Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 WIRTSCHAFT 27


Um ein möglichst ganzheitliches Bild von Firmen zu haben, sammeltChina künftigDaten übersie. GIULIA MARCHI / BLOOMBERG

China ar beitet an gläsernen Firmen

Die Regierung richtet ein soziales Kreditsystem für Unternehmen ein – nicht konformes Verhalten kann drastische Folgen haben


MATTHIAS MÜLLER, PEKING


Ende 2020 scheint noch weit weg. Die
Uhr tickt jedoch bereits hörbar.Ab die-
sem Zeitpunkt soll es in China zwei
Rating-Systeme geben: ein soziales Kre-
ditsystem für Chinesen und eines für
Unternehmen, unabhängig von deren
Herkunft oder Gesellschaftsstruktur.
Der Präsident der Europäischen Han-
delskammer in China, der in Diensten
des ChemiekonzernsBASF stehende
deutsche LobbyistJörg Wuttke ,äus-
serte sich besorgt. Er hat zusammen
mit dem in Berlinund Zürichbeheima-
teten Beratungsunternehmen Sinoly-
tics eine Studie unter dem Namen«The
Digital Hand – How China’s Corporate
Social CreditSystem Conditions Market
Actors» erstellt.
Die europäischenFirmen seien noch
nicht ausreichend darauf vorberei-
tet, schreibtWuttkeeingangs. Er selbst
habe bei der Erstellung desPapiers ge-
merkt, wie viel getan werden müsse, um
dasSystem zu implementieren.Wuttke
findet jedoch auch tröstlicheWorte:
DieVorgaben für dieFirmen seien er-
füllbar, schreibt er in der Studie.Die
grundlegende Idee des sozialen Kredit-
systems für Chinesen wie für Unterneh-
men ist zumindest gemäss denRegula-
rien einfach:Wer sich an die Spielregeln
häl t, bekommt Zuckerbrot.Wer gegen
sie verstösst, wird bestraft und im über-
tragenen Sinn ausgepeitscht.


Es mangelt anVertrauen


ChinasWirtschaft ist seit der Öffnung
unter Deng Xiaoping vor etwas mehr
als 40Jahren zwarrasend schnell ge-
wachsen.Parallel dazu hat sich jedoch
nur langsam einregulatorischerRah-
men herausgebildet, der jenen Chine-
sen und Unternehmen Einhalt gebietet,
die Vorgaben missachten. Bis jetzt seien
die Konsequenzen zu gering, wenn man
gegen dieRegularien verstosse, kriti-
sierte der chinesische Ministerpräsident
Li Keqiang den Status quo.
Deshalb brauche dasLand ein sozia-
les Kreditsystem, fügte er an. Chinas
Regierungschef spielte damit auf eine
Schwachstelle im chinesischenSystem
an, das manchmal anarchische Züge
aufweist. Oft trauen sich die Chinesen
gegenseitig nicht über denWeg. Ver-
trauen ist jedoch die Grundvoraus-


setzung für ein im Idealfallreibungs-
loses gesellschaftliches und wirtschaft-
liches Miteinander. Unterstützung er-
hält Li von Qin Xiaoying,der an der
Pekinger Denkfabrik ChinaFounda-
tion for International and Strategic
Studies forscht.Verstösse gegen Spiel-
regeln beeinträchtigten die chinesische
Wirtschaft und seien für das Image des
Landes imAusland schädlich. Er spielt
damit etwa auf Produktfälschungen an.
EinLand ohne ein Kreditsystem, das
jedes Individuum einbezieht, könne
nicht modern sein, schreibt derWis-
senschafter.
Peking arbeitet seit 2013an dem
sozialen Kreditsystem für Unterneh-
men und hat laut Sinolytics auf Ebene
der Zentralregierung und der lokalen
Behörden rund1500 Dokumente in
diesem Zusammenhang veröffentlicht.
Allein diese grosse Zahl zeigt, dass es
für die Unternehmen geboten ist, sich

