Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 INTERNATIONAL 3


Klare Hinweise auf Unfall mit Kernreaktor


Die festgestellten radioaktiven Stoffe stammen nicht aus einer «Batterie», sond ern sind Produkte aus einer at omaren Kettenreaktion


Nach dem tödlichen Unfall auf


einemRaketentestgelände stellte


die Regierung in Moskau


zunächst einenrelativ harmlosen


Zwischenfall in denVordergrund.


Messungen des russischen


Wetterdienstes erzählen nun eine


andere Geschichte.


CHRISTIAN SPEICHER, ANDREASRÜESCH


Seit Wochenrätseln Experten über den
mysteriösen Nuklearunfall im Norden
Russlands, bei dem nach vorläufigen
Angaben siebenPersonen ums Leben
gekommen sind.Jetzt wirft ein Bericht
des nationalen russischenWetterdiens-
tes Rosgidromet ein neues Licht auf die
damaligen Ereignisse. Demnach wurden
in denTagen nach der Explosion in der
betroffenen ProvinzArchangelsk be-
stimmteradioaktive Isotope in der Luft
und in Niederschlägen festgestellt, die
typischerweise bei einerKettenreaktion
erzeugt werden.Das beweist lautExper-
ten , dass in den Unfall einKernreaktor
involviert war.


Offizielle Darstellung widerlegt


Die russischenBehörden, die bisher
nur bruchstückhaft und in widersprüch-
licherWeise informiert haben, hatten
bisherandereVersionen in denVor-
dergrund gestellt.Wozu derKernreak-
tor gedient hatte, bleibt dabei weiterhin
offen. Bestärkt sehen sich die Anhän-
ger derThese, dass das russische Militär
einen neuartigen Marschflugkörper mit
einem Minireaktor als Antrieb getestet
habenkönnte.Am häufigsten genannt
wird der Marschflugkörper «Burewest-
nik», der in der Nato-Nomenklatur die
Bezeichnung SSC-X-9 Skyfall trägt.Prä-
sident Putin hatte ihn im vergangenen
Jahr als eine ArtWunderwaffe präsen-
tiert, die dank ihrem nuklearen Antrieb
über eine so gut wie unbegrenzteReich-
weit e verfügen we rde und jedes feind-
licheRaketenabwehrsystem umgehen
könne. Es gibt jedoch weiterhin auch an-
dere Erklärungen für den Einsatz eines
Kleinreaktors.
Der Unfall hatte sich am 8.August
im Bereich des Raketentestgeländes
von Njonoksa auf einer schwimmen-
den Plattform imWeissen Meer ereig-
net. Wenig später meldeten die Behör-
den der nahen Hafenstadt Sewerod-


winsk einen vorübergehenden starken
Anstieg derRadioaktivität. Einen Zu-
sammenhang mit denVorgängen auf
demTestgelände,wie er nun aus der
Meldung des staatlichenWetterdienstes
ziemlich klar hervorgeht,wollte Moskau
anfänglich jedoch vertuschen. Zunächst
sprachen die Behörden von einer Explo-
sion beimTest einesRaketenmotors mit
Flüssigtreibstoff. DieseAussage musste
revidiert werden,nachdem sich herum-
gesprochen hatte, dass einige derVer-
letztenradioaktivkontaminiert waren.
Nun hiess es, in Njonoksa sei ein An-
trieb mit einerRadionuklidbatterie ge-
testet worden.Auch hier gab es aller-
dings Zweifel.

