Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 ∙Nr. 199∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 4.90 ∙€4.


Flüchtlinge: Die Schweiz und die EUstehen vor Mammutaufgaben Seite 12


Neue italienische


Regierung ohne Lega


Innenminister Salvini hat sich verspekuliert


In derRegierungskrise in Italien
haben sich die Cinque Stelle und
der Partito Democratico geeinigt.
Der bisherigeRegierungschef
Conte soll nun eine neue
Regierung bilden. Matteo Salvini
hatte auf Neuwahlen gehofft –
vergeblich.

ULRIKESAUER,ROM

Italiens Präsident Sergio Mattarella
will den zurückgetretenenRegierungs-
chef Giuseppe Conte mit der Bildung
einer neuenRegierung aus CinqueStelle
und Partito Democratico (PD) beauftra-
gen. Er hat Conte nach Abschluss sei-
ner Konsultationen für diesen Donners-
tagmorgen zu sich bestellt.Damit ist der
Lega-Chef Matteo Salvini mit demVer-
such gescheitert, sofortige Neuwahlen
durchzusetzen. Er hatte dieKoalition
mit den Cinque Stelle vor dreiWochen
gesprengt und Anspruch auf die «volle
Macht» erhoben.
Der Entscheidung am Mittwoch-
abend waren zwei Sondierungsrunden
Mattarellas und tagelange, schwierige
Verhandlungen zwischen den Cinque
Stelle und ihren bisherigen Erzfeinden,
den Sozialdemokraten, vorausgegangen.
Am Mittwoch kündigte der PD-Chef
Nicola Zingaretti dann an, dass seine
Partei die Regierungsbildung durch
Conte unterstützen werde.Wenig später
bestätigte auch der Cinque-Stelle-Chef
Luigi Di Maio gegenüber dem Staats-
präsidenten, eine politische Einigung mit
dem PD über die Bildung einergemein-
samenRegierung erzielt zu haben. Die
neueKoalition werde sich ein «homo-
genes» Programm geben, sagte Di Maio.

Aufrechter Anti-Salvini


Vor der neuenRegierungliegen grosse
Herausforderungen. Italien droht in die
dritteRezession in nur einemJahrzehnt
abzurutschen.Der künftigeFinanzminis-
ter muss in denkommendenWochen
ein 30-Milliarden-Euro-Loch im Haus-
halt stopfen, um mit dem Etat für 2020
ein EU-Strafverfahren und einen erneu-
ten Anstieg der Zinsen auf italienischen
Staatsanleihen abzuwehren. Ohne eine
Ein igung nach Abschluss der zweiten
Konsultationsrunde am Mittwochabend
hätte Mattarella dasParlament aufge-
löst undNeuwahlen im Herbst angesetzt.
Der parteilose Rechtsprofessor
Conte geht in jedemFall gestärkt aus
der Regierungskrise hervor.Wie ein
Notar wachte der den Cinque Stelle
nahestehendeRegierungschef vierzehn
Monate lang über die Einhaltung des
Regierungsvertrags zwischen derrechts-
nationalistischen Lega und derFünf-
Sterne-Bewegung. Er galt als gesichts-
loserLangweiler ohneKonturen und
ohne eigene politische Ziele. Conte
liess den Innenminister Salvini walten,
beugte sich dessen Hegemonie und ge-
nehmigte sogar dessen menschenverach-
tende Migrationspolitik.
Dann brach Salvini vor dreiWochen
in einem Überraschungscoup mit dem
Koalitionspartner Cinque Stelle und

stürzte so mitten imAugust dieRegie-
rung. Erst jetzt gab sich Conte einen
Ruck und füllte erstmals seineRolle als
Regierungschef aus. In einer Ansprache
im Senatrechnete er so schonungslos
mit demrechtspopulistischenKurs des
Innenministers ab, dass er sich als auf-
rechter Anti-Salvini profilierenkonnte.
Conte verabschiedete sich mit der
Vorlage eines Regierungsprogramms,
dessen wichtigste Pfeiler eine proeuro-
päische Haltung Italiens und die Zuge-
hörigkeit zum nordatlantischen Bünd-
nis bilden. Er trat so dem Bestreben
Salvinis entgegen, Europas viertgrösste
Volkswirtschaft aus ihrerVerankerung
im Westen zu lösen und eine neue inter-
nationale Allianz mit dem Russland
Putins aufzubauen. Conte erwarb sich
damit vieleSympathien.