rechtzeitig und ausgiebig mit demSys-
tem zu beschäftigen.Vor allem für klei-
nereund mittelgrosseFirmen ohne um-
fangreichenVerwaltungsapparat stellt es
eine Herausforderung dar. DieFolgen
eines nichtkonformenVerhaltenskön-
nen weitreichend sein. Sokönnen Bus-
sen verhängt, dieFirmen von öffent-
lichenAusschreibungen ausgeschlossen,
im Internet als nicht vertrauenswürdig
an den Pranger gestellt und im Extrem-
fall so lange vom chinesischen Markt
ausgeschlossen werden, bis sie sich wie-
der konform verhalten.
Das soziale Kreditsystem setzt sich
aus drei Elementen zusammen: Erstens
definiert dieRegierung, welcheVor-
gaben dieFirmen erfüllen müssen.Laut
der Studie der Europäischen Handels-
kammer in China und von Sinolytics
müssen multinationaleKonzerne rund
30 Ratings im Blick haben. Es geht etwa
um Fragen, ob sie die Steuernkorrekt

zahlen oder ob sie die Umweltschutz-
auflagen einhalten.
Zweitens müssenDaten gesammelt
werden, um dasRating mit Leben zu
füllen. Die National Credit Informa-
tion Sharing Platform, die unter ande-
rem von der Nationalen Entwicklungs-
undReformkommission betrieben wird
und das Herzstück dasSystems darstellt,
speist sich aus diversen Quellen. Zu-
nächst sind die Unternehmen verpflich-
tet, bestimmteDaten zu liefern. Isoliert
betrachtetseien diese zwar harmlos,
heisst es in der Studie. In der Gesamt-
heit lieferten sie jedoch ein umfang-
reiches Bild über das Unternehmen.Zu-
dem steuern die Behörden Daten nach
ihren Inspektionen bei.
Hinzu kommen weitere Statisti-
ken, um ein möglichst ganzheitliches
Bild von denFirmen zu erhalten. So
sollen in Echtzeit ermittelteDaten
wie derAusstoss von Emissionen be-

rücksichtigt werden.Darüber hinaus
fliesst auch das Know-how der Inter-
netkonzerne Alibaba undTencent ein.
DervonJack Ma gegründete E-Com-
merce-Gigant Alibaba verfügt mit «Se-
same Credit» über ein Kreditrating-Sys-
tem, das in ganz China vielfach genutzt
wird, um die Bonität derKunden zu prü-
fen. Schliesslich werden auch die durch
Videoüberwachung gesammeltenDaten
in die Pl attform eingehen. In einem drit-
ten Schritt werden dann die Statistiken
ausgewertet und analysiert, um dasVer-
halten derFirmen zu bewerten und ein
Urteil über sie zu fällen.

Hintertürchen im System


Aus chinesischer Sicht ist der Ansatz –
neben der zwingenden Notwendigkeit,
über ein landesweites Kreditrating-Sys-
tem zu verfügen –konsistent. Er setzt
auf Big Data sowie künstliche Intelligenz
und wendet damit jeneTechnologien zur
Behebung eines Defizits an,die State of
the Art darstellen.Da Zahlen eigentlich
nicht lügen, würde das soziale Kredit-
system ein objektives Bild vomVerhal-
ten der Unternehmen liefernund diese
steuern.Davonkönntendie Regierung
und dieFirmen profitieren. ChinasWirt-
schaft verläuftreibungsloser, wenn die
Zahl derRegelverstösse sinkt. Und die
Bedingungen für die Unternehmen bes-
sern sich,wenn sie sich an die Spielregeln
halten. Der Argwohn imWesten ist je-
doch gross. ChinasRegierung wird erst
beweisen müssen, dass alles nach objek-
tiven Kriterien berechnet und bewertet
wird. Es gibt denn auch Hintertürchen
im System, die Skepsis wecken.
So müssen die Unternehmen nicht
nur ihr eigenes Handeln prüfen,sondern
auch alle Partner entlang derWertschöp-
fungskett e inAugenschein nehmen, ob
sich diese an dieRegularien halten. Und
schliesslichkönnte das soziale Kredit-
system fürFirmen auch einscharfes
Schwert in den Händen der Machthaber
in Peking bei künftigen Handelskonflik-
ten darstellen. In den bisher veröffent-
lichtenRegularien heisst es, dass Unter-
nehmen besonders misstraut und sie
gebrandmarkt werden sollen, wenn sie
Partner bestochen, gegen die nationale
Sicherheit oder gegen legitime Interes-
sen derKunden verstossen haben.Damit
könntePeking künftig gezielt gegen aus-
ländischeKonzerne vorgehen.

