Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 FEUILLETON 35


1968 ist legendär – die entschei dende politische


Veränderung kam aber ein Jahr später SEITE 36


Ein Filmfestival im Süden Kosovos zieht mit seinem


speziellen Flair ein internationales Publikum an SEITE 38


Einfach den Mund halten


Kaum sitzen oder stehen wi r irgendwo, greifen wir zum Handy. Die Geste verrät ein Urbedürfnis.Von Christina Viragh


Die letzte Zikade desTages singt zum
Zirpen der ersten Grillen der Nacht.
Sommerabend im Salento, auf dem Ab-
satz des italienischen Stiefels, Maresa
sitzt auf derTerrasse ihres Hauses und
erz ählt die Geschichte ihrer von einer
Tarantel gestochenen Mutter. Eine
typisch apulische Geschichte, mit magi-
schen und archaischen Elementen, auch
mit vielKummer und Leid, aber doch
eine gute Geschichte, in dem Sinn, dass
sie gut erzählt wird, mit anschaulichen
Details, treffenden Charakterisierun-
gen.Wir hören sie gern wieder, haben
sie schon letztesJahr gehört und werden
sie, so wirhoffentlich wieder hier landen,
auch nächstesJahr gern hören.
Und es tut ja Maresa gut, sie zu er-
zählen. Aber vielleicht werden wir uns
doch ein bisschen daran zu stossen be-
ginnen, dass die Sache so einseitig ist, in
keinem Momentkommt es ihr in den
Sinn, ihre vier Gäste nach Befinden und
Leben oder auch nur danach zu fragen,
was sie hier in Uggiano la Chiesa so trei-
ben. Wir nehmen es Maresa nicht wirk-
lich übel, sie ist mit ihrem Lebensmut
undDurchhaltevermögen eine bewun-
dernswertePerson.Aber vielleicht woll-
ten wir doch mehr oder anderes, als wir
uns an ihrenTisch setzten.
Was wollten wir?Was will man von-
einander? So ziemlich alles, nicht wahr,
von Aufmerksamkeit über Bestäti-
gung und Geborgenheit bis hin zu Zer-
streuung. Oder ist alles, wie so oft, auch
nichts? Meinen wir vielleicht nur, alle
dieseDinge zu wollen? Es ist doch auf-
fallend, wie wenig wir vier eigentlich
enttäuscht sind, dass sich Maresa nicht
für uns interessiert.Weil wir sie nicht
wirklich ernst nehmen, wird man ein-
wenden, wäre sie jemand, von dem wir
in unseremWesen undWert erkannt
werden möchten, würden wir nach dem
Abend frustriert und irritiert in die apu-
lische Nacht hinausziehen. Gewiss. Und
doch ist die Sache nicht so einfach.


Das Gefühl der Befreiung, das wir
beim Zuhören haben, kommt nicht da-
her, dass wir Maresa nur für eine unter-
haltsame Manifestation des Genius loci
halten,sondernvon tiefer. Nämlich da-
her, dass hier etwas Richtigeres ge-
schieht als der sogenannteAustausch,
jener Kampf um die Gelegenheit, den
eigenen, meist von uns selbst handeln-
den Senf dazugeben zukönnen.Wie viel
besserals ein solcher Zwang ist da eine
Geschichte, die an Archaisches rührt
und uns damit tiefer einbezieht, als es
jedes ausgewogene Geplauderkönnte.
Haarige schwarze Spinne, auch wir
kennen dich seit Urtagen, und ja, Ma-
resa, erzähle von ihr. Dafür werfen wir
die Konventionen des geselligen Zusam-
menseins gern über Bord. Und, eben,
sind dabei so erleichtert, dass es schon
verdächtig ist.Ist es das,was wir eigent-
lich wollen? Zuhören und nichtreden
müssen? ArtikulierteAustauschbedürf-
tige werden gleich widersprechen, uns
als ferienfauleKonsumenten von ange-
nehm gruseligen Geschichten bezeich-
nen, aber da kann ich nur sagen, dann
schaut euch eben in eurem Alltag um.

