanwalt Arndt Eversberg
von Roland Prozessfinanz macht da-
zu eine Rechnung auf: Sollte es am
Ende der Musterfeststellungsklage zu
einem negativen Urteil für Volkswa-
gen kommen, hätte sich der Rest-
wert der Fahrzeuge der Kunden
deutlich reduziert. Volkswagens Ein-
sparpotenzial liege insgesamt bei
mehr als zwei Milliarden Euro.
Die Berechnungen des Prozessfi-
nanzierers beruhen auf der Annah-
me, dass die beanstandeten Fahrzeu-
ge im Durchschnitt 25 000 Euro kos-
teten, bei Prozessende etwa zehn
Jahre alt sein werden und pro Jahr
etwa 15 000 Kilometer fuhren. Als
Gesamtlaufleistung werden 350 000
Kilometer zugrunde gelegt. Aktuell
ist es gängige Praxis der Gerichte, bis
zum letzten Tag der mündlichen Ver-
handlung den Kilometerstand zu
zählen. Nach Eversbergs Rechnung
könnte jeder Tag, an dem kein Urteil
fällt, dem Konzern rund 1,2 Millio-
nen Euro bringen.
In Wolfsburg wird aus dieser Glei-
chung kein Geheimnis gemacht. In
einem im Mai veröffentlichten Papier
von Volkswagen heißt es: „Je länger
die Instanzen für eine Entscheidung
benötigen und der Verbraucher wäh-
renddessen sein Fahrzeug nutzt, (...)

desto höher der Nutzungsersatz, der
später von der erstrittenen Schadens-
ersatzsumme abgezogen wird.“ Zu
konkreten Berechnungen dazu von
anderen Parteien wollte sich Volks-
wagen auf Nachfrage nicht äußern.
Ronny Jahn von der Verbraucher-
zentrale Bundesverband findet die
gerichtliche Praxis falsch: „Wir sind
der Meinung, dass von den Scha-
densersatzansprüchen keine Nut-
zungsentschädigung abgezogen wer-
den darf. Andersfalls würde VW für
eine Verzögerungstaktik nur be-
lohnt.“ Tatsächlich gab es zuletzt ei-
nige Urteile, in denen auf die Anrech-
nung des Nutzungsersatzes verzichtet
wurde. Verbraucheranwalt Marco
Rogert zählt seit Beginn dieses Jahres
sieben Fälle, in denen die Gerichte
keinen Nutzungsersatz abzogen.
Ex-Justizministerin Katharina Bar-
ley (SPD) sah in der Musterfeststel-
lungsklage einen großen Fortschritt
und nannte sie „kostenlos und
schnell“. Beim ersten Härtetest müs-
sen sich die Kunden nun auf Jahre
des Wartens einrichten – und zuse-
hen, wie der mögliche Schadenser-
satz für ihre Autos täglich sinkt.
Rechtsprofessorin Caroline Meller-
Hannich von der Universität Halle-
Wittenberg warnte bereits im Gesetz-
gebungsverfahren im Ausschuss des
Bundestags vor „umständlichen,
langwierigen und häufig erfolglosen
Nachverfahren“ der Musterfeststel-
lungsklage. Heute sagt sie: „Was ich
vor allem kritisch sehe, ist, dass bei
der Musterfeststellungsklage am En-
de keine geregelten Entschädigungen
für die Kläger stehen. Keiner hat ei-
nen Vollstreckungstitel, mit dem er
einen Schadensersatz gegenüber VW
geltend machen kann.“
Risikolos ist die jahrelange Warte-
zeit vor Gericht allerdings auch für
Volkswagen nicht. Seit Herbst 2018
sprechen immer mehr Richter den
Klägern sogenannte deliktische Zin-

Dieselaffäre


Hunderttausende Dieselfahrer wollen Geld von Volkswagen. Doch das


Musterverfahren hat nicht einmal begonnen. Gut für den Autokonzern:


Ein langer Rechtsstreit könnte dem Konzern viel Geld sparen.


Spiel auf Zeit


dpa

Wir sind der


Meinung, dass


von den


Schadens-


ersatz-


ansprüchen


keine


Nutzungs-


entschädi-


gung


abgezogen


werden darf.


Ronny Jahn
Verbraucherzentrale
Bundesverband

Unternehmen & Märkte
DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019, NR. 161
16
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