Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 MEINUNG &DEBATTE


Boris Johnsons Plan zur Ausschaltung des Parlaments


Machtstreben in höchster Konsequenz

Was für einKontrast nach dem jüngstenRegie-
rungswechsel in Grossbritannien. DieRegie-
rungspartei ist noch dieselbe, das dominierende
politischeThema, der Brexit, ebenfalls.Auch im
Parlament sitzen noch dieselben Abgeordneten.
Doch diePolitik desKönigreichs hat mit dem
Amtsantritt von BorisJohnson eine ganz andere
Richtung und Qualitätangenommen.Die vor
einem Monat gestürzteTheresa May hatte sich im
Gestrüpp der Interessengegensätze undWider-
sprüche rund um den EU-Austrit t verirrt in ihrem
irrigen, aber aufrichtigen Bestreben, es möglichst
vielenrecht zu machen. Mit BorisJohnson ist
das pure Gegenteil an der Downing Street ein-
gezogen. Erkönnte nicht geradliniger und rück-
sichtsloser auf das eine Ziel zurasen: sein eigenes
politisches Überleben zu sichern.
Denn genau diesem Zweck dient der am
Mittwoch angekündigte Plan des Premierminis-
ters, das Parlament für mehr als einen Monat zu
schliessen, kaumist esnäch ste Woche aus der


Sommerpause zurückgekehrt.Damit wird den
Abgeordneten kaum mehr Zeit eingeräumt, um
gesetzliche Massnahmen gegen den vonJohnson
für Ende Oktober mit «koste es, was es wolle»
angekündigten EU-Austritt zu erheben. Der-
zeit sieht dieRechtslage einenAustritt zu die-
sem Datum vor.Wenn dieRegierung das nicht
ändern will und dasParlament nicht kann,wird es
dazukommen.Der knallharte Brexit ohneein die
weiteren Beziehungen definierendesAustrittsab-
kommen mit der EU steht damit vor derTür.
Warum willJohnson den Brexit unbedingt
bis Ende Oktober über die Bühne bringen? Die
Reaktionen vonJohnsons Kritikern vom Mitt-
woch geben die Antwort. DerTory-Rebell und
führende Brexit-Kritiker Dominic Grieve drohte
sogleich,dieses dreisteVorgehen werde den Sturz
desPremierministersherbeiführen.Genau das
will dieser auch.Am 14.Oktober willergemäss
dem Plan dieKönigin sein neuesRegierungspro-
gramm verlesen lassen. Darin wird er zahllose
wohlklingendeWahlkampfversprechungenma-
chen. Bei den wohl in derWoche darauf folgen-
den Abstimmungen dürfteJohnsonsRegierung,
die bloss noch über eine Mehrheit von einem Sitz
verfügt, scheitern. Neuwahlen fänden dann aber
erst im November statt – nach dem Brexit.Genau
das ist notwendig, damitJohnson mit grösserer

Sicherheit auf eine neue Mehrheit hoffen kann.
Denn dann ist diekonkurrierende BrexitParty,
die einzig zum Zweck des EU-Austritts gegrün-
det worden war, nicht mehr nötig. JohnsonsTories
dürfen dann auf das Überlaufen der derzeit laut
Umfragen rund15 Stimmenprozente der Brexit
Party hoffen. Dies ist eine zwingendeVorausset-
zung für einenWahlsieg, der die MachtJohnsons
erhalten würde.
Johnsons Kalkülkönnte durchaus aufgehen.
Zwargibt es jetzt viele empörte Stimmen und
Proteste. Es ist von Missbrauch,Verfassungsbruch
und vonRechtsklagen dieRede.Auch dürfte
Grossbritannien nach dem vertragslosen Brexit
zuerst einmal in erhebliche wirtschaftliche und
logistischeTurbulenzen geraten. DochJohnsons
dramatischer Machtgalopp hat auch viele Bewun-
derer. Ob er wirklich denVerfassungsgrundsätzen
widerspricht, wird wohl noch über Jahre hinaus
Juristen und weniger dieWähler beschäftigen.Si-
cher ist: Er bringt demLand nach dreiJahren er-
müdender Brexit-Wirren endlichKlarheit. Nach
einem Schlussstrich unter dem Brexit-Drama seh-
nen sich viele. Die Opposition ist dagegen weiter-
hin zerstritten und kann sich nicht auf eine über-
zeugendeVariante des EU-Austritts einigen. Die
Aussicht auf endlos weitergehende Brexit-Quere-
len ist auchkeine attraktive Alternative.

