Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 WIRTSCHAFT 25


Paris verdoppelt sein Metronetz
bisheriges Netz
(ohne RER)

neue
Metro
Anzahl Kilometer 219,9 200
Anteil rollstuhlgängig 30% 100%
Tiefster Bahnhof (Abbesses)36 m 52 m (Créteil-St-Maur)
Höchstgeschwindigkeit 80 km/h 100 km/h
Vollautomatische Linien 2 von 16 4 von 4

DerBau des GrandParis Express ist ein technischer,logistischer und menschlicher Kraftakt. C. CORNUT / SGP

Wo fängt Paris an, und wo hört es auf?


Die französische Hauptstadt dehnt ihr Metronetz massiv aus – und tr äumt davon, die grösste Metropol region Europas zu werden


Bis 2030 sollParis eine Ringbahn


bekommen – und ausserdem ein


doppelt so grosses Metronetz.


Das Projekt soll die Unterschiede


zwischen denBanlieues


ausgleichen. Doch ist es auch


Ausdruck des altenTr aumes


von Gross-Paris.


NINA BELZ, NOISY- LE-GRAND


Die Zukunft vonParis liegt unter der
Erde, in metertiefen Löchern. Über fünf-
zig gibt es derzeit davon, vor allem in
denVororten der französischen Metro-
pole. In Champs-sur-Marne zum Bei-
spiel ist dieBaustelle der neuen Metro
so gross, dass man von ihrem einen Ende
das anderenicht sehen kann. Über mehr
als einenKilometer umgeben Spanplat-
ten dieBaustelle. Dahinter:Baukräne,
Lastwagen, Hebekräne, Boxen für den
Aushub, Silos, zwei Bürocontainer.
An der Grenze zwischen Champs-sur-
Marne und der Nachbargemeinde Noi-
sy-le-Grand werden zwei Herausforde-
rungen auf einmal angepackt: Einerseits
wirdder bestehendeBahnhof des RER,
wie die S-Bahn im GrossraumParis ge-
nannt wird, unterirdisch ausgebaut.
Künftig sollen zwei zusätzliche Metro-
linien an diesenBahnhof führen – und
dort enden. Andererseits haben südlich
desBahnhofs dieTunnelbauarbeiten für
eine dieser Linien begonnen, die 15 Sud.


Ein ambitioniertes Projekt


In sechsJahren soll die Linie in Betrieb
genommen werden,aufeinem der ers-
ten Abschnitte einer Ringbahn, wie sie
Paris bisher gefehlt hat.Fast alleReisen
führen heute daher durch die Innen-
stadt, weshalb viele S- und U-Bahn-
Linien chronisch überlastet sind. Der
GrandParis Express, wie dieVäter des
Megaprojektes mit einem Budget von
35 Mrd. € denAusbau desPariser Nah-
verkehrs getauft haben, soll Abhilfe
schaffen. Er soll den Umfang des be-
stehenden Netzes verdoppeln, wobei
der überwiegendeTeil der neuen Linien
durch dieVororte verlaufen wird.Rund
20 0Kilometer Schienen werden verlegt
auf vier neue Linien,zwei bestehende
sollen verlängert werden. Die Züge wer-
den 68 neueBahnhöfe bedienen. Dies
soll nicht nur das bestehendeBahnnetz
entlasten. Die Projektleitung hofft, dass
eine bessere Anbindung auch Anreize
schafft, mit dem Zug statt mit demAuto
zu pendeln.
Während zwischen der Eröffnung
der ersten und der letzten Metrolinie im
Stadtzentrum gut sechzigJahre vergan-
gen sind, soll der GrandParis Express
in zwanzigJahren fertiggestellt werden.
Es war Emmanuel MacronsVorvorgän-
ger Nicolas Sarkozy, der 2009 dieVision
eines Gross-Parisaufbrachte und darauf


