Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 WIRTSCHAFT 23


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Paris will bis 2030 eine Ringbahn bauen


und das Metronetz der St adt massiv ausweitenSEITE 25


China arbeitet an einem sozialen Kreditsystem für Firmen


und will nicht konforme s Verhalten bestrafenSEITE 27


Versteckspiel in der Altersvorsorge


Mit der vo rgeschlagenenReform wird für viele Bürger bald jeder zweite AHV-Franken eine Subvention sein


HANSUELI SCHÖCHLI


Die Leistungen der AHV nehmen lau-
fend zu, solange die Lebenserwartung
steigt, ohne dass dasRentenalter mit-
zieht. In den letzten zwanzigJahren stieg
die Lebenserwartung in der Schweiz für
65-Jährige um rund3Jahre auf über 21
Jahre. In dieserPeriode stieg das ordent-
lichePensionierungsalter derFrauen
von 62 auf 64, doch insgesamt erhöhte
dieVerlängerung der Lebenserwartung
dieRentenleistungen ohne Berücksich-
tigung erhöhterJahresrenten um etwa
10%. Hinzukommt der Druck der De-
mografie,da die geburtenstarkenJahr-
gänge bald inRente gehen. ImJahr
2000 entfielen auf einePerson ab Alter
65 noch etwa vier 20- bis 64-Jährige, in
zwanzigJahren dürften es laut Bundes-
szenarien nur noch etwas über zwei sein.


Einseitige Reform


Das drohendeFinanzloch der AHV lässt
sich im Prinzip auf zwei Arten stopfen:
mehr Einnahmen und wenigerAus-
gaben. Ein «ausgewogenes»Reform-
paket mag beide Elemente mit je etwa
hälftigem Gewicht enthalten, doch da-
von ist diePolitik weit entfernt. Dies be-
stätigt nunder Bundesrat, der am Mitt-
woch seine Botschaft zur AHV-Re-
form 21 ansParlament verabschiedet
hat. Die von derRegierung ursprüng-
lich geplanteVorlage wurde zweigeteilt.
Den erstenTeil, der Zusatzgelder für
die AHV via Lohnbeiträge und Bun-
dessubventionen von etwa2Mrd.Fr.
proJahr bringt, hat dasVolk diesen Mai
zusammen mit derReform derFirmen-
steuern gutgeheissen.Auch der nun vor-
geschlagene zweiteTeil setzt vor allem
auf Zusatzeinnahmen, via Erhöhung der
Mehrwertsteuer um 0,7 Prozentpunkte.
Und der wichtigste Sparposten – die
Erhöhung desRentenalters derFrauen
von 64 auf 65 – wird durch «Kompensa-
tionszahlungen» gleich wieder um einen
Drittel bis die Hälftereduziert.
Die beiden genanntenTeile der AHV-
Revision verbessern laut Bundesrech-
nungen dieAHV-Jahresrechnung im
Jahr 2030 um total etwas über5Mrd.Fr.
Über 92% dieserVerbesserung entfallen
auf Mehreinnahmen, während dieAus-


gabensenkungen nur rund 400 Mio.Fr.
ausmachen. Diese einseitigeReform
hat grosseFolgen für dieLastenvertei-
lung zwischen den Generationen: Jestär-
ker die AHV nur über Mehreinnahmen
saniert wird, desto höher sind dieLas-
ten für dieJüngeren, denn diese müs-
sen die zusätzlichen Steuern und Lohn-
beiträge noch viel länger zahlen als die
Älteren. Ökonomen desForschungs-
zentrums Generationenverträge der
UniversitätFreiburgi.Br. und der UBS
haben die ungleicheLastenverteilung
in Zahlen gefasst. Die Zusatzbelastung
aus den zwei erwähntenReformteilen
beträgt demnach für 0- bis 40-Jährige je
25000 bis 30 000 Fr., für 50-Jährige etwa
15000 Fr. und für über 55-Jährige weni-
ger als 10 000 Fr. (vgl. Grafik).
Für dieVolksparteien ist eine sol-
cheLastenverteilung politisch attrak-
tiv. Denn etwa 60% der Urnengänger
sind über 50-jährig, dieLasten für die
Jungen sind ziemlichgut versteckt, und
ohnehin liegt die Altersvorsorge den
Jüngeren naturgemäss noch fern.Aus-
gabenbremsen, etwa über das Einfrie-

ren desrealenRentenniveaus und die
Erhöhung des ordentlichenRenten-
alters, würden dagegen alle Generatio-
nen ähnlich treffen (ausser dieRent-
ner)und sind zudem in derKostenver-
teilung transparenter. Genau deswegen
sind solche Massnahmen unpopulär
und für diePolitik unattraktiv.