Regierungskrise in Italien


Der Pr äsident spricht ein Machtw ort

Italiens Präsident Sergio Mattarella hat entschie-
den.Nicht vorgezogene Neuwahlen soll es geben,
sonderneine neueRegierung, gestützt auf eine
neueKoalition im bestehendenParlament.Da-
mit durchkreuzt der Präsident fürs Erste die for-
sche Strategie desRechtspopulisten Matteo Sal-
vini,der auf sofortige Neuwahlen dringt, um dann
die Regierung zu übernehmen. Salvini droht mit
Protesten im ganzenLand, falls er in die Opposi-
tion geschickt wird.
Der Allianzwechsel von Gelb-Grün zu Gelb-
Rot soll einen politischen Neubeginn ermög-
lic hen.Dem zurückgetretenen Ministerpräsi-
denten Giuseppe Conte obliegt es, in Koali-
tio nsverhandlungen einRegierungsprogramm
auszuarbeiten und eineRegierungsmannschaft
zusammenzustellen. Mattarella will, dass der
Regierungschef dieseAufgabe selbst wahrnimmt
und nicht bloss wie bisher alsGehilfefungiert,der
die Wünsche zweierVizeregierungschefs erfüllt.


Ob die angebahnteRegierungsbildung gelingt,
ist ungewiss. Die beiden neuenRegierungspart-
ner in spe haben sich bisher gegenseitig heftig be-
fehdet. Beide Parteien agieren zudem aus einer
Position der Schwäche:Laut den Umfragen hat
Salvinis Lega derzeit am meistenRückhalt in der
Bevölkerung.
Seit demAusbruch der neuesten, schweren
Regierungskrise hat Mattarella den politischen
Akteuren seinenKurs vo rgegeben. Er hat klar-
gemacht, dass dieVerfahren derrepräsentativen
Demokratie in derVerfassung geregelt sind und
dass er diesenRegeln Nachachtung verschaffen
will. Zwar hat der Staatspräsident ein eher zere-
monielles Amt, doch in einerRegierungskrise
fällt ihm eine entscheidendeRolle zu.Nur er und
niemand sonst kann dasParlament auflösen und
vorgezogene Neuwahlen anordnen, nur er kann
eine Regierung ein- oder absetzen.
Mattarella hat daran erinnert, dass dasPar-
lament 2018 für eine volle Amtsdauer von fünf
Jahren gewählt wurde; auchSalvini kann die Ab-
geo rdneten nicht einfach nach Hause schicken.
Und der Präsident beharrt darauf, dass zuerst das
bes tehendeParlament als legitimeVolksvertre-
tung denVersuch zur Bildung einer neuenRegie-
rung unternimmt. Er betont dabei, dass diese auf

eine solide Mehrheit imParlament gestützt sein
müsse; sie soll möglichst die begonnene Legisla-
tur zu Ende bringen.
Mit Mattarella erweist sich einmal mehr ein
Präsident Italiens als institutioneller Anker im
politischen Gewirbel. Man erinnert sich an sei-
nen Vorgänger Giorgio Napolitano, der Ende
2011 beherzt dieRegie übernahm, als dasLand
vor dem Staatsbankrott stand. Mit demRegie-
rungswechselvon Silvio Berlusconi zu Mario
Monti wurde damals die eskalierende Kriseent-
schärft.Auch diesmal droht institutionelle Insta-
bilitätdie ohnehin gegebene finanzielle Instabi-
lität gefährlich zu verstärken.
Tag fürTag zeig en dieFieberkurven der
Finanzmärkte an, wie gross oder klein dasVer-
trauen der Anleger in Italien und dessenPoli-
tiker ist. Seit der Bildung derPopulistenregie-
rungverharrt der «Spread» (der Risikozuschlag
für italienische gegenüber deutschen Staats-
anleihen) imFünfjahresvergleich auf deutlich
erhöhtem Niveau. Zuletzt führte Salvinis hoch-
sommerlicher Überraschungscoup kurz zu Hek-
tik, doch inzwischen scheinen sich die Anleger
fürs Erste einigermassen beruhigt zu haben.Das
ist in erster Linie der ruhigen Hand Mattarellas
zu verdanken.

