Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

14 SCHWEIZ Donnerstag, 29. August 2019


Blaue Augen verraten den Täter

Künftig sol l die Polizei aus einer DNA-Spur auf das Aussehen von Kriminellen schliessen dürfen


LARISSA RHYN


Wenn die Ermittler an einemTatort
DNA-Spuren sicherstellen, beispiels-
weise aus einem Blutstropfen, dürfen
sie heute daraus nur ein persönliches
Merkmal bestimmen: das Geschlecht.
Dabei wäre es möglich, aus der DNA
auch auf Haar-,Haut- oderAugenfarbe
sowie auf das Alter und die biogeografi-
sche Herkunftdes Täters zu schliessen.
Das könnte derPolizei helfen, einVer-
brechen aufzuklären, wenn die Ermitt-
lungen sonst ins Leere laufen.
Nun will der Bundesrat diese «er-
mittlungstechnische Lücke» schliessen
und den Strafverfolgern die sogenannte
Phänotypisierung künftig erlauben, wie
er am Mittwoch mitgeteilt hat. Ein voll-
ständiges Phantombildkönne man zwar
nicht erstellen, sagte Justizministerin
KarinKeller-Sutter vor den Medien. Zu-
sammen mit weiteren Ermittlungsergeb-
nissen sei es abermöglich, ein schärferes
Bild der gesuchtenPerson zu erhalten.
Damitkönne die Phänotypisierung hel-
fen, Täter zu überführen und Unschul-
dige zu entlasten.


Fall Emmen gab denAnstoss


Den Anstoss zu diesem Schritt hat das
Parlament gegeben: FDP-National-
ratAlbertVitali (Luzern)reichte nach
einemVergewaltigungsfall in Emmen
einen entsprechendenVorstoss ein.Da-
mals hatten die Ermittler DNA-Proben
von 300Männern genommen,der Täter
konnte jedoch nicht identifiziert werden.
Die Phänotypisierung hätte es einerseits
erlaubt, den Kreis derVerdächtigen ein-
zuschränken, andererseits hätte sie der
Polizei möglicherweise weitere wert-
volle Hinweise geliefert.
DasParlament verlangt, dass die
Massnahme nurrestriktiv angewendet
wird, sprich beiVerbrechen wieVer-
gewaltigung oder Mord.Laut demVor-
schlag, den der Bundesrat jetzt in die
Vernehmlassung gibt, soll die Schwelle
bei Straftatbeständen mit Freiheits-
strafen von mindestens dreiJahren lie-
gen.Vergewaltigung und Mord gehören
dazu, aber auch etwa schwererRaub
oder Geiselnahme. Das Ergebnis der
Phänotypisierung soll nur für denkon-
kretenFall verwendet und nicht in der
DNA-Datenbank gespeichert werden.


Vorhersagen sind fehleranfällig


In wie vielenFällen die neue Ermitt-
lungsmethode jährlich angewandt wer-
denkönnte, kann das Bundesamt für
PolizeiFedpol nicht beziffern. Sie soll
jedoch dieAusnahme bleiben und bei-


spielsweise dann zum Einsatzkom-
men, wenn beimAbgleich derTatort-
spuren mit der Schweizer DNA-Daten-
bankCodiskeinTr effer erzielt werden
kann – und der Täter entsprechend
noch nicht polizeilich erfasst ist. In
jedemFall müsste eine Phänotypisie-
rung von der Staatsanwaltschaft ange-
ordnet werden.
Die Methode ist umstritten – auch,
weil sie erst in wenigenLändern ange-

wandt wird. Bisher haben sich jedoch
vor allem linkeParlamentarier kritisch
gezeigt, wobeiDatenschutzbedenken im
Vordergrund standen und Phänotypisie-
rungals Eingriff in die Grundrechte ge-
sehen wurde. Skeptiker warnen auch vor
RacialProfiling und bemängeln, dass die
Vorhersagen fehleranfällig seien und die
Ermittler in dieIrre führenkönnten. So
wäre es problematisch, wenn diePoli-
zei aufgrund der DNA-Analysen nur

nach einem blonden Mann Mitte vier-
zig fahnden würde, während der Täter
dunkelhaarig und deutlich jünger wäre.
Dass der Täter seinAussehen verän-
dern kann,indem er sich beispielsweise
die Haare färbt, erschwertdieLage für
diePolizei weiter. «Die Grenzen der
Methode sind bekannt»,räumte auch
Keller-Sutter ein. Siekönne aber dazu
beitragen, die Ermittlungen effizienter
zu machen.