Zahl einen Franken,nimm zwei


Der Subventionsanteil der AHV wird
mit den besagtenReformen noch wei-
ter steigen. Die AHV nahm 20 18 gut
43 Mrd.Fr. ein.Davon entfiel etwa ein
Viertel auf Direktsubventionen des
Bundes. Die AHV-Beiträge auf Löhne
über etwa 10 0000 Fr. entsprechen fak-
tisch Steuern und damit AHV-Sub-
ventionen, weil sie für die Betroffenen
keineRentenerhöhung bringen. Solche
Beiträge machen proJahr schätzungs-
weise 5 bis6Mrd.Fr. aus. Mit den Zu-
satzgeldern aus demPaket Firmensteu-
ern/AHV und aus der nun vorgeschla-
genenReform fliessen nochmals 3 bis
4Mrd.Fr. proJahr an Subventionen in

die AHV. Grob geschätzt, dürften somit
bald etwa 43% der gesamten AHV-Ein-
nahmen auf Subventionen entfallen.
Klammert manjene rund15% der
Versicherten aus,deren AHV-Bei-
träge auf hohen Einkommen dieRen-
ten der anderen subventionieren,lässt
sich grob abschätzen, dass für das Gros
derVersicherten im Mittel künftig etwa
die Hälfte der AHV-Rente einer Sub-
vention entspricht.KeinWunder also,
dass ein Sozialwerk mit demVerspre-
chen «Zahle einenFranken ein und be-
komme zwei heraus» weitüberdiepoli-
tische Linke hinaus populär ist.
Doch jemand muss die Zeche zah-
len. Der einzelne Bürger kann kaum
abschätzen, wie viel von seinen Steuer-
geldern in die AHV fliesst. Die wichtigs-
tenFinanzquellen der Bundessubven-
tionen für die AHV sind die Mehrwert-
steuer und die direkte Bundessteuer.
Zurdirekten Bundessteuer trägt die
untereEinkommenshälfte wegen der
Steuerprogression nur etwa 2% bei,
während die Mehrwertsteuer deutlich
weniger ungleich verteilt ist.

DerBundesrat belohnt Frühpensionierungen


fab. Bern·DieAHV benötigtrasch eine
Reparatur, sonst wird sie baldJahr für
Jahr Defizite in Milliardenhöhe anhäu-
fen.Am Mittwoch hat der Bundesrat den
nächstenVersuch einer AHV-Reform an
dasParlament überwiesen. DieEckwerte
sind unverändert.Vor allem will er die
Mehrwertsteuer um 0,7 Prozentpunkte
erhöhen. Zudem soll neu auch fürFrauen
Rentenalter 65 gelten, wobei der Bundes-
rat diesen Schritt in den ersten zehnJah-
ren stark mildert:In dieser Zeit werden
dieRenten vonFrauen, die sich vorzei-
tig pensionieren lassen, weniger gekürzt.
Und jeneFrauen, die länger arbeiten, er-
halten einen Zuschlag. Darüber hinaus
verspricht der Bundesrat,miteinem flexi-
blerenRentenbezug setze er Anreize, da-
mit mehr Erwerbstätige mindestens bis
zum offiziellen Rentenalter arbeiteten.
Doch just in diesem zentralen Punkt
gibtes Widerspruch.Der Arbeitgeber-
verband wirft dem Bundesrat vor, seine
Reform gehe zu wenig weit, teilweise
sei sie sogarkontraproduktiv.Die Kri-
tik richtetsich primärgegen die neuen

Ansätze beiFrühpensionierungen:Wer
heute die AHV zweiJahre vor Errei-
chen des ordentlichenRentenalters be-
zieht, dessenRente wird dauerhaft um
13,6 Prozent gekürzt.Künftig soll die
Kürzung nur noch7, 7 Prozent betragen,
womit sich mehr Senioren eine vorzei-
tigePensionierung leistenkönnten.
Wie kommt der Bundesrat auf diese
Idee? Immerhin steigt die Lebenserwar-
tung weiter, und allenthalben wird ein
Fachkräftemangel prophezeit. Die Be-
gründung des Bundesrats istrein mathe-
matisch. Ob jemand seineRente zwei
Jahre länger bezieht, fällt heute weni-
ger ins Gewicht als früher, weil durch die
höhereLebenserwartung die gesamte
Dauer desRentenbezugs zugenommen
hat. Bei einemRentenbezug von total 20
Jahrenrechtfertigen die zweiJahre nicht
mehr dieselbeKürzung wie bei einem Be-
zug von 15 Jahren. Die Ansätze seien in
den letzten zweiJahrzehnten nie aktua-
lisiert worden, betont der Bundesrat. In
derselben Logik schlägt er vor, die Zu-
schläge zureduzieren, die erhält, wer