Unterstützung vonTrump


In den vergangenenTagen erhielt Conte
Unterstützung von vielen Seiten: vom
italienischen Staatspräsidenten, vom
Vatikan, von europäischenPartnern, ita-
lienischen Intellektuellen und Gewerk-

schaftern bis hin zum amerikanischen
Präsidenten DonaldTrump. Ihnen allen
liegt daran, Neuwahlen und damit eine
Regierung unterSalvini zu verhindern.
Ausgelöst hatte der Lega-Chef die
hochsommerliche Krise, als er zwei Mo-
nate nach seinemTriumph in den EU-
Wahlen plötzlich den Anspruch auf die
«volle Macht» erhob.Er stellte sehr
schnell fest, dass er sich mit dem Bruch
der Koalition verrannt hatte. Der Weg
zu Neuwahlen erwies sich von Anfang
an als unendlich verschlungener, als er
sich das ausgemalt hatte.Salvini, der am
8.August überheblich «freie Hand» ge-
fordert hatte, lenkte wenigeTage später
ein und biederte sich dem Cinque-Stelle-
Chef Luigi Di Maio zu einer Neuauflage
der implodiertenPopulistenregierung an.
Die Verhandlungen zwischen den
Cinque Stelle und demPartito Demo-
cratico gestalteten sich in den vergan-
genen sechsTagen äusserst schwierig.
Taktische Spielchen hinter denKulis-
sen, ständigeVolten und abgesagteTref-
fen liessen eine Überwindung derRegie-
rungskrise lange als wenig wahrschein-
lich erscheinen.
Die spektakulärsten Pirouetten voll-
führte Di Maio. Er hatte alsVizeregie-
rungschefzugelassen, dass Salvini seine
Partei in einem permanenten Katz-und-
Maus-Spiel demütigte und zermürbte.
Er leistete so in den vergangenen vier-
zehn Monaten der «Salvinisierung» der
ehemaligen ProtestbewegungVorschub
und erhielt dafür in der EU-Wahl Ende
Mai die Quittung: Die Cinque Stelle
verloren in einemJahr die Hälfte ihrer
Stimmen und stürzten auf17 Prozent
ab. Der intern stark umstrittenePar-
teichef kämpft nun um sein politisches
Überleben.

CLAIRE-LISE HAVET / SOCIÉTÉ DU GRANDPARIS

Paris baut


an seiner Zukunft


Das Metronetz im Grossraum Paris soll bis 2030 erweitert werden – auf insgesamt 420
Kilometer inklusive Ringbahn.Das 35 Milliarden Euro teure Megaprojekt hat aber
nicht nur eine verkehrstechnische und eine wirtschaftliche Bedeutung, sondern es soll
auch die strukturellen Unterschiede zwischen denVorortsgemeinden ausgleichen. Und
es istAusdruck des altenTraumesvon Gross-Paris. Wirtschaft, Seite 25

Johnson will Parlament ausschalten


Britischer Premierminister setzt lange Sitzungspause durch – mit Folgen für den B rexit


BENJAMIN TRIEBE


Mit einem in der modernen britischen
Geschichte beispiellosen Manöver
schränkt Premierminister BorisJohn-
son die Möglichkeiten derParlamen-
tarier zur Einflussnahme auf den Bre-
xit-Verlauf ein.Johnson hat am Mitt-
woch die Queen um eine Beendigung
der laufenden Sitzungsperiode desPar-
laments und um einen mehrwöchigen
Unterbruch vor der Neuaufnahme
der Sitzungen gebeten. Die Queen
gab diesemWunsch nach demTreffen
ih res Beratergremiums statt.Das Par-
lament wird damit in einem Zeitraum,
der zwischen dem 9. und dem 12. Sep-
tember beginnt und bis zum14.Okto-
ber dauert, nicht zusammenkommen.
Das lässt denVolksvertretern, die erst
kommendeWoche aus denParlaments-
ferien zurückkehren, sehr wenig Zeit,
mit Gesetzesinitiativen gegen den Ende
Oktober drohenden ungeregelten EU-
Ausstieg vorzugehen.