Bundesrat verschärft die Vorgaben für den Klimaschutz


Visionäre Realpolitik gefordert

«Netto null bis 2050» – mit diesen wenigen Buch-
staben gibt der Bundesrat die «Wir schaffen das»-
Paroleheraus,nachderdieKlimapolitiknunausge-
richtetwerdensoll.MitdemPariserKlimaabkom-
men hatte sich die Schweiz darauf verpflichtet,
den Ausstoss derTreibhausgase bis 2030 zu hal-
bieren und die Emissionen bis 2050 um 70 bis 85
Prozent zu senken. Schon das war ambitiös und
wurde vom nationalenParlament und den Kanto-
nen nicht einmal in Ansätzen umgesetzt. Mit der
neuenVorgabe,bis2050nichtmehrTreibhausgase
auszustossen, als natürliche und künstliche Spei-
cher aufnehmenkönnen,setzt sich der Bundesrat
ein noch ehrgeizigeres Ziel.Laut neuen Erkennt-
nissendesWeltklimaratsmüssedieglobaleErwär-
mung auf 1,5 Grad begrenzt werden, um irrever-
sible Schäden zu verhindern.Die Schweiz als ver-
letzliches Alpenland sei demTemperaturanstieg
besonders ausgesetzt und habe deshalb ein exis-
tenziellesInteresseamSchutzdesKlimas.Undsie


habeals hochentwickeltes, innovativesLand auch
besteVoraussetzungen, die Ziele zu erfüllen, be-
gründete Umwelt- und Energieministerin Simo-
netta Sommaruga dieParole.Alles richtig, doch
man muss sich fragen,was die Deklamation eines
solchen Ziels bewirken kann.
Sommaruga spricht von einem «indikativen
Ziel», also einerAbsichtserklärung, der keine un-
mittelbarenVerpflichtungen folgen, die aber der
Bevölkerung und derWirtschaft denWeg weist.
Die Ansage setze Anreize und biete Planungs-
sicherheit, wenn es darum gehe, in der Energie-
wirtschaft,derIndustrie,derLandwirtschaft,beim
Verkehr oder den Gebäudeheizungen möglichst
rasch in Klimamassnahmen und in die Dekarbo-
nisierung zu investieren.Jeder, der sich danach
ausrichtet,soll dieGewissheithaben, dass er auf
dem richtigenWeg ist.Das ist zwar gut gemeint,
abereinerechtnaive Vorstellung,wieinderPolitik
etwas in Gangkommt.Solche Ziele sind wie ferne
Sterne,diebestenfallsderNavigationdienen.Und
für dieRegierungen allerLänder sind sie ein pro-
bates Mittel, weit weg von denRealitäten ihre
Aktivitäten und ihreErnsthaftigkeit zu demons-
trieren.OhnekonkreteMassnahmenaufdemhar-
ten Pflaster derWirklichkeit sind hochfliegende
Ziele jedoch nurVisionen ohneWirkung.

Der Tatbeweis,dass die Schweiz die globale
Klimakrise ernst nimmt, muss in derRealpolitik
erbracht werden und bedeutet harte politische
Arbeit. Der begonnene Umbau der Energiever-
sorgunghin zu erneuerbaren Energienbedeutet
eine Herkulesaufgabe. Er steckt voller Zielkon-
flik te zwischenVersorgungssicherheit, Umwelt-
schutz undWirtschaftlichkeit, die gelöst werden
müssen. Die proklamierte Dekarbonisierung des
Verkehrs und der Gebäudeheizung ist ebenfalls
ein Gewaltsakt, der von vielen Akteuren finan-
zielle Opfer fordert. DieParole von «Netto null
bis 2050» aus dem Bundesrat mag visionär tönen
und bei manchen denWillen zum Handeln an-
fachen.Aber gefordert ist nun ernsthaftespoliti-
sches Handwerk, um die tauglichen Instrumente
zu finden und mehrheitsfähig zu machen: beim
CO 2 -Gesetz im Herbst imParlament mit griffi-
gen Massnahmen besonders beimVerkehr, in
den Kantonen mit der Umsetzung derVorschrif-
ten für Gebäudeheizungen,in der Energieversor-
gung mit besseren Rahmenbedingungen für die
erneuerbare Stromproduktion. Darauf kommt es
nun an.Oderwie Cicero sagte:«Aller Eifer, etwas
zu erreichen, nutzt freilich garnichts, wenn du das
Mittel nichtkennst, das dich zum erstrebten Ziel
trägt und leitet.»

