Handelsblatt - 22.08.2019

(ff) #1

wie aus Umfragen hervorgeht. Wenn gewählt wird,
kann er der nächste Premier werden, zusammen
mit kleineren rechten Parteien.
Das wäre für Analyst Roemheld das größte Risi-
ko für die europäischen Märkte. „Dies würde der
aktuell in den Umfragen stärksten Partei, der Le-
ga, die Möglichkeit einer alleinigen oder einer Ko-
alitionsregierung unter ihrer Führung ermögli-
chen“, sagt er.
„Aus Sicht der Finanzmärkte wäre dies die un-
günstigste Konstellation, da Lega-Chef Salvini auf
mehreren Ebenen mit der EU auf Konfrontations-
kurs gegangen ist, insbesondere was die Verschul-
dungshöhe beziehungsweise die Fiskalpolitik Ita-
liens betrifft. Dies würde besonders die Anleihe-
märkte und die Finanztitel stärker belasten.“
Gerade erst ist nach Angaben der italienischen
Notenbank die Staatsverschuldung erneut gestie-
gen und liegt bei mehr als 133 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts – ein Spit-
zenwert in Europa. Es ist viel-
leicht dem allgemeinen Ab-
schwung in Europa zu verdan-
ken, dass die Zeiten der
harten Kommentare über
Italien vorbei zu sein schei-
nen. Rüdiger Kerth, Anleihe-
spezialist bei Union Invest-
ment, ist eindeutig in seinem
Urteil: „Fundamental kann
Italien die Herausforderungen
bewältigen. Im September könn-
te die EZB noch einmal Gas geben,
die Zinsen senken und vielleicht auch
ein Kaufprogramm ankündigen, das dann
italienische Anleihen einschließen würde. Bei den
tiefen Zinsen kann das Land trotz schwachen
Wachstums und trotz des Reformstaus seine
Schulden tragen.“
Viel Vorschusslorbeeren also für die neue Re-
gierung, wenn sie denn kommt. Kurzfristig könnte
das sogar dazu führen, dass sich der Renditeab-
stand zwischen italienischen Staatsanleihen und
deutschen Staatspapieren verringert, meint Ana-
lyst Lenz, wenngleich Italiens grundsätzliche Pro-
bleme – hohe Verschuldung, stagnierende Wirt-
schaft und politische Instabilität – fortbestehen.
„Da derzeit aber weiter unklar ist, ob eine Über-
gangsregierung überhaupt gebildet werden kann,


halten wir an unserem Anlageurteil ,Underperfor-
mer‘ fest“, erklärt Lenz.
Ist Italien denn handlungsfähig? Premier Conte
führt vorerst die Geschäfte weiter, darum hatte
ihn Präsident Mattarella gebeten. Am Wochenen-
de vertritt er Italien beim G7-Gipfel in Biarritz,
dann steht die Benennung des italienischen EU-
Kommissars an.
Das Klima in Europa scheint aber milder zu sein
als früher. So meint Hetal Mehta, Senior European
Economist bei Legal & General Investment Ma-
nagement (LGIM): „Obwohl die politische Unsi-
cherheit insgesamt hoch bleibt, werden die Span-
nungen mit der EU nicht im selben Maß aufflam-
men wie 2018. Die Europäische Kommission
verfolgt weiterhin eine pragmatische Einstellung
im Hinblick auf haushaltspolitische Fehlentwick-
lungen. Das gilt vor allem, wenn das Wachstum in
der Euro-Zone generell schwächelt und
Länder wie Frankreich aller Voraus-
sicht nach die Drei-Prozent-Defizit-
grenze überschreiten werden.“
Und auch eine andere Ge-
fahr scheint gebannt: „Wir
glauben, dass die Risiken ei-
ner Ansteckung anderer Peri-
pherieländer aktuell be-
grenzt sind, insbesondere
dank der Unterstützung der
EZB, die wohl im September
das nächste geldpolitische Pa-
ket schnüren wird“, erklärt Mat-
teo Germano, Head of Multi-Asset
und CIO Italien bei Amundi.
Italiens Teilhabe am Euro bleibt als Frage-
zeichen und sorgt die Unternehmer. „Die Marktteil-
nehmer warten ab, was passiert, würden aber jede
irrationale Lösung abstrafen. Dazu muss es Klar-
heit über unsere Zugehörigkeit zum Euro und zur
EU geben, die darf nie infrage gestellt werden“,
sagt Marcella Panucci, die Geschäftsführerin des
italienischen Industrieverbands Confindustria (sie-
he „Nachgefragt“). Die Forderungen der Unterneh-
mer: „Die nächste Regierung muss eine klare Wirt-
schaftspolitik vorlegen und sagen, wie sie diese fi-
nanzieren will und welchen Effekt sie auf die
Realwirtschaft hat.“

> Kommentar Seite 13

Marcella Panucci

„Wir erwarten


eine klare


Wirtschaftspolitik“


Der Industrieverband Confindustria, der italieni-
sche BDI, verfolgt die Regierungskrise in Rom ge-
nau. Wer immer regiert, muss glaubwürdig agie-
ren, sagt Marcella Panucci, Geschäftsführerin des
Verbands. Dazu gehört auch das Bekenntnis zu
Europa.