über dasRentenalter hinaus arbeitet. Der
Effekt ist derselbe: Es lohnt sich weni-
ger, länger zu arbeiten. Die Arbeitgeber
haben einen anderen Plan, umWerktätige
länger im Arbeitsmarkt zu halten:Wer
über 65 hinaus arbeitet, soll von einem
Freibetrag von 20 00 Franken im Monat
profitieren.Auf diesemTeil des Lohns
sindkeine AHV-Beiträge fällig. Heute
liegt derFreibetrag bei 1400 Franken.
Taktisch spannend ist eine weitere
Frage: Soll dasParlament die AHV-Re-
form und die Erhöhung der Mehrwert-
steuerrechtlich miteinander verknüpfen?
Der Bundesrat siehtkeine solcheKopp-
lung vor.Somit wäre es möglich, dass
die Steuererhöhung auch dann in Kraft
tritt, wenn dasVolk die AHV-Vorlage
mitFrauenrentenalter 65 ablehnt – oder
umgekehrt.Vor allem dieWirtschaft ver-
langteineVerknüpfung. DieVorlage zur
Mehrwertsteuerkommt automatisch an
die Urne, bei der AHV-Vorlage istdazu
einReferendum notwendig. Dieses zeich-
net sich aber ab: Die Gewerkschaften sind
gegenRentenalter 65 für alle.

Je stärker die AHV nur über Mehreinnahmensaniertwird, desto höher sind die Lasten für dieJüngeren. ADRIAN BAER/NZZ

Maschinenbau


steht vor


turbulenter Zeit


Aufträgegehen konstant zurück


DOMINIK FELDGES

In der Schweizer Maschinen-, Elektro-
und Metallindustrie (MEM-Sektor) be-
schleunigt sich der Abwärtstrend.Laut
den jüngsten Zahlen des Branchenver-
bandsSwissmem ist im zweiten Quar-
tal dieses Ja hres derAuftragseingang
um einenFünftel eingebrochen. Im ers-
tenJahresviertel hatte sich derRückgang
noch auf 5% beschränkt.Mittlerweile sin-
ken die Bestellungen in diesem bedeuten-
den Schweizer Industriesektor seit einem
Jahr ununterbrochen.Damit präsentiert
sich ein ähnliches Bild wie in Deutsch-
land, wo dieRede von einer inzwischen
zwölfmonatigen «Industrierezession» ist.
Anders als im nördlichen Nachbarland,
hat sich das verschlechterte Marktumfeld
in der Schweiz aber noch nicht negativ auf
dieMitarbeiterzahlen ausgewirkt. Ende
des ersten Quartals 20 19 waren im hiesi-
gen MEM-Sektorknapp 323 000 Perso-
nenbeschäftigt.Dies entspricht einem Zu-
wachs von 2,6% gegenüber derVorjahres-
periode. Der Grund für diese Entwicklung
liegt vor allem darin, dassFirmen jüngst
beim Abarbeiten ältererAufträge noch
immer alle Hände voll zu tun hatten.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es
auch nicht, dass der branchenweite Um-
sa tzrückgang lautSwissmem im ersten
Semester 20 19 mit knapp 2% moderat
ausfiel.Während die Umsätze sich in den
kommenden Monaten ähnlich wie die
Exporte des MEM-Sektors (Abnahme
von 1% im ersten Halbjahr) stärker zu-
rückbilden dürften, erwartet der Bran-
chenverband bei den Neubestellungen
eine Bodenbildung. Swissmem-Präsident
Hans Hess hielt an einer Medienkonfe-
renz fest,dass angesichtsder jüngsten Er-
starkung desFrankens auf unter €1.10
für viele Betriebe die «Schmerzgrenze»
wieder erreichtsei. Gleichwohlrechnet
Hess im gegenwärtigen Umfeld nicht da-
mit, dass Schweizer Industrieunterneh-
men erneut Arbeitsplätze im grossen Stil
insAuslandverlagernwerden. Anders
als nach derAufhebung der Euro-Kurs-
untergrenze durch die Schweizerische
Nationalbank Anfang 20 15 seien viele
Firmen dieses Mal deutlich besser auf
«turbulente Zeiten» vorbereitet.
Zugleich warnte Stefan Brupbacher,
der neue Direktor vonSwissmem, Behör-
den und diePolitik indes davor, die Indus-
trie laufend weiteren Belastungen auszu-
setzen. Mankönne sichkeine weitereVer-
teuerung bei den Nebenkosten leisten.
Brupbacher wehrt sich auch gegen von
ihm als «übertrieben» eingestufte Lohn-
forderungen der Gewerkschaften.
«Reflexe», Seite 34

QUELLEN:UBS, UNI FREIBURG I. BR. NZZ Visuals/cke.


Vorallem die Jungenzahlen


Mehrbelastung in Franken bei Umsetzung
des Pakets Steuern/AHV und AHV 21


10 000 20 000 30 000

100

95

90

85

80

75

70

65

60

55

50

45

40

35

30

25

20

15

10

5

0

Alter

0

Mitbewährter
Anlagephilosophie.

WirhaltenWort.
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