Können sich die Sacklers fr eika ufen?


Eigner der Pharmafirma Purdue machen den Kläger n in der Opioid-Krise ein Angebot


DIETERBACHMANN


Kurz nach einem wichtigen Urteil gegen
denPharmakonzernJohnson &Johnson
in derAufarbeitung der Opioid-Krise
in den USAkommt es zu einemPau-
kenschlag:Das Unternehmen Purdue
Pharma und dessen Besitzer sind offen-
bar bereit zu einemVergleich in Cleve-
land im Gliedstaat Ohio.
Laut verschiedenen Medienberich-
ten sollen der Schmerzmittelhersteller
und dieFamilie Sackler zwischen 10 und
12 Mrd. $ bieten, umTausende von Kla-
gen von Opfern der Drogenkrise beizu-
legen.DieZahl wird offiziell nicht bestä-
tigt. Das Unternehmen lässt lediglich via
Anwälte verlauten,eine «konstruktive
Globallösung» sei der besteWeg.
Purdue hatte – wie auch andere
Pharmaunternehmen – mit aggressivem
Marketing jahrelang die Verschrei-
bung von starken, süchtig machenden
Schmerzmitteln in den USA gefördert.


Mit Medikamentenbezahlen


Angeblich sollen für denVergleich 7
bis 8Mrd.$vom Unternehmen Purdue
kommen. Aber es wird nicht nur Geld
fliessen.Vorgesehen ist, dass vom er-
wähnten Betrag4Mrd.$ in Form von
Sa chleistungen, insbesondere Medika-
menten für die Behandlung von Süchti-


gen, den Betroffenen zurVerfügung ste-
hen sollen. Denn nach demkommerziel-
len Erfolg mit den Schmerzmitteln will
Purdue künftig auch im Geschäft mit der
Entwöhnung beziehungsweise Behand-
lung von Betroffenen Geld verdienen.

Ein Ableger in Basel


Die Sacklers selbst sollen3Mrd.$ für
die Einigung beisteuern.Verschiedenen
Familienmitgliedern wird vorgewor-
fen, im Hinblick auf Klagen Kapital aus
dem Unternehmen abgezogen zu haben.
Geld für denVergleichkönnte sich die
Familie aber auch mit demVerkauf von
Mundipharma beschaffen, einem Netz-
werk von Pharmafirmen in ihrem Be-
sitz, die sich auf Europakonzentrieren.
Mundipharma hat auch einen Schwei-
zer Ableger mit Sitz inBasel und «gilt
in der Schweiz als Marktführer im Be-
reich der oralen Opioid-Therapie star-
ker und stärkster Schmerzen», wie es auf
der Website heisst.
Der in den Medien kursierendeVor-
schlag sieht vor, dass derKonzern im
Rahmen eines Konkursverfahrens in
einenTrust zum Nutzen der Öffentlich-
keit («public beneficiary trust») umge-
wandelt wird, was erlauben würde, die
Gewinne für die Entschädigung der Op-
fer zu verwenden. Die Sacklers gäben
damit dieKontrolle über dieFirma ab,

die sie in den1950erJahren übernom-
men und auf Schmerzmittel ausgerich-
tet haben.