AufschlussreicheIsotope


Radionuklidbatterien beruhen auf dem
spontanen Zerfall von radioaktiven
Atomkernen. SolcheBatterien versor-
gen zum BeispielSatelliten mit Energie,

die fernab der Sonne operieren und des-
halb keine Solarenergie nutzenkönnen.
Stattdessen nutzt man dieWärme, die
beimKernzerfall freigesetzt wird, und
wandelt diese in elektrische Energie um.
Ein Kernreaktor funktioniert anders. In
seinem Inneren werden Atomkerne ge-
spalten.Als Nebenprodukte fallen Neu-
tronen an, die weitere Atomkerne zur
Spaltung anregen. So kommt eineKet-
tenreaktionin Gang, die sich selbst
am Laufen hält. Die dabei freigesetzte
Ene rgie lässt sich im Prinzip zum An-
tri eb einerRakete nutzen.
Bei den jetzt nachgewiesenenradio-
aktiven Isotopen handelt es sich um
Strontium-91,Barium-139,Barium-
sowieLanthan-140. Dies sind Zerfalls-
produkte vonradioaktiven Edelgasen
und lassen sich mit ziemlicher Sicher-
heit auf eine nukleare Kettenreak-
tion zurückführen, wie der Nuklear-
experte Horst-Michael Prasser von der
ETH Zürich sagt. In einemKernreak-

tor entstünden unter anderem kurz-
lebigeRadioisotope der Edelgase Kryp-
ton und Xenon. Gelangten diese in die
Umwelt, zerfielen sie genau injene
Radioisotope, die die russischeWetter-
behörde nun nachgewiesen habe. Zwar
würde man nach einemReaktorunfall
weitereRadioisotope in der Umwelt er-
warten. Dennoch ist sich Prasser sicher,
dass die nachgewiesenen Stoffe nicht
aus einerRadionuklidbatteriestammen
können.Zu demselben Schlusskommen
auch andereFachleute, unter ihnen Nils
Böhmer, der Forschungsleiter derfür
die Entsorgung vonReaktoren zustän-
digen Behörde in Norwegen. Böhmer
wird von der Zeitung «Barents Obser-
ver» mit derAussage zitiert, die neuen
russischenAngaben seienein Beweis für
einenReaktorunfall.
Laut Prasser ist bis jetzt unklar,
mit welchem Spaltstoff dieserTyp von
Reaktor arbeitet. Mankönne auch
nicht sagen, ob dieKettenreaktion

durch schnelle oder langsame Neu-
tronen aufrechterhalten werde. Prin-
zipiell wäre es zwar möglich,weiter-
gehendeAussagen über denReaktor-
typ zu machen.Dafür müsse man aber
die Konzentration und die Mengen-
verhältnisse der verschiedenenRadio-
isotopekennen.

«Wunderwaffe» Putins?


Der Einsatz eines Atomreaktorsals
Raketenantrieb wäre mit erheblichen
Risiken für Mensch und Umwelt ver-
bunden. Bereits beimTesten einersol-
chenWaffe wären Entwickler mit der
Gefahr einerradioaktivenKontamina-
tion konfrontiert. Dennoch hat Putin im
vergangenenJahr nicht nur den Marsch-
flugkörper «Burewestnik» als vielver-
sprechende Neuentwicklung dargestellt,
sondern auch eine weitereWaffe mit
Nuklearantrieb präsentiert, eine Unter-
wasserdrohne namens «Poseidon».
Weiterhin sind aberauch andere
Erklärungen zum jüngstenTest denk-
bar, namentlich die Entwicklung eines
Kleinstreaktors als Energiequelle für
den Einsatz imWeltraum.In diese Rich-
tung deuten die Angaben des amTest
beteiligten Kerntechnischen Instituts
in der russischen Stadt Sarow. Dessen
Forschungsleiter hatte einigeTage nach
dem Unfall darauf verwiesen, dass ähn-
liche Entwicklungen ja auch in den USA
liefen, nämlich beim dortigen Kilopo-
wer-Projekt der Nasa. Es zielt auf die
Entwicklung vonReaktoren mit Leis-
tungen von wenigen Kilowatt.