Wie genau dieVorhersage ist, hängt
stark vom Merkmal und von dessen
Ausprägung ab:Während blaue und
dunkelbrauneAugenfarben mit bis zu
95-prozentiger Sicherheit bestimmt
werdenkönnen, sind Grün oder Grau
schwieriger zu eruieren. Bei blon-
den Haaren ist dieVorhersage nur zu
69 Prozent genau, und auch beim Al-
ter gibt es Einschränkungen: Der Täter
muss zwischen 20 und 60Jahre alt sein,
damit sich das Alterauf vier bis fünf
Jahre genau bestimmen lässt. Bei der
biogeografischen Herkunft kann nur
dieWeltregion bestimmt werden, aus
der ein Täter stammt – beispielsweise
Europa, Ostasien oderAfrika.

Auf Verwandtschaft prüfen


Neben der Phänotypisierung sind im
DNA-Profilgesetz weitere Änderun-
gen vorgesehen. Unter anderem will
der Bund klareRegeln schaffen, wann
ein DNA-Profil aufVerwandtschaft ge-
prüft werden kann.Dabei wirdkeine
direkte Übereinstimmung mit den Spu-
ren amTatort gesucht, sondern geprüft,
ob einVerwandter des mutmasslichen
Täters bereits im nationalenRegis-
ter erfasst ist. Gemäss einem Bundes-
gerichtsentscheid darf diese Methode
heute bereits angeordnet werden, was
sich die Strafverfolgungsbehörden
schon infünfzehnFällen zunutze ge-
macht haben.
Wie die Methode helfen kann,kom-
plexeFälle aufzuklären, zeigt ein Bei-
spiel aus Frankreich. Nachdemeine
24-Jährige vergewaltigt und ermordet
worden war, nahm diePolizei DNA-Pro-
ben von Männern, die in der abgelege-
nenRegion lebten, wo dieTat passierte.
Diese ergabenkeinenTr effer. Erst als
der DNA-Abgleich breiter erfolgte,
alsokein identischesProfil mehr gesucht
wurde, stiess diePolizei auf einen Mann
aus derRegion, der polizeilich erfasst
war.Esstellte sich heraus,dass dessen
Sohn kurz nach derTat gestorben und
daher nicht getestet worden war. Der
Leichnam wurde exhumiert, und nach
einem DNA-Test war klar: DerTote war
der Täter.
Als drittes Element der Gesetzesrevi-
sion will der Bundesrat zudem dieRe-
geln, wie lange DNA-Daten einesVer-
urteilten im nationalenRegister gespei-
chert werden dürfen, vereinfachen. Heute
muss dieAufbewahrungsfrist oft nach-
träglich angepasst werden, beispielsweise
weil jemand früher aus der Haft entlas-
sen wird. In Zukunft soll im Urteil eine
definitiveFrist festgelegt werden.Davon
versprechen sich vor allem die Kantone
weniger administrativenAufwand.