Montalbano isst– und schweigt


Ich zum Beispiel habe mich nach einem
mehr oder weniger fleissigen Arbeits-
tag in meinem chinesisch-japanischen
Stammrestaurant umgeblickt und wie-
der einmal gesehen, wie vier junge Leute
an einemTisch die ganze Zeit mit ihren
Smartphones beschäftigt waren. Die
Jugend, der allgemeine, überwältigende
Konformismus, klar, aber vielleicht doch
auch eine tief sitzende, um nicht wieder
archaisch zu sagen, Unlust auf Geplau-
der. In «Murder by Death» sagtPeter
Sellers, der einen chinesischen Inspek-
tor spielt, zu seinem dauerplaudernden
japanischenAdoptivsohn (man verzeihe
die politische Unkorrektheit, er sagtes
eben so): «Convelsationlike television

on honeymoon–unnecessaly.»Wiewahr,
kann ichmeinerseits nur sagen, wenn ich
von denJungen weg zu den anderenTi-
schen blicke, fast alle mit mindestens
einer textendenPerson bestückt. Mir
kommt auch dieReklame in den Sinn,die
vier junge Männer glücklich lachend um
einenTisch zeigt, alle mit ihrem Handy
zugange, wobei die uns anzudrehende
SachekeineswegseinTelefon ist, son-
dern eineVersicherung oder so ähnlich.
Die glückliche, gut versicherteFreund-
schaft wird eben auf die Art zelebriert.
Darum geht es vielleicht,um Entspan-
nung. Sich in der Gegenwart der anderen
einfach entspannen. Und man ist auch
erst richtig entspannt,wenn sie, die ande-
ren, gegenwärtig sind. Es braucht sie, sie
sollen da sein, es ist nicht so, dass die ab-
wesenden Message-Empfänger wichti-
ger sind, les absents ont toujoursraison ,
wie ich anfänglich, als ich dasPhäno-
men zu beobachten begann, vermeintlich
geistreich dachte. Nein, haben sie nicht,
sie sind nur ein Mittel, um die Anwe-
senheit der anderen zu einer wirklichen
Gegenwart zu machen, einer unzerredet
Geborgenheit verbreitenden.
Dahin, natürlich, sollten wir auf
anderenWegen gelangen, die elektro-
nischen Gadgets sind ein Holzweg, die-
ses sehrrasch zu einem obsessivenAuto-
matismus werdende Getippe.Aber dass
es die Sitten des Zusammenseins ver-
dorben hätte,kann man nicht sagen.Es
macht nur sichtbar, womit dieses Zu-
sammensein schon immer unterlegt war
und das auszusprechen der guteTon bis-
her verbot. MitAusnahmen.
Kommissar Montalbano, um wie-
der ein Beispiel aus der kriminalisti-
schen Ecke zu bemühen, die Schöpfung
des vor kurzem verstorbenen Andrea
Camilleri, deklariert jeweils, bevor er
sich mit jemandem zum Essen setzt, dass
er während der Mahlzeiten nichtredet.
Auch hier fällt auf, dass dieTischgenos-
sen gern darauf einsteigen, niemand