Schuldzuweisung an die USA


Allerdings hatRusslandsRegierung in
den vergangenenTagen dieseVersion
gleich selber entkräftet und die beunru-
higendere Erklärung einer militärischen
Nutzung in denVordergrund gestellt.
Moskaus Botschafter bei den internatio-
nalen Organisationen inWien, Alexei
Karpow, erklärte am Montag ausdrück-
lich, dass derTest vom 8.August inVer-
bindung mit der Entwicklung einer
Waffe gestanden habe.Russland sei
zu derenBau gezwungen gewesen, um
auf die amerikanischeAufrüstung im
BereichRaketenabwehr zureagieren.
Falls es sich bei dieser Erklärung nicht
um Propaganda handelt, wäre es der bis-
her klarste Hinweis darauf, dass in Njo-
noksa tatsächlich ein neuartiger nuklea-
rer Raketenantrieb getestet wurde.

Irgendwo da draussen imWeissen Meer vor Njonoksa hat sicham8.August 2019ein Nuklearunfall ereignet. SERGEIYAKOVLEV / AP

Macron kommt der brennende Amazonas-Regenwald gelegen


Für den französischen Präsidenten ist die Umweltkatastrophe eine Steilvorlage, um sich zu profilieren und die eigenen Bauern zu besänftigen


ALEXANDER BUSCH


Es ist erstaunlich, wie schnell und mit
welcher Dramatik es Brasiliens bren-
nender Amazonas-Urwald auf die
Tagesordnung der G-7 schaffte. Denn
die Abholzungsraten in Brasilien neh-
men bereits seit 2012kontinuierlich zu.
Waldbrände sind in derTrockenzeit am
Äquator häufig, nicht nur in Brasilien,
sondern auch inAfrika oderAsien.Dass
nun plötzlich in Biarritz über die Dra-
matik im Amazonasgebiet diskutiert
wurde, liegt vor allem am brasilianischen
PräsidentenJair Bolsonaro. Nicht nur
dessenReaktionen auf die Kritikaus
Europa an seiner Umweltpolitik sind
in den letztenWochen immer schriller
geworden. Der Rechtspopulist hat seit
seinemAmtsantritt imJanuar auch die
überJahre aufgebauten institutionellen
und rechtlichenKontroll- und Schutz-
mechanismen für denRegenwald, Indi-
genenreservate und Naturschutzgebiete
systematisch ausgehöhlt oder zerstört.


Erneut einUmwelt-Paria


Das ist dramatisch.Denn aus dem Brasi-
lien, das 2004 noch fast 28000 Quadrat-
kilometerWald abgefackelt hatte, war


ein Staat geworden, der Anfang dieser
Dekade über mehrereJahre nur noch
rund 6000 bis 70 00 Quadratkilometer
im Jahr rodete. Das ist wenig angesichts
der Grösse Brasiliens, seiner schwachen
Institutionen und der Armut der Bevöl-
kerung in derRegenwaldregion. Brasi-
lien hat in den letzten eineinhalbJahr-
zehnten einen modernen Umwelt- und
Amazonasschutz eingeführt. In der Ge-
sellschaft ist das Umweltbewusstsein
rasant gewachsen. Sokonnte Brasilien
zu einem wichtigenAkteur beim Klima-
abkommen werden.Eskonnte glaubhaft
zusagen,sein en Wald zu schützen und
das Kohlendioxid im Amazonas zu bin-
den und nicht freizusetzen.
DieseKontrolle über denRegen-
wald fand zudem demokratisch statt.
Die Zivilbevölkerung, die Umweltgrup-
pen,dieBanken,die verschiedenen poli-
tischen und staatlichen Ebenen in Brasi-
lien genauso wie die Soja- und Fleisch-
konzerne und deren Abnehmer waren
eingebunden.Das ist nun vorbei. Bra-
silien ist wieder der weltweite Umwelt-
Paria wie vor zweieinhalb Dekaden,als
der erste Uno-Erdgipfel in Rio stattfand.
Der wirtschaftliche und politische Scha-
den für Brasilien wird immens ausfallen.
Dennoch sollte man bei der gegenwär-