das Projekt ins Leben rief. Die Ambition
dahinter ist,Paris zum grössten Metro-
polraum Europas zu machen. SeitJah-
ren wetteifern dieFranzosen mit Lon-
don um Platz eins. Der geht, je nachdem,
wer dieDaten erhebt, an den einen oder
denanderen.
ImKonferenzraum der Société du
GrandParis (SGP) blickt nun Emma-
nuel Macron von derWand. Die SGP
ist eine öffentlichrechtliche Körper-
schaft, die imAuftrag des französischen
Staates das Grossprojekt plant und ver-
waltet,das Beschaffungswesen organi-
siertund dasVorhaben der Bevölke-
rung näherbringt. Bernard Cathelain
spricht fast nur in Superlativen, wenn er
das Projekt beschreibt, für dessen Ge-
lingen er als Mitglied des Direktoriums
mitverantwortlich ist: das grösste Infra-
strukturprojekt Europas, das dritt- oder
viertgrösste weltweit, einAushubvolu-
men von acht Cheops-Pyramiden und
insgesamt mehr als 130Baustellen.
Allein deshalb, sagt der Ingenieur, sei
der GrandParis Express eine Herausfor-
derung.Dazu kämen die Überraschun-
gen, die man trotz umfangreichen Stu-
dien imVorfeld nicht habekommen se-
hen. Etwa eine andere Bodenbeschaf-
fenheit, die verlange, dass man einen
Bahnhof doch tiefer lege als vorge-
sehen – 52 Meter unter die Erde. Und,
wie im vergangenenJa hr schon vom
Regierungschef persönlichkommuni-
ziert wurde, müssen bereits einigeVer-

zögerungen in Kauf genommen werden.
Doch am Ziel, bis 2030 das Netz fertig-
zustellen, wird festgehalten.
Cathelain erachtet auch dies als Her-
ausforderung. Denn obwohl man unter
Zeitdruck sei, müsse man daraufRück-
sicht nehmen, dass die meistenBaustel-
len in dichtbesiedeltem Gebietlägen.
Die Anwohner wollten alle die Metro,
aber sobald dieBaustellekomme und
Staub undLärm bringe,seien sie weni-
ger begeistert, sagt Cathelain. Bis der
Fortschritt für sie sichtbar wird, werden
Jahre vergehen.

ZwölfMeter proTag


In Champs-sur-Marne muss man rund
25 Meter in dieTiefe steigen. Dort, wo
dieTunnelbaumaschine namens Malala
vor fast einemJahr angefangen hat, sich
in südliche Richtung vorzuarbeiten, sind
bereits 1,6 KilometerTunnelentstan-
den. Es ist eine Umgebung, die Olivier
Böcklivertraut ist. Der Chef von Imple-
niaFrance hat am Gotthard-Basistunnel
mitgearbeitet und kann daher direkte
Vergleiche ziehen. Etwa dass es sich im
Pariser Untergrund leichter bohrt als im
Granitstein der Alpen.Dass derAushub
hier beinahe doppeltsoumfangreich sei
und sich ausserdem dieFrage stelle, was
man damit mache. In der Schweiz wurde
das Gestein zu Beton oder als Schüt-
tungsmaterial weiterverwertet. InParis
ist dies mit dem kalkigen, lehmigen und
sandigenAusbruchmaterial nicht so ein-
fach: Platz fürParks, die man mit lehm-
haltiger Erde anlegenkönnte, gibt es im
Grossraum der französischen Haupt-
stadt nicht. Und als Blumenerde lässt sie
sich auch nicht ohne weiteres verkaufen.
Es ist mitunter die Gotthard-Exper-
tis e,mit der sich rund zehn Schweizer
Unternehmen für das gigantische Pro-
jekt empfohlen haben. ImTunnel von
Noisy-le-Grand stellt Implenia zum Bei-
spiel jenen Experten, der die rund 100
Meter langeTunnelbaumaschine pilo-
tiert. Er überwacht die 1200 Sensoren
und schaut, dass der grosse «Bohrer»
in die richtige Richtung geht.Durch-
schnittlich 12 Meter bewegt sich Malala
amTag vorwärts und setzt nach und
nach die Betonsegmentplatten ein, so-
genannteTübbinge, die den ausgebro-
chenenTunnel sichern. Bis voraussicht-
lich Sommer 2020 wird sie 4,7 Kilometer
ausgebrochen haben und wird dann auf
eine andere Baustelle gebracht. Bis
EndeJahr werden auf denBaustellen
der neuenMetro rund 20Tunnelbau-
maschinen im Einsatz sein.
Beim SchweizerBau- undBaudienst-
leistungsunternehmen Implenia, das seit
2016 mit einerTochterfirma inFrank-