«Sehrbritischer Staatsstreich»


Die Verhängung der Sitzungspause ist
neben Neuwahlen die grösste politische
Waffe, die Johnson zurVerfügung steht



  • aber sie ist nicht für diesen Zweck
    gemacht. Entsprechend harsch fielen
    die Reaktionen aus. John Bercow, der
    Präsident des Unterhauses, sprach von
    einem Angriff auf den demokratischen
    Prozess und auf dieRechte derVolks-
    vertreter sowie von einem verfassungs-
    rechtlichenFrevel.Auch konservative
    Abgeordnete, unter ihnen der ehema-
    li ge Schatzkanzler Philip Hammond,
    nanntenJohnsonsVorgehen undemo-


kratisch. John McDonnell, hochrangiger
Vertreter der oppositionellenLabour-
Partei, bezeichnete es als «sehr briti-
sch en Staatsstreich». DemVernehmen
nach ist dieTaktik auch innerhalb der
Regierung umstritten.
Die Beendigung einer Sitzungsperi-
ode («Prorogation») ist üblicherweise
eine zeremonielleFormalität. Sie er-
folgte in jüngererVergangenheit meist
im März oder April,so d ass die Sit-
zungsperiode jeweils rund einJahr um-
fasste. In den vergangenenJahren war
der Prozess nie umstritten und mehr

ein Verwaltungsakt,weil der amtie-
rende Premierminister immer einePar-
lamentsmehrheit imRücken hatte. Es
ist der Queen gestattet, denWunsch
nach einer Prorogation abzulehnen,
falls derRegierungschefkeine Mehr-
heit im Unterhaus besitzt,seine Mehr-
heit infrage steht oder wenn er versucht,
auf dieseWeise ein Misstrauensvotum
abzuwenden. Solch einFall ist nachAn-
gaben des wissenschaftlichen Dienstes
des Parlaments aber in modernen Zei-
ten nieeingetreten. Auch gab eskeinen
Fall, in dem das Unterhaus sich gegen
den Unterbruch der Sitzungen wehrte.
Johnsons Regierungsbündnis hat im
Unterhaus eine Mehrheit von nur einer
Stimme. Ob diese Mehrheit einen No-
Deal-Brexit billigen würde,ist sehr frag-
lich. Das Parlament hat sich in diesem

Jahr in Abstimmungen bereits gegen
den ungeregelten EU-Austritt ausge-
sprochen, der allerdings nach gelten-
der Gesetzeslage Ende Oktober auto-
matisch eintritt.Vertreter der Opposi-
tionsparteien haben in dieserWoche
zudem erklärt, dass sie ein Misstrau-
ensvotum als letzte Möglichkeit zur
Verhinderung eines chaotischen Bre-
xits nicht ausschliessen.
Johnson hat mit seinemVorstossdie
Queen zueinem politischen Entscheid
gezwungen, was als Sakrileg gilt. Oben-
drein ist die vomRegierungschef er-
betene und von der Monarchin gebil-
ligteParlamentspause aussergewöhn-
lich lang, nämlich rund fünfWochen.
Laut demParlamentsdienst wurden die
Sitzungen in den vergangenen 40Jahren
nie länger als dreiWochen ausgesetzt,
in den meistenFällen nur für höchs-
tens eineWoche.Auch wennJohnson
versuchte, den Unterbruch mit der
Vorbereitung seines gemäss Eigen-
werbung umfassenden und bahnbre-
chendenRegierungsprogramms zu be-
gründen,ist die Brexit-Motivation doch
unübersehbar.

Folgt das Misstrauensvotum?

Vertreter mehrerer Oppositionspar-
teien haben um eineAudienz bei der
Queen gebeten, um dieLage zu be-
sprechen. Beobachter vermuten, dass
sie ein Misstrauensvotum im Unterhaus
nun doch zumersten Mittel ihrerWahl
machen und bereits in derkommenden
Woche auf die Agenda setzenkönnten.
Johnson sendet derweil ein eindeutiges
Signal, dass es ihm mit einem EU-Aus-
trittEnde Oktobertodernst ist.

Machtstreben in
höchster Konsequenz
Kommentar auf Seite 11

Der Präsident
spricht ein Machtwort
Kommentar auf Seite 11

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