Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

18 ZÜRICH UNDREGION Donnerstag, 29. August 2019


Im Gemeinderatgeht der Hickhackumdie richtigeFormulierung einer Interpellationweiter. ENNIO LEANZA/KEYSTONE

Ein vorläufiger Sieg der Korrekten

Der Zürcher Gemeinderat weist den nicht gendergerecht formulierten Vorstoss einer SVP-Politikerin ab


Nach dem Büro hat nun auch


dierot-grüne Mehrheit des


Parlaments eine Interpellation


von Susanne Brunner abgelehnt,


weil darin Männer undFrauen


sprachlich nicht gleich behandelt


werden. Brunner will dieFrage


nun vom Bezirksrat klären lassen.


ADI KÄLIN


Man muss die derzeitigenVorgänge im
Gemeinderat nicht unbedingt historisch
nennen; dafür sind sie zu unbedeutend.
Einzigartig aber sind sie schon. Es war
das erste Mal, dass eine nicht gender-
gerecht formulierte Interpellation zwei-
mal vom Büro zurückgewiesen wurde.
Und es dürfte das erste Mal gewesen
sein, dass der gesamte Gemeinderat
darüber entscheiden musste, ob einVor-
stoss doch noch eingereicht werden darf.


«ImZweifel für die Freiheit»


SVP-Gemeinderätin Susanne Brun-
ner hatte denWirbel ausgelöst, weil sie
darauf beharrte, die Interpellation in
ihrer Art und in ihrem Stil zu verfas-
sen. Eigentlich hatte sie ja vom Stadt-
rat nur wissen wollen, warum er ein un-
bewilligtesFestival im Pfingstweidpark
toleriert habe. Das Büro des Gemeinde-
rats liess dieFrage aber nicht zu, weil
Brunner nicht jedes Mal von «Besetze-
rinnen und Besetzern» oder von «Beset-
zenden» schrieb. Selbst als dieSVP-Ge-
meinderätin in einer zweitenVersion an-
merkte, Frauen undPersonen, die sich
keinem Geschlecht zuordnen wollten,
seien mitgemeint, blieb das Büro bei sei-
nem Entscheid.
ImRat legte Brunner nun einen ful-
minantenAuftritt hin. «Ich lehne es ab,
mirVorschriften zu machen zu meiner
Wortwahl», schmetterte sie in den Saal.
«Leben wir eigentlich in einemLand, in
dem dieRede nicht mehr frei ist und ich
Wörter benutzensoll, die ich sonst nicht
brauche?»Länder, in denen es so funk-
tioniere,seienkeine Demokratien. Im
Moment mache man ihr erstVorschrif-
ten zu ihrenVorstössen. Aber vielleicht
werde ihr derRatspräsident künftig das
Mikrofon ausschalten, wenn sie neben
der männlichen nicht auch die weib-
licheForm verwende. Gleichstellung sei


ihr durchaus wichtig und diese sei auch
bereitsrealisiert,sagte Brunner unter
feinem Gelächter derrot-grünenRats-
seite. Sprachliche Diktate aberkönnten
sicherkeinen Beitrag an die Gleichstel-
lung leisten.«Votieren Sie im Zweifel für
dieFreiheit», appellierte sie an die Mit-
glieder desRats.

Die Regelneinhalten


Von rot-grüner Seite war mehrmals zu
hören, dass es lediglich darum gehe,ob
man dieRegeln desRats einhalten wolle
oder nicht. In denAusführungsbestim-
mungenzur Geschäftsordnung des Ge-
meinderats steht, dass Männer und
Frauen gleich behandeltwerden müssen.
Dieser Punkt existiert allerdings erst
seit gut einemJahr, und er wurde noch
nichtallzu häufig bemüht.Helen Gla-
ser (sp.) fand, mankönne über dieseRe-
geln durchaus diskutieren. Im Moment

