Handelsblatt - 22.08.2019

(ff) #1
Bundesverfas-
sungsgericht:
Die Kläger wollen
bis in die höchste
Instanz gehen.

Eva Z. Genthe/action press

Martin Greive, Jan Hildebrand
Berlin

W


ährend das Kabi-
nett am Mittwoch
das von Finanz-
minister Olaf
Scholz (SPD) ein-
gebrachte Gesetz zur teilweisen Ab-
schaffung des Solidaritätszuschlags
beschlossen hat, formierte sich Wi-
derstand. Eine schlagkräftige Allianz
von Soli-Gegnern schickte am Mitt-
woch per Post eine Klage an das Fi-
nanzgericht Nürnberg, mit der sie die
Sonderabgabe zu Fall bringen will.
Es klagt ein Ehepaar aus Bayern,
das vom Steuerzahlerbund unter-
stützt und vom Rechtsanwalt Michael
Sell vertreten wird. Dass Sell Prozess-
bevollmächtigter ist, gibt dem Verfah-
ren eine besondere Bedeutung: Er
führte bis zum vergangenen Herbst
die Steuerabteilung im Bundesfinanz-
ministerium.
Der Zeitpunkt der Klage parallel
zum Kabinettsbeschluss dürfte kein
Zufall sein. Sell kennt das Politikge-
schäft, er war sechseinhalb Jahre Lei-
ter der Steuerabteilung, die meiste
Zeit unter Wolfgang Schäuble (CDU).
Auch unter Scholz blieb er zunächst,
bevor dieser ihn im September in
den einstweiligen Ruhestand schick-
te. Sell zeigte Verständnis, schrieb in
einer Abschiedsmail, es beginne die
Arbeit an „Gesetzgebungsvorlagen,
die die politische Handschrift der
neuen Hausleitung tragen“.
Schon damals war absehbar, dass
der konservative Steuerfachmann
und der SPD-Minister beim Soli ande-
re Vorstellungen haben. Das bestätigt
sich nun mit der Klage. Sell, der mitt-
lerweile als Anwalt und Steuerbera-
ter bei der Kanzlei Seitz arbeitet, hat
dabei die Unterstützung eines weite-
ren Soli-Kritikers – Reiner Holznagel.

„Für uns ist klar: Der Soli ist nicht
mehr verfassungsfest“, sagte Holzna-
gel dem Handelsblatt. „Mit unserer
Musterklage engagieren wir uns ge-
gen den zu späten Soli-Ausstieg.“
Das Gesetz von Scholz sieht vor,
dass der Soli ab 2021 für 90 Prozent
der Steuerzahler wegfällt, weitere 6,
Prozent werden teilweise entlastet,
3 ,5 Prozent müssen ihn vorerst kom-
plett weiter zahlen. Die Einnahme-
ausfälle 2021 würden 9,8 Milliarden
Euro betragen – etwas mehr als die
Hälfte des Gesamtaufkommens.
Die Klage von Sell und Co. richtet
sich nicht direkt gegen Scholz’ Ge-
setz, sondern gegen den Umstand,
dass der Soli im kommenden Jahr
überhaupt noch erhoben werden
soll. Daran gibt es juristische Zweifel,
weil der Solidarpakt II Ende 2019 aus-
läuft. „Die Politik hat den Soli immer
mit den Finanzhilfen für die neuen
Länder verknüpft. Weil diese zum
Jahresende auslaufen, hat auch der
Soli keine Legitimation mehr“, kriti-