Die Kläger sind unterDruck


Ob und in welchemRahmen derVer-
gleich mit Purdue letztlich zustande
kommt,ist o ffen. Eigentlich müssten die
involviertenParteien den zuständigen
Bundesrichter in Cleveland,Dan Pols-
ter, bis amFreitag dieserWoche über
den Stand derVerhandlungen informie-
ren. Kurz vor Ablauf dieserFrist sind
nundie obigen Details zu einer mög-
lichen Lösung an die Öffentlichkeit ge-
langt. Laut der «NewYork Times» sind
derzeit erst rund zehn Gliedstaaten in
dieVerhandlungen, die auch andere
Pharmafirmen betreffen, involviert. Es
ist unklar, ob auch weitere Gliedstaaten
und Städte in die skizzierte Lösung ein-
willigen würden.
Die Kläger sind nun unter Druck,sie
müssenentscheiden, ob sie den propa-
giertenVorschlag akzeptieren wollen.
Falls nicht,könnte Purdue angesichts
der drohenden Zahlungen ebenfalls
Konkurs anmelden – allerdings ohne
die Schaffung einesTrusts zum Nutzen
der Öffentlichkeit.Dann würde es für
die Betroffenen vermutlich schwieriger,
in einemVerfahren über denKonkurs-
richter an Geld zukommen.

Strengere Regulierung


bei Hypothekenvergabe


Die Finma akzept iert den Vorschlag der Banken


ANDREA MARTEL

Kurz vor den Sommerferien wurde be-
kannt, dass sich die SchweizerBanken
auf eine strengere Selbstregulierung bei
der Hypothekenvergabe geeinigt haben.
Si ewollen Mehrfamilienhäuser künftig
nicht mehr bis 90% belehnen, sondern
nur nochbis zu 75%. Zudem sollen die
Kunden ihre Hypothekarschuld neu
innert maximal 10 (bisher15) Jahren auf
zwei Drittel des Belehnungswertsredu-
zieren müssen. DieVerschärfung der
Selbstregulierung warauf Druckder Be-
hörden entstanden, die der Ansicht sind,
dass dieBanken in diesem Segment zu
vieleriskanteHypotheken vergeben.
Mit der Eigeninitiative sollte verhin-
dert werden, dass der Bundesratseiner-
seits denBanken – über eineVerschär-
fung der Eigenmittelverordnung (ERV)


  • neueVorschriften aufsAuge drückt.
    Am Mittwoch wurde bekannt-
    gegeben, dass die EidgenössischeFinanz-
    marktaufsicht (Finma) denVorschlag
    derBanken in allen Aspekten akzep-
    tierthat. Mit diesem Plazet sollte es nur
    noch eineFormalie sein, dass der Bun-
    desrat die in der ERVgeplanten Paragra-
    fen wieder streicht. Umstritten war vor
    allem,was eigentlich alsRenditeimmobi-


lie gilt.DieFinma wollte, dass auch soge-
nannte «Buy-to-let»-Objekte darunter-
fallen, das heisst Stockwerkeinheiten
oder Einfamilienhäuser von Privatper-
sonen, die nicht selbst bewohnt, sondern
ve rmietet werden. Diese machen rund
25% allerFinanzierungen vonWohnren-
di teobjekten aus. DieBanken argumen-
tierten jedoch, dass dies über dieVor-
gaben der globalenBankenregulierung
hinausgehe und grosse Umstellungs-
kosten mit sich bringe. Für sie soll sich
der BegriffRenditeliegenschaft weiter-
hin in erster Linie auf ganze Mehrfami-
lienhäuser beziehen.
DieFinma hat hier zwar nachge-
geben. Aber sie hat durchblicken las-
sen,dass ihr die Selbstregulierung in die-
sem Bereich nicht genügt. DenBanken
wird explizit empfohlen, die verschärf-
ten Anforderungen an Eigenmittel und
Amortisation freiwillig auch beiFinan-
zierungen von «Buy-to-let»-Objekten
anzuwenden. Zudem werde man dieses
Segment imRahmen derAufsichtstätig-
keit weiterhin beobachten und, wo not-
wendig, bei einzelnen Instituten Mass-
nahmen ergreifen. In Kraft treten wird
die verschärfte Selbstregulierung am




    1. 2020, wobei bestehende Hypothe-
      ken nicht davon tangiert sind.



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