sagt, dann iss halt allein, jeder nimmt mit
einem spürbarenAufatmen Platz.
Zusammen in entspanntem Schweigen
essen ist wohl etwas vom Besten. Nur ist
eben das entspannte Schweigen fast nie-
mandes Sache, man greift zumTelefon,
das aber immerhin ehrlicher auf den wah-
ren Sachverhalt hinweist als eifrigeTisch-
gespräche. Oderredet hier nur eine intro-
vertiert-wortkarge Mitteleuropäerin?
Aber nicht sie hat den exzessiven Han-
dygebrauch erfunden, sie stellt nur fest,
was auf der Hand liegt, eben, das Handy
und unsere Unlust zu erzwungenerRede.
Aber ja doch, es gibt sie, die anregen-
den Gespräche. Goethe mit Eckermann,
während sie zweiWachteln und eine
Pastete verspeisen, oder Byland und
derTitelheld in Albin Zollingers «Boh-
nenblust»: «DieTischrede ist nun an mir,
sie soll mir meinerseits dienen, einige
Dinge anzubringen, die ich sonst eines
Tages brieflich vorgebracht hätte», oder
auch ich und Jing,die chinesische Be-
sitzerin des japanischenRestaurants, die
hinzutritt, während ich das fast authen-
tisch wirkende Sashimi esse, undmirvon
ihrem Leben in Schanghai erzählt.
Das ist es eben.Austausch, wo er
den Namen verdient,konzentriert sich
aufThemen, dieTarantel oder: «Goe-
the sprach heute beiTisch sehr viel von
dem Buche des MajorParry über Lord
Byron...»oder auch den Gesundheits-
zustand, die Befindlichkeit, Sorgen,
Freuden der Gesprächspartner, sofern
sie wirklichThema sind. Und nicht nur
Stückchen des Smalltalk, bei dem die
Versuchung stark wird,dem Urbedürfnis
nach Nichtreden nachzugeben und zum
Smartphone zu greifen. Unhöflich, un-
elegant,aber wenigstens so zwanglos, wie
man sich das Beisammensein wünscht.
Damit wird, die Sache ist ja nicht
umgekehrt proportional, der überflüs-
sige Unsinn (richtig, gerade fotografiert
einer seinTempura), den man postet,
nicht zu Eckermann-Goethescher Be-

deutung geadelt, aber immerhin findet
er in einem schweigendenRaum statt.
Schweigen amTisch, Schweigen im elek-
tronischenRaum, selbst wenn der Emp-
fänger gleich mit einemFoto seiner Spa-
ghetti alle vongole antwortet, verflüch-
tigt sich das jarasch ins Nichts. Und so
wäre alles in der besten Ordnung, wenn
es nicht ein Holzweg wäre. Mit Montal-
bano amTisch würde schon ein Schritt in
die richtige Richtung getan,ein giantleap
wäre es, wenn wir uns, ohnereden wollen
zu müssen, auf die Gegenwart der ande-
ren ein- und verlassen würden.

Jetzt muss etwas gesagt werden


Wir scheinen esnicht zu schaffen.Wir
vier, die nach dem Abend bei Maresa in
die nurmehr von umherstreichenden Kat-
zen und Hunden bevölkerten Strassen des
apulischen Städtchens hinauswandern,
sind zwar still, wir bereden dieTarantel-
geschichte nicht noch einmal, haben wir
schon letztesJahr getan, aber auch wir
haben das Gefühl, dass jetzt etwas gesagt
werden müsste.Warum eigentlich?
Palmen, die aussehen wie aus dem
Morgenland,ragen leicht schwankend
überdietypischen Flachdächer, eine
Katze steht sprungbereit undvollkom-
menreglos auf einem Mäuerchen, um zu
sehen, ob unser Hund sie bemerkt.Tut
er nicht, und wir alle spüren mehr, als
dass wirsehen, wie die Katze ihre Stel-
lung um einWinziges lockert. Und jeder
von uns spürt, dass es die anderen auch
spüren, ja, dass auch ihnen scheint, als
sei nicht nur die Katze, als seien auch
dieBäume, Büsche, Blumenringsum
und überhaupt die ganze Nacht locke-
rer geworden.Dazieht einer von uns
sein Smartphone aus der Hosentasche.

Die SchriftstellerinChristina Viraghlebt in
Rom. 2018 ist ihr Roman «Eine dieser Nächte»
im Dörlemann-Verlag erschienen.

Gemeinsamzuschweigen, gehört zu den anspruchsvolleren Disziplinendes Zusammenlebens.Mit einem Handy in der Hand gelingt es leichter. LIVIO MANCINI /LAIF
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