tigen Diskussion nicht vergessen, dass
der brennendeAmazonas-Urwald auch
perfekt ins innenpolitische Kalkül von
Frankreichs Präsident passt. Emmanuel
Macron brauchte einThema, bei dem er
auf dem Gipfel in Biarritzden Takt vor-
gebenkonnte. Der brennendeRegen-
wald in Brasilien bildete eine Steilvor-
lage für ihn. Einerseitskonnte er damit
seineRolleals selbsternannter Aufpas-
ser beimPariser Klimaschutzabkommen

neu bekräftigen.Andererseitskonnte er
innenpolitisch Druck abbauen.Denn
FrankreichsBauernsammelnsichgerade,
um gegen das Abkommen zwischen der
Europäischen Union und dem Mercosur
zu protestieren, das erst vor zwei Mona-
ten unterschrieben wurde. Die französi-
schenBauern fürchten den Import von
Mais, Steaks undPoulet aus Südamerika.
Wenn Macron jetzt behauptet, dass
er das Abkommen mit dem Mercosur

wegen des brennendenRegenwaldes
nichtmehrunterzeichnen wolle, dann ist
das vor allemein innenpolitisches Signal
an die Agrarlobbys in seinemLand. Er
will ihnen denWind a us den Segeln neh-
men.Das macht er aufKosten der Han-
delspartner in Europa und Südamerika,
vor allem auch der Industrie.Wenn
Macron nun behauptet, dass er zuerst
die Einzelheiten des Abkommens ana-
lysieren wolle,bevor er dasWerk dem
Parlament vorlegen werde, dann ist das
billigerPopulismus. DennFrankreichs
Diplomaten wissen genau, was in den
Details des Abkommens steht.

Partner der EU


Inzwischen heisst es in Brasilia schon,
dass dieRatifizierung des Abkommens
nicht vor 2022 zu erwarten sei, bis sich
Macron zurWiederwahl stellt. Es wäre
ein Fehler der EU,jetzt Macron zu fol-
gen und die Zusammenarbeit mit Bra-
silien aufzukündigen. Brasilien ist ein
Partner der EU. Das gilt auch, wenn der
Präsident dort zurzeit ein «Brandstif-
ter» ist.Das gilt übrigens genauso für
die Schweiz.Auch dort istWiderstand
gegen das Efta-Mercosur-Abkommen
zu erwarten.

Treffen der Amazonasländer


(dpa)·Angesichts der verheerenden
Waldbrände in Amazonien wollen die
Staatschefs derRegion eine gemeinsame
Strategie entwerfen. Die Präsidenten der
Amazonasländer werden sich am 6. Sep-
tember in derkolumbianischen Stadt Le-
ticia treffen, wie der brasilianische Präsi-
dentJairBolsonaroamMittwochmitteilte.
«Wir werden über eine gemeinsamePoli-
tik des Umweltschutzes und der nachhal-
tigen Entwicklung unsererRegion spre-
chen.»Welche LänderandemTreffenteil-
nehmen sollen, war zunächst unklar. Der
Amazonasregenwald liegt in Brasilien,
Venezuela, Bolivien,Kolumbien, Ecua-

dor, Peru, Guyana,Französisch-Guyana
und Surinam. Das von einer schweren
politischenund wirtschaftlichen Krise er-
schütterteVenezuelaseinichteingeladen,
sagte Bolsonaro.
Bolsonarokommt derweil in Brasilien
zunehmend unter Druck. Gouverneure
des Amazonasgebiets undVertreter des
ein flussreichen Agrobusiness kritisieren
die Haltung des Präsidenten bei der Be-
kämpfung derWaldbrände zunehmend.
Sie be fürchten einen schweren Image-
schaden für dasLand und sorgen sich um
die Ratifizierung desFreiha ndelsabkom-
menszwischendemMercosurundderEU.
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