reich präsent ist, trägt dasPariser Metro-
projekt rund 75% zumgesamten Umsatz
derLändergesellschaft bei. Derzeit ist
ImpleniaFrance auf dreiBaustellen des
GrandParis Express präsent; zudem ist
sie an einerBetonsegmentfabrik betei-
ligt. Doch eskönnte noch mehr werden,
denn es werdennach und nachweitere
Arbeiten ausgeschrieben.Das Grosspro-
jekt habe dazu geführt, dass der bisher
von fünf grossen französischenFirmen
dominierte Hoch- undTiefbaumarkt ge-
öffnet worden sei, sagt Böckli.
Obwohl nochnicht direkt auf den
Baustellen tätig,ist auch das Schweizer
Ingenieurbüro Geste schon stark in das
Pariser Metroprojekt involviert. Die Er-
folgsquote bei denAusschreibungen sei
mit 40%recht gut, sagt Michele Mossi,

der Chef von Geste. Der Spin-off der
EPFL ist seit 20 16 mit einerTochter in
Frankreich präsent.Für den GrandParis
Express plant das Unternehmen mit
rund 70 Mitarbeitern die Belüftungs-
systeme für dieTunnel, das sogenannte
Schnittstellenmanagement sowie die
Sensoren und Signale derAutomatisie-
rungsanlage der Züge einer Linie sowie
in einem der Depots.Alle neuen Züge
derPariser Metro werden vollautoma-
tisch, das heisst ohne Lokführer, unter-
wegs sein.
Für Mossi ist der GrandParis Ex-
press ein «kolossales» Projekt, das auch
bezüglich Arbeitskräften zur Heraus-
forderung wird. Im Nahverkehr sei in
Paris seit Ende der1980erJahre nicht
mehr viel passiert. Und nun brauche es
auf einmal ganz viele qualifizierte Leute,
sagt Mossi.Für ihn stellt sich beiAus-
schreibungen inzwischen immer auch
dieFrage, ob man im Erfolgsfall die
Arbeit auch leistenkönne.

Sind Bahnhöfe Selbstläufer?


Allein auf denBaustellen arbeiten der-
zeit rund 5400Personen an der neuen
Metro. In naher Zukunft sollenes bis zu
15000 werden. Der GrandParis Express