seien sie aber in Kraft, und man müsse
sie befolgen.
Die (wenigen)Frauen, die dasWort
ergriffen,erinnerten aber auch daran,
dass die sprachliche Gleichbehandlung
eine Errungenschaft sei, auf die man
nicht mehr verzichten wolle. Kathrin
Prelicz (gp.) etwa sagte:«Wir haben
fünfzigJahre dafür gekämpft, und ich
willkeinenRückschritt erleben.»Aus-
gerechnet ein FDP-Politikerkonnte Pre-
licz beruhigen: Severin Pflüger sagte,
dass es sich bei der sprachlichen Gleich-
behandlung um einen gesellschaftlichen
Tr end handle, der unumkehrbar sei. Die
rot-grüne Seite lasse sich von Susanne
Brunner unnötig provozieren.
ErnstDanner (evp.) wollte unter-
scheiden zwischenVerwaltung undPar-
lament. GewählteParlamentarierinnen
undParlamentarier sollten nicht ge-
zwungen werden, die offizielleAmts-
sprache zu verwenden. Solange sie

nicht unanständigsei, solltensie durch-
aus die eigene Sprache oder dieAus-
drucksweise ihrerPartei verwenden dür-
fen. Stephan Iten (svp.) drückte es noch
deutlicher aus: «Schreibt das doch euren
Leutenvor», sagte er Richtungrot-grü-
nerRatsseite. «Aber lasst uns inRuhe.»
SeinWunsch wurde nicht erfüllt: Der
Rat lehnte Susanne BrunnersVorstoss
mit 77 zu 35 Stimmen ab.

Brunner gibt nicht auf


DieSVP-Frau, die auchfürden National-
rat kandidiert, will dies nicht auf sich be-
ruhen lassen:Kurz nach dem Entscheid
teilte sie mit, dass sie mit einemRekurs
an den Bezirksrat gelangen werde. Sie
sei überzeugt, dassdieRechtsgrundlage
für dieRückweisung ihrer Interpellation
ungenügend sei.Wenn nötig, werde sie
durch alle Instanzen gehen – bis ans Bun-
desgericht,sagte Brunner.

Aus dem Jammertal zum Höhenflug


Vor vier Jahre n gehörte die GLP zu den Wahlverlierern, jetzt will sie wieder vierNationalratssitze erobern –mindestens


RETO FLURY


Die Äpfel stammenaus biologischem An-
bau, im Smoothie steckt ein Strohhalm
statteines Plastikröhrlis:DasRestaurant
Justus im Zürcher Kreis7, wohin die kan-
tonalen Grünliberalen zur Eröffnung des
Wahlkampfs eingeladen haben, ist nicht
nur das Stammlokal ihrer Nationalrätin
Tiana Angelina Moser. Es fügt sich auch
reibungslos in die Selbstinszenierung der
Partei alsVertreterin des urbanen, gebil-
deten und hippen Publikums. Oder in den
Worten des Co-Präsidenten NicolaFors-
ter: Es passe zu ihrem «Groove».


Ins Zentrum ihresWahlkampfs rü-
cken die Grünliberalen Mosers Stände-
ratskandidatur,mit der dieFraktions-
chefin im Bundeshaus das Männer-
DuoDanielJositsch (sp.) undRuedi
Noser (fdp.) attackiert. Als erstes An-
liegen nanntesie die bessereVertretung
der verschiedenen Bevölkerungsgrup-
pen. Es sei eineTr adition, dass der Kan-
ton ZüricheinenMann und eineFrau
in den Ständerat schicke,sagte Moser.
Als 40-jährigeFrau undMutterwürde
sie sicher andereAkzente setzen als der
«Durchschnittsständerat».