Forensiker sichern Spuren nacheinemMordfall imTessin. FRANCESCA AGOSTA / KEYSTONE

Der WWF erteilt den Hochschulen schlechte Noten


Die Umweltorganisation mahnt zu mehr Nachhaltigkeit in Lehre und Forschung


JÖRGKRUMMENACHER


ImVergleich zu einer ersten, 20 17 er-
folgten Umfrage haben die meisten
Schweizer Hochschulen gemässeiner
neuen vom WWF inAuftrag gegebenen
StudieFortschritte erzielt – wenn auch
nur in bescheidenemAusmass.Als er-
freulich wertet der WWF, dass sich heute
fast alle der zwanzig Schweizer Hoch-
schulen für eine nachhaltige Entwick-
lung einsetzen, sei dies imRahmen von
Veranstaltungen oder durch dieFörde-
rungvon entsprechendem Engagement
der Studentenschaft.
Die vomForschungsbüroB,S, S. Basel
erstellte Studie untersuchte dasVerhal-
ten der Universitäten und Hochschulen
aufgrund von zehn Kriterien. Diese be-
trafen etwa deren Nachhaltigkeitsstrate-
gien, Prozesse und personelle Struktur.
DieDaten zur Erhebung, die zwischen
Februar und Mai 20 19 erfolgte, liefer-
ten die Universitäten und Hochschulen
selbst – einige wenige wie die Univer-
sitätLuzern verzichteten allerdings auf
eineTeilnahme.


In denAugen des WWFreichen die
erzieltenFortschritte nicht.Das Engage-
ment sei mangelhaft, so dass an den wich-
tigsten Schweizer Bildungsinstituten wei-
terhin grosser Handlungsbedarf bestehe


  • insbesondere in denKernbereichen
    LehreundForschung.«Fürdie nachhal-
    tige Entwicklung sind die Hochschulen
    wichtig»,sagt der WWF-CEOThomas
    Vellacott. Dies gelte für ihreFunktion
    «als Bildungsstätten für jährlich Zehn-
    tausende künftigerFach- undFührungs-
    kräfte, alsForschungsstätten und Innova-
    tionstreiber,als Weiterbildungsanbieter
    und nicht zuletzt als glaubwürdige Bera-
    tungsinstanzen undVorbilder».


Kein «Vorreiter»


Die Unterschiede zwischen den einzel-
nen Instituten sind gemäss Studie gross.
Nur etwa die Hälfte hat Nachhaltigkeits-
ziele in ihren Strategien verankert. Uni-
versitäre Hochschulen werdeninsge-
samt deutlich besser bewertet alsFach-
hochschulen. Dabei schneidetkeine der
zwanzig Hochschulen mit einem «sehr

gut» ab.Vier werden als gut eingestuft,
was ihnen das Prädikat «ambitioniert»
einbringt. Es sind dies dieETH Zürich,
an der vor allem die Studiengänge in
Umweltnaturwissenschaften hervor-
gehoben werden, sowie die Universitä-
ten Bern, Neuenburg undLausanne. Die
Universität Zürich findet sich im oberen
Mittelfeld. Als «untätig» oder «intrans-
parent» wertet die Studie am Schluss der
Rangliste die Universitäten Luzern und
Freiburg,die Universität und dieFach-
hochschule imTessin sowie die Kalai-
dos-Fachhochschule.
Auf Anfrage zeigt sich dieETH
Zürich erfreut, aber nicht überrascht
über ihr gutes Abschneiden.«Wir be-
grüssen es, wenn der WWF oder andere
Institutionen die Nachhaltigkeitsleis-
tung von Hochschulen kritisch hinter-
fragen und von aussen beurteilen»,sagt
Christine Bratrich, Leiterin derETH-
Stabsstelle Sustainability. Durch Steuer-
gelder finanzierte Hochschulen hätten
eine besondere gesellschaftlicheVerant-
wortung. DieETH veröffentlicht des-
halb seit über zehnJahren einen Nach-

haltigkeitsbericht.Wie der WWF sieht
auch dieETH nochVerbesserungs-
potenzial. «Die Aktivitätenkönnten
besser gebündelt undSynergien noch
besser genutzt werden»,sagt Chris-
tine Bratrich. «Auch bezüglich unserer
intern verursachten Flugmeilenkönnen
und wollen wir noch besser werden.»