Frau Panucci, welche Lösung der Krise wollen
die italienischen Unternehmer am liebsten: eine
Koalition von Fünf Sternen und PD, eine Exper-
tenregierung oder Neuwahlen?
Die Glaubwürdigkeit der Confindustria basiert auf
der Unabhängigkeit von Parteien und Regierun-
gen, dabei bleiben wir auch heute. Deshalb betei-
ligen wir uns auch nicht an der Diskussion über
Neuwahlen oder nicht. Bei jeder Art von Lösung
muss es aber eine Strategie und klare Ziele geben.
Für uns geht es nicht um das „Wie“ – Wahlen oder
eine neue Regierung –, nicht um das „Mit wem“,
sondern um das „Was“, also die Inhalte.

Was fordern die Unternehmer von der Politik?
Wir wollen ein geeintes Land, das die soziale
Ungleichheit bekämpft und seinen Bür-
gern das Gefühl vermittelt, keine Angst
vor der Zukunft zu haben. Das nicht
auf den nächsten Tag, sondern die
nächsten 20 Jahre schaut. Wir appel-
lieren an das Verantwortungsgefühl al-
ler politischen Kräfte. Sie müssen eine
klare Wirtschaftspolitik vorlegen und
sagen, wie sie diese finanzieren wollen
und welchen Effekt sie auf die Realwirt-
schaft hat.

Wie können die Bedenken der Investoren
beruhigt werden? Italien ist ja weiter unter
Beobachtung.
Die Marktteilnehmer warten ab, was passiert,
würden aber jede irrationale Lösung abstrafen.
Dazu muss es Klarheit über unsere Zugehörigkeit
zum Euro und zur EU geben, die darf nie infrage
gestellt werden.

Im Herbst stehen die Haushaltsberatungen an.
Meinen Sie, die Termine werden eingehalten und
die Erhöhung der Mehrwertsteuer kommt?
Der Haushalt muss sofort eingebracht werden,
und der Staatspräsident zielt darauf hin. Egal,
welche Lösung es gibt, die Termine müssen einge-
halten und die Erhöhung der Mehrwertsteuer
muss abgewendet werden. Auch hier muss klar
kommuniziert werden, wie, also mit welchen Res-
sourcen. Das ist eine Frage der Verantwortung ge-
genüber allen Italienern und unseren europäi-
schen Partnern.

Was sind die Prioritäten, um das Land wieder in
Schwung zu bringen?
Arbeit, öffentliche und private Investitionen. Die
Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden, damit
die Gehälter steigen können, und es muss einen
Plan für die Inklusion der Jungen in den Arbeits-
markt geben. Dann Investitionen in Infrastruktu-
ren, die Menschen und Regionen zusammenbrin-
gen, und Schulen und Universitäten müssen im
Zentrum jeder Regierungspolitik stehen.

Die Fragen stellte Regina Krieger.

Italienische Unternehmen fordern von
der Regierung Maßnahmen für
Wachstum und Transparenz
bei der Finanzierung.

Industrieaufträge, Veränderung zum Vorjahresmonat


Wirtschaftliche Entwicklung unter den jeweiligen Regierungen Wahlumfrage vom 12.8.


Staatsverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukt


10-jährige Staatsanleihen, Rendite in Prozent


HANDELSBLATT • Quellen: Europäische Kommission, Politico

-2,5 %

31.1.2010 31.5.

Berlusconi Monti Letta Renzi Gentiloni Conte









+





134 %
115 %

2010 2019
Prognose

150


100


50

0

1,33 %

31.1.2010 21.8.

8
6
4

0

36

23

19

7

6

3

2



Partito Democratico

Movimiento 5 Stelle

Fratelli d’Italia

Lega

(Demokrat. Partei)

(Fünf Sterne)

(Brüder Italiens)

Forza Italia

Più Europe

Europa Verde

Sonstige

% % % % % % % %

Regierungskrise in Italien


Confindustria

Wir halten derzeit


am Urteil


‚Underperformer‘


fest.


Daniel Lenz
Analyst DZ-Bank

Der italienische Patient
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DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019, NR. 161
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