Nicht nur Umweltpolitik


Als weiteren Grund erwähnte Moser
die politische Blockade in ihrenKern-
themen, dem Klima- und Umweltschutz.
Die auslaufende Amtsperiode sei in die-
ser Hinsicht eine «Null-Legislatur» ge-
wesen. Das CO 2 -Gesetz habe man ab-
lehnen müssen, weil es einenRück-
schritt bedeutet hätte, aus demJagd-sei
ein «Abschussgesetz» gemacht worden,
und dieReduktion derPestizide gehe
zu langsam vonstatten – trotz einem
Aktionsplan, der auf einenVorstoss aus
ihrerFeder zurückgeht.
Die politische Grosswetterlage ist
für die Grünliberalen günstig. ImWahl-
kampf wollen sie aber nicht nur mit
ihrer Umweltpolitik punkten. Zu ihren

Forderungen gehören auch mehrWett-
bewerb und Innovation, eine Öffnung
gegenüber Europa sowie eine offenere,
liberalere Gesellschaft, wozu etwa eine
Ehe für alle oder die Individualbesteue-
rung gehören.
Im Nationalrat will die Zürcher GLP
in ihrem Gründungskanton mindestens
vier Sitze erobern; so lautet dasWahl-

ziel. Derzeit verfügtsie über dieseAn-
zahl Mandate.Eines wurde aber erst
imFrühling von SP-ÜberläuferDaniel
Frei in dieFraktion getragen, und dieser
tritt nicht mehr an. Hinter den Bisheri-
genTiana Angelina Moser und Martin
Bäumle kandidieren auf der Liste Co-
Präsidentin Corina Gredig,der ehema-
ligeRegierungsratskandidatJörgMäder,
Kantonsrätin Judith Bellaiche und
Michael Zeugin, der neueFraktionschef
im Kantonsparlament.
Vor vierJahren musste die GLP auch
in ihrer Hochburg Zürich eine schwere
Niederlage einstecken und verlor einen
von vier Sitzen.Wenig späterkeimten
ersteVersuche zur Erneuerung,zum
Beispiel mit der Gründung des «Polit-
labors», das neueFormen der politi-
schen Beteiligung erproben sollte.Als

Forster und Gredig Ende 20 18 das Co-
Präsidium übernahmen, lautete eine
ihrer Ansagen, dass die Zürcher GLP
eine «Mitmach-Politik» betreiben solle.
Sei es dieses Credo, sei es der Klima-
Diskurs oder diePositionierung zum
EU-Rahmenabkommen: Die Kanto-
nalpartei setzte zu einem Höhenflug an,
der sich nicht nur imWahlsieg imFrüh-
ling niederschlug, sondern sich auch in
einem starken Zuwachs anParteimit-
gliedern zeigte.Seit AnfangJahr sei
die Mitgliederzahl etwa um einenVier-
tel gewachsen, sagteForster,auf rund
11 00Personen.Im selben Zeitraum sei
die Zahl derSympathisanten auf rund
2400 gestiegen.

Grosser Andrang auf Listen


Gross war nach Angaben der GLP-
Spitze auch der Andrang auf die Listen,
wobei die Bewerbungen über ein On-
line-Formular eingereicht werdenkonn-
ten und dieFederführung nicht mehrbei
den Bezirksparteienlag. Er sei über-
zeugt, dass diesesVerfahren mehrere
Leute zu einer Kandidatur animierte, die
sich sonst nicht gemeldet hätten, sagte
der Co-Präsident derPartei. Neben der
Hauptliste gibt es noch drei Unterlisten.
Für den gesamtenWahlkampf – Stände-
rat inklusive – hat diePartei ein Budget
von rund 30 0000 Franken.