Luzern reagiertverschnupft


Weniger erfreut über ihreRangierung
zeigt sich die Universität Luzern, die an
der Studie nicht teilgenommen hat. «Dar-
aus den Schluss zu ziehen, die Universi-
tät Luzern sei auf dem Gebiet untätig,
ist schlicht falsch», hält ihrKommunika-
tionsbeauftragter LukasPortmann fest.
Die UniversitätLuzernverfolge aber die
Strategie,sich ausschliesslich an hoch-
schulspezifischenRankings zu beteili-
gen. Nachhaltigkeit sei jedenfalls auch
für die Universität Luzern ein wichtiges
Thema, das inForschung und Lehre fest
verankert sei.Portmann zählt etwa das
Energieleitsystem auf, das den Stromver-
brauch stark vermindert habe, derVer-

kehrsmix der Uni-Angehörigen habe
einen sehr hohenÖV-Anteil,und es gebe
keineParkplätze für Uni-Angehörige.
Mit seiner Studie nimmt der WWF
Bezug auf die vom Bundesrat formu-
lierten Ziele zur Nachhaltigkeit. Dem-
nachist diese ein integraler Bestandteil
des SchweizerSystems von Bildung, For-
schung und Innovation (BFI) und soll
überFörderinstrumente im In- undAus-
land gestärkt werden. Leider, so moniert
der WWF, sei dieseVorgabe bisher
weder in den BFI-Botschaften des Bun-
desrats noch durch die Leitungsgremien
der Hochschulenkonkretisiert worden.
Erfreulich sei immerhin, dass sie sich in
den Akkreditierungsvorgaben für Hoch-
schulen wiederfänden: Gemäss diesen
muss berücksichtigt werden, dass «die
Aufgaben im Einklang mit einer wirt-
schaftlich, sozial und ökologisch nach-
haltigen Entwicklung erfüllt werden».
Der WWF fordert nun «ein überzeu-
genderes Engagement der verantwort-
lichen Leitungspersonen und ambitio-
niertere strategische Ziele für die nach-
haltige Entwicklung».

Absprachen von Verdächtigen verhindern


ryn.·Die DNA hat den Bundesrat am
Mittwoch noch anderweitig beschäftigt:
Er hat eine Botschaft zur neuen Straf-
prozessordnung vorgelegt.Darin wird
unter anderem festgelegt, wann Ermitt-
ler DNA-Profile erstellen dürfen.Künf-
tigsoll dies nicht nur im direkten Zusam-
menhang mit einem laufendenVerfahren
möglich sein, sondern auch, damit die
Polizei mögliche zukünftigeTaten aufklä-
ren kann. DiePolizei muss aberkonkrete
Anhaltspunktefür solcheTaten haben.
Daneben sind diverse weitere Ände-
rungen der Strafprozessordnung vorge-

sehen, unter anderem beim sogenannten
Teilnahmerecht.Bundesrätin KarinKel-
ler-Sutter gab ein Beispiel, warum dies nö-
tig sei: Die Mitglieder einer Diebesbande
sollten nicht erfahren, welche Geschichte
ihreKomplizen den Ermittlern imVer-
hör auftischen – da sie ihreAussagesonst
daranangleichenkönnten. Heute haben
Verdächtige dasRecht, an allen Beweis-
erhebungen teilzunehmen. DiesesRecht
will der Bundesrat nun einschränken.
In derVernehmlassung sorgten die
Pläne für Kritik, vor allem, weil dieses
Recht als Gegengewicht zur starken

Stellung der Staatsanwaltschaft in der
Schweiz verstanden wird. Der Bundes-
rat macht daher einenKompromissvor-
schlag: Bis einVerdächtiger selbst aus-
gesagt hat, soll er nicht an anderen Ein-
vernahmenteilnehmendürfen, danach
jedoch schon.
Als dritter zentraler Punkt soll bei
der geplantenRevision die Stellung der
Opfer und ihrer Angehöriger im Straf-
verfahren gestärkt werden. So sollen
sie beispielsweise auch bei Strafklagen
die Möglichkeit haben, unentgeltliche
Rechtspflege zu erhalten.
Free download pdf