siert Holznagel. „Wir wollen, dass die
Politik ihr jahrzehntealtes Verspre-
chen einlöst und den Soli schon 2020
komplett und für alle abschafft!“
Deshalb hat Holznagels Verband
Steuerzahler gesucht, die gegen ihren
Vorauszahlungsbescheid vorgehen,
wie das Ehepaar aus Bayern, das be-
reits einen entsprechenden Bescheid
des Finanzamts hat. Sell verweist in
der Klageschrift auch auf Aussagen
von Scholz, die im Handelsblatt zitiert
wurden: „Wenn es um die komplette
Abschaffung des Solis geht, lasse ich
gern mit mir reden, solange wir im
Gegenzug die Einkommensteuer für
die Topverdiener entsprechend erhö-
hen“, hatte Scholz den teilweisen Er-
halt des Zuschlags begründet. In der
Klageschrift heißt es: „Dies bedeutet,
dass der Solidaritätszuschlag nach
2020 nicht mehr der Finanzierung ei-
nes ohnehin nicht begründeten Son-
derbedarfs des Bundes, sondern als
zweite Einkommensteuer in Form ei-
ner sogenannten weiteren Reichen-

steuer außerhalb des Einkommen-
steuertarifs dienen soll.“ Ein „Form-
Missbrauch“ des Soli.
Der Steuerzahlerbund sieht diese
Klage als Pilotprojekt, stellvertretend
für alle Steuerzahler. Er will sie bis
vor das Verfassungsgericht bringen.
Scholz hat sich hingegen immer
überzeugt gezeigt, dass die Erhebung
des Solis auch nach 2020 noch ver-
fassungskonform sei. Allerdings sieht
man auch im Finanzministerium die
juristischen Risiken. Der Gesetzent-
wurf, den das Kabinett am Mittwoch
beschlossen hat, wurde gegenüber
der der Fassung von vor zwei Wo-
chen noch einmal deutlich erweitert.
„So fällt auf, dass zusätzliche Argu-
mente aufgenommen wurden, wieso
die beabsichtigte Änderung beim So-
lidaritätszuschlag verfassungskon-
form sei“, sagte der Ökonom Frank
Hechtner von der TU Kaiserslautern.
„Der Bund hat weiterhin einen
wiedervereinigungsbedingten zusätz-
lichen Finanzierungsbedarf “, heißt
es nun im Gesetz. So gebe es etwa bei
der Rentenversicherung oder beim
Arbeitsmarkt „überproportionale
Leistungen aus dem Bundeshaushalt
für die ostdeutschen Bundesländer“.
Zudem wird nun hervorgehoben,
dass es nach dem Teil-Aus im Jahr
2021 noch „einen späteren vollständi-
gen Abbau“ geben werde. Konkret
beschrieben wird dieser aber nicht.
Dass nur eine kleine Gruppe von
Topverdienern den Soli vorerst kom-
plett weiter zahlen soll, wird mit so-
zialen und ökonomischen Erwägun-
gen begründet. Von einer Abschaf-
fung für Spitzenverdiener würde „ein
deutlich geringerer konjunktureller
Impuls ausgehen“ als von der Entlas-
tung der niedrigen und mittleren Ein-
kommen, heißt es im Gesetzestext.

> Leitartikel Seite 12

Klage


Allianz gegen den Soli


Ausgerechnet der frühere Steuerabteilungsleiter des Bundesfinanzministeriums klagt zusammen mit


dem Steuerzahlerbund gegen das Soli-Gesetz von Vizekanzler Olaf Scholz.


Entlastung der Steuerzahler durch ein neues Soli-Gesetz
Beispielrechnungen für verschiedene Bruttoeinkommen eines Single-Haushalts

Brutto-Jahres-
einkommen
20 000
30 000
50 000
70 000
90 000
00 000
0 000
20 000

67
194
487
879
1 324
1 555
1 786
2 017

Euro
Euro
Euro
Euro
Euro
Euro
Euro
Euro

Solidaritätszuschlag zurzeit*
0
0
0
0
848
1 347
1 786
2 017

€ € € € € € € €
€ € € € € € € €

Soli nach Reform*

HANDELSBLATT *Zahlen gerundet • Quelle: ifo-Mikrosimulationsmodell

9,


MILLIARDEN


Euro beträgt die
geplante Entlastung
beim Soli im Jahr
2021.

Quelle: BMF

Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019, NR. 161
8
Free download pdf