Nationalratswahlen


vom 20. Oktober 20 19

VERWALTUNGSGERICHT

«Marsch


fürs Läbe»


findet statt


Stadtratmuss Route für Anlass
der Abtreibungsgegner ausarbeiten

LINDAKOPONEN

Eigentlich wollte der Zürcher Stadtrat
den Demonstrationsumzug derAbtrei-
bungsgegner verhindern. Ginge es nach
dem Sicherheitsdepartement, hätte sich
der «Marsch fürsLäbe» auf eine stehende
Kundgebung auf demTurbinenplatz be-
schränken sollen.Als Begründunggab die
Behörde Sicherheitsbedenken durch an-
gekündigte Gegendemonstrationen an.
Bei denrechtskonservativen Organi-
satoren war die Empörung gross. Nun
hat dasVerwaltungsgericht ihnen zu-
mindest teilweiserecht gegeben und
die Stadt Zürich damit beauftragt, bis
zum 9. September eineRoute für den
Umzug auszuarbeiten. Die Appellwir-
kung einer stehendenKundgebung sei
mit einer solchen des ursprünglich bean-
tragten Demonstrationszugs durch die
Zürcher Innenstadt nicht vergleichbar,
heisst es hierzu in der Medienmitteilung.

Freude beidenOrganisatoren


Noch ist unklar, wo die Abtreibungs-
gegner am Ende durchmarschieren wer-
den. ImJuni hatte der Zürcher Statt-
halter Mathis Kläntschi (gp.) eine Be-
schwerde der Organisatoren gutgeheis-
sen und die Bewilligung für einen
Umzug über den Limmatplatz und die
Langstrasse und zurück zumTurbinen-

platz für die Schlusskundgebung erteilt.
Daraufhin hatte wiederum der Zür-
cher Stadtrat beim kantonalenVerwal-
tungsgericht eine Beschwerde gegen das
Urteil des Statthalters eingereicht.
Beatrice Gall, Mediensprecherin von
«Marsch fürsLäbe», freut sich über den
Entscheid desVerwaltungsgerichts: «Ich
rechne damit, dass die Stadt der Appell-
wirkung entgegenkommt und uns nicht in
menschenleere Nebenstrassen verbannt.»
Angst um ihre Sicherheit habe siekeine.
Die Erfahrung aus den vergangenenJah-
ren habe gezeigt, dass diePolizei durchaus
in derLage sei, den Marsch zu schützen.
DasVerwaltungsgericht sieht hier die
Stadt Zürich in der Pflicht. Gehe die Ge-
fahr vonAusschreitungen nicht von der
zu bewilligendenKundgebung aus,sei
das Gemeinwesen primär verpflichtet,
dieKundgebung imRahmen des Mög-
lichen vor der befürchtetenFremdeinwir-
kung zu schützen.Dass die Stadt Zürich
hierfür nicht über genügende polizeiliche
Kräfte verfüge, sei nicht ersichtlich.

Jungsozialistensindempört


Wie der Stadtrat am Mittwochvormittag
mitteilt,will er denEntscheid nicht an-
fechten.Robert Soós, Mediensprecher
des Sicherheitsdepartements,sagt auf An-
frage,man freue sich darüber, dass das
Verwaltungsgericht ein Zeichen zuguns-
ten der Gemeindeautonomie gesetzt und
dem Sicherheitsdepartement die Mög-
lichkeit eingeräumt habe, dieRoute selbst
festzulegen. «Eine stehendeKundgebung
wäre uns aber nach wie vor lieber.»
DerVerwaltungsratsentscheid stösst
auch bei denJungsozialisten auf wenig
Gegenliebe.Diese hatten bereits vor
Wochen eine Gegendemonstrationfür
den14.September angekündigt. DieJuso
sei empört über den Entscheid, christ-
licheFundamentalisten durch Zürich zie-
hen zu lassen, schreibt diePartei in einer
Medienmitteilung.«Dashat nichts mehr
mit Meinungsfreiheit zu tun,sondern ist
pure Hetze», wird Nathan Donno, Co-
Präsident derJuso Stadt Zürich, zitiert.
Bisher ist noch unklar,ob die Gegen-
demonstration bewilligt wird.

Der Stadtrat hätte die
Ve ranstaltung auf eine
stehende Kundgebung
beschränken wollen.

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