soll aber nicht nur während derBau-
phase einJobmotor sein. Der Anspruch
der Projektleitung hat eine wirtschaft-
liche und eine soziokulturelle Dimen-
sion. Mit denBahnhöfen– nahezu jeder
wird von einem anderen Architekten
entworfen – sollesichauch die Gegend
um diese herum verändern, erklärt Ber-
nard Cathelain. Es werde viel einfacher
und bequemer, sich von A nach B zu be-
wegen, und vieleTr ansferswürden deut-
lich kürzer. Das habe dasPotenzial, die
Lebensumstände in der Metropolregion
zuverbessern.
Dabei meint er insbesondere den
Nordosten beziehungsweise den Os-
ten derKernstadt, der heute alsÖV-
Wüste gilt, da er wedermit der Metro
noch mit dem RER erschlossen ist – es
sind Gegenden, die auch für ihrehohe
Arbeitslosigkeit bekannt sind. Cathe-
lain sagt, es gebe um einigeBahnhöfe
bereits Projekte aus demKultur-, dem
Bildungs- oder dem Gesundheitsbereich
und natürlich für denWohnungsbau.
Dass ein Infrastrukturprojekt die
strukturellen Unterschiede zwischen
den östlichen und den westlichenVor-
ortsgemeinden ausgleichen kann, zwei-
feln gewisse Experten allerdings an. Sie
argumentieren, dass einBahnhof allein
nicht ausreiche, um eine Nachfrage nach
Büroräumen zu generieren.Das zeige
sich daran, dass es jetzt bereits Leer-
stände gebe, wo dieLage nicht gefragt
sei. Es sei vielmehr damit zurechnen,
dass sich die gegenwärtigen Geschäfts-
zentren wie etwaLaDéfense noch ver-
dichten würden. Derzeitkonzentriert
sich rund die Hälfte der rund 45 Mio.m^2
an Büroflächen auf das 8. Arrondisse-
ment vonParis sowie rund um die west-
lichenVororteLa Défense, Issy-les-
Moulineaux und Boulogne-Billancourt.
Auch die Nachfrage fokussiert in jüngs-
ter Zeit vor allem auf diese Gegenden.

Die napoleonischeVision


In dem gigantischen Infrastrukturpro-
jekt widerspiegelt sich auch die alte
Identitätsfrage, woParis anfängt und
wo es aufhört. Die Bewohner derKern-
stadt betonen gerne, dass alles, was aus-
serhalb der Ringautobahn liege, nicht
mehrParis sei. Sie tun dies meist im vol-
lenWissen darum, dass ein gewichtiger
Teil derWertschöpfung, die der französi-
schenHauptstadt zugeschrieben wird, in
der sogenannten «petite couronne», also
den unmittelbar anschliessendenVor-
orten, generiert wird. In der Gemeinde
Paris leben «nur»2,2 Mio. der rund 12,1
Mio. Einwohner der Region Ile-de-
France, die gemeinhin mit dem Gross-
raumParis gleichgesetzt wird. Hier wer-
den rund 30% des französischen Brutto-
inlandproduktserwirtschaftet.
Der GrandParis Express soll nach
der Idee seiner Erfinder den Stadthori-
zont erweitern.Vor dreieinhalbJah-
ren wurde wieder einmal einVersuch
unternommen, eine passende adminis-
trative Einheit dafür zu schaffen. Die
Métropole du GrandParis umfasst laut
demKonzept 131 Gemeinden mit ins-
ge samt7Mio. Einwohnern, ist also klei-
ner als dieRegion, die die französische
Hauptstadt umschliesst. Obwohl Emma-
nuel Macron kurz nach seinerWahl ver-
sprach, das Projekt voranzutreiben, ist
bisher nichts geschehen.KeinWunder,
zeichnen sich vielerortsKonflikte ab:
Sollen damit einige Départements ver-
schwinden? Ergibt es Sinn, dass der
Flughafen Roissy nicht dazugehört?
Macron ist nicht der Erste, der nach
einem neuen «Brand» für dieRegion
sucht. Bereits Napoleon III. sollvon
einem Gross-Paris geträumt haben.

Versailles

La Défense Paris
Stadtzentrum

Paris
Stadtzentrum

Flughafen
Orly

Olympiades

Noisy-Champs

Saint-Denis Pleyel

Flughafen
Le Bourget

Flughafen
Charles de Gaulle

Le Mesnil-Amelot

QUELLE: SOCIÉTÉDU GRAND PAR IS NZZVisuals/lea.

Nummernder neuen U-Bahn-Linien

Dasneue Metronetz erschliesst vorallemdie Banlieues


Es ist mitunter
die Gotthard-Expertise,
mit der sich zehn
Schweizer Firmen für
das gigantische Projekt
empfohlen haben.
Free download pdf