Handelsblatt - 22.08.2019

(ff) #1
Regina Krieger, Ingo Narat, Anke Rezmer,
Rom, ankfurtFr

G


eht es nach dem Markt, ist die politi-
sche Zukunft Italiens ganz klar vorge-
zeichnet: Mit selten großer Überein-
stimmung hoffen Investoren auf ein
schnelles Ende der Regierungskrise
und nicht auf Neuwahlen, sondern eine neue Re-
gierung mit einer Koalition der links verorteten Be-
wegung Fünf Sterne und den Sozialdemokraten
von der PD.
Danach sah es am Tag nach dem Rücktritt von
Premierminister Giuseppe Conte auch aus. Staats-
präsident Sergio Mattarella startete den vorge-
schriebenen Reigen von Konsultationen mit allen
Fraktionen, um eine neue parlamentarische Mehr-
heit auszuloten. Dann wird er vermutlich schon am
Wochenende einen Politiker mit der Regierungsbil-
dung beauftragen. Das könnte durchaus auch Con-
te selbst sein. Doch der Teufel steckt im Detail.
Zwar signalisierten die PD-Spitzen am Mittwoch,

dass sie in Verhandlungen mit den Fünf Sternen
gehen wollen, doch bisher waren sie noch erbitter-
te Gegner der Fünf Sterne.
Ob es also schnell zu einer neuen Regierung
kommt, die auch jeweils die Basis beider Parteien
trägt, hängt vom politischen Programm ab, über
das die beiden Kräfte sich einigen müssen. Sie hät-
ten eine schmale Mehrheit im Parlament.

Die Investoren zeigten dieses Mal keine Nervosi-
tät. Die Kurse an der Börse in Mailand brachen
nicht ein, und auch die Renditeaufschläge für italie-
nische Bonds im Vergleich zu Bundesanleihen
schossen nicht in die Höhe. Das war vor einem Jahr
anders, als die Populisten die Parlamentswahl ge-
wonnen hatten und erst nach drei Monaten eine
neue Regierung stand. Damals waren die Sorgen
über Italiens Zukunft groß und ließen sich an den
Börsen ablesen.
Aktuell überwiege unter den Investoren die Hoff-
nung auf ein Bündnis zwischen Fünf Sterne und
PD, meint Daniel Lenz, Analyst der DZ Bank. „Die
Finanzmärkte scheinen dieser Möglichkeit aktuell
größere Chancen einzuräumen, da wir sowohl auf
der Aktien- als auch der Rentenseite in den letzten
beiden Tagen deutlich positive Bewegungen gese-
hen haben“, erklärt auch Carsten Roemheld, Kapi-
talmarktstratege von Fidelity International.
Entwarnung also. Selbst in Hinblick auf den hei-
ßen Herbst, der Italien bevorsteht. Die Regierungs-
krise, die Lega-Chef und Vizepremier Matteo Salvi-
ni mitten im Sommer losgetreten hatte, um bei
schnellen Wahlen seine Zustimmung im Land in
politische Macht umzuwandeln, kam zum denkbar
unpassenden Zeitpunkt für Italien.

Risikofaktor Neuwahlen
Denn bis Mitte Oktober muss der Haushaltsentwurf
für 2020 zur EU nach Brüssel geschickt werden
und bis Jahresende durchs Parlament. Das Budget
der drittgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone ist
dieses Mal nicht nur durch eine von Rom akzep-
tierte Begrenzung der Neuverschuldung, sondern
auch durch eine drohende Erhöhung der Mehr-
wertsteuer ein schwer zu lösendes Problem. Und
schon zwei Mal hat sich die EU gnädig gezeigt und
kein Strafverfahren gegen Italien wegen seiner Aus-
gabenpolitik eingeleitet. Aber das Land bleibt unter
Beobachtung.
„Im Fall einer neuen Koalition dürfte der schwe-
lende Haushaltsstreit mit Brüssel weniger stark ver-
laufen oder sogar vermieden werden“, erläutert
Analyst Lenz.
Anders sieht das Szenario aus, wenn es tatsäch-
lich zu Neuwahlen kommt. Salvini sagte noch am
Dienstag, dass jegliche Regierung, die jetzt gebildet
werde, eine „Regierung gegen die Lega“ wäre. Sei-
ne Partei hat nach wie vor die größte Zustimmung,

Investoren


hoffen auf eine


neue Koalition


Neuwahlen, die Salvini wieder an die Macht bringen könnten, wären die


schlechteste Lösung für Italien. Darüber sind sich die Marktbeobachter


einig. Dem verschuldeten Land läuft die Zeit davon.


Demonstra-
tion in Rom:
Italiens
Hoffnungen
ruhen auf
einer neuen
Regierungs-
koalition.

AFP

Giuseppe Conte (l.)
und Matteo Salvini:
Der rechtspopulisti-
sche Innenminister(r.)
strebt Neuwahlen
und das Amt des
AFP Premiers an.

Titelthema


Der italienische Patient
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DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019, NR. 161
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