WELTSPIEGEL


Teile und herrsche


in Biarritz


Von ULRICH SPECK

Er hat es wieder getan:Auf dem G-7-Gipfel in
Biarritz hat DonaldTrump erneut dazu
aufgerufen,Russland zur G-7, die dann wieder
die G-8 würde, einzuladen. Und Emmanuel
Macron hat, zumindest zwischen den Zeilen,
eine gewisse Offenheit dafür gezeigt, Italien
ebenfalls. Japan war demVernehmen nach
neutral. Die Ablehnungsfront wurde angeführt
von Angela Merkel und dem britischen
Premierminister BorisJohnson.
Über die MotiveTrumps lässt sich trefflich
spekulieren. Eine plausibleVariante ist, dass
der amerikanische Präsident in Zeiten einer
fundamentalenAuseinandersetzung mit China
verhindern will, dass sich Moskau zu eng an
Peking anschliesst – und die beiden somit
einen antiamerikanischen Block bilden. Die
Einladung zur G-7/8 wäre dann eine
«Karotte»: einVersuch,Russland aus der
Front mit China herauszubrechen und es
hineinzulocken in das westliche, von den USA
geführteLager. Interessanterweise argumen-
tierte Macron imVorfeld des G-7-Gipfels in
diese Richtung. Er lud nicht nur Putin zu
Vorgesprächen ein, er erklärte auch, dass man
Russland einbinden müsse, um zu verhindern,
dass die BeziehungenRusslands zu China
enger würden.
Anders als Deutschland, das in prinzipieller
Opposition zuTrump steht, bleibtFrankreich
flexibel. ObgleichTrump sichtbar die Nase
rümpft bei vielem, was Macron von sich gibt,
ist der französische Staatschef unermüdlich
bemüht, den amerikanischen Präsidenten zu
umgarnen. In Sachen Iran etwa dient sich
Frankreich ungefragt alsVermittler an,
Macrons diplomatischer Berater ist schon
mehrfach nachTeheran gereist, um die
gegenwärtige Zuspitzung zu entschärfen.
Macrons Gratwanderung zwischen Anbiede-
rung und oppositioneller Selbstbehauptung ist
mühsam und oft undankbar. Doch alsRealist
arbeitet er mit derWelt, wie sie ist, und ist
ständig bemüht, Brücken zwischenWashing-
ton undParis zu bauen, um französische
Interessen in der Zusammenarbeit mit den
USA voranzubringen.
Wie sich Macron am G-7-Tisch in derFrage
einer russischenTeilnahme an einer G-7/
verhalten hat, darüber kursieren unterschied-
licheVersionen. Eine davon lautet, dass
Macron sich fürTrumps Argumente offen
gezeigt habe. Ein andere, dass er mit Merkel,
Johnson und dem kanadischen Premierminis-
ter Justin TrudeauRusslandsTeilnahme an die
Bedingung geknüpft habe, dass der Ukraine-
Konflikt gelöst werden müsse.
Wie dem auch sei: DasArgument, man
müsseRussland enger an Europa und an die
USA binden, um China zu isolieren, wird man
in Zukunft öfter hören.Für das aussenpoliti-
sche Amerika auch jenseits vonTrump ist
China die Schlüsselherausforderung der nächs-
ten Jahre, und auch Europa hat sich zuneh-
mend skeptisch gegenüber einemLand
positioniert, das nicht nur ökonomisch und
technologischrasant voranschreitet, sondern
sich auch geopolitisch alsWeltmacht positio-
niert, nicht jedoch im Namen freiheitlicher
Prinzipien, sondern als zunehmend totalitäre
Macht zu Hause und als Stütze autoritärer
Herrschaftsformen in anderenLändern.
In der Logik dieser geopolitischen
Dynamik liegt es,den Gegenspieler zu
schwächen. Und angesichts des engeren
Zusammenrückens von China undRussland
kommt Moskau neu in denFokus westlicher
Strategen.Wäredabloss nicht der Ukraine-
Konflikt, dannkönnteman mitRussland ins
Geschäftkommen. Der Gedankeaneinen
Neuanfang mitRussland wird–trotz allen
schlechten Erfahrungen mit solchen Be-
mühungeninden letztenJahren–inder
neuen, von derAuseinandersetzung mit
Chinageprägten geopolitischen Grosswetter-
lage wiederKonjunktur haben.

UlrichSpeckist Senior Visitin g Fellow am German
Marsha ll Fu nd in Berlin.
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