Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

36 FEUILLETON Donnerstag, 29. August 2019


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Auf einmal


intellektuell?


EinTrump-treuerInfluencerentsagt
demTrollingundgehtstudieren

MARC NEUMANN,WASHINGTON

Mitten in die US-Sommerflaute platzte
dieKunde eines sonderbarenTechtel-
mechtels:JackPosobieckomme imAu-
gust in den Genuss einer LincolnFel-
lowship beim kalifornischen Claremont
Institute. Dieser Mann und das Institut:
Das ist ein bizarres Gespann.
Claremont ist seit über vierzigJah-
ren intellektuelleBastion einerFraktion
der amerikanischenKonservativen. Die
DenkschmiedelegtWert auf Streitbar-
keit und intellektuellen Anspruch, lobt
in gelehrtenEssays dieWerte der Grün-
derväter und derVerfassung. Ander-
seits wendet sie sich – wie etwa imJahr
2016 mit der Kampfschrift«T he Flight
93 Election»–gegen globale Eliten,
Multikulturalismus und den administra-
tiven Staat. Der Einfluss dieserTr ump-
freundlichenPolitavantgardereicht tief
nachWashington hinein.

GeläuterterCharakter?


Jack Posobiec dagegen, der frühere
Nachrichtenoffizier bei der US Navy,
ist derzeitKorrespondent beim Pro-
Tr ump-TV-Sender One America News
Network. Bekanntist er als vollamt-
licher Influencer, der bei seiner halben
MillionFollower aufTwitter Gerüchte
wie die Pizzagate-Affäre verbreitete.
Pizzagate war eine aufReddit und
4Chan von Heerscharen vonTr ump-
Anhängern verbreiteteVerschwörungs-
theorie,wonach Hillary Clinton und
ihr früherer KampagnenmanagerJohn
Podesta imKeller eines familienfreund-
lichen Pizzarestaurants im Nordwes-
tenWashingtons einenPädophilenring
unterhielten. Blankerer Unsinn ward
selten in dieWelt gesetzt.
Posobiec hat nicht nur bei allerlei ver-
schwörungstheoretischem Quatsch seine
Hände im Spiel.Als Aktivist aus denRei-
hen der «Citizens forTr ump» mischte
er sich auch Ende 20 16 inkognito unter
einen Anti-Trump-Protest.Dabei hielt
er als vermeintlicherTrump-Kritiker ein
Plakat hoch, das zurVergewaltigungvon
MelaniaTrump aufrief. Mit der Aktion
«unter falscher Flagge» beabsichtigte
der Make-America-great-again-Provo-
kateur,Trump-Gegner als gewalttätige
Frauenhasser zu verunglimpfen.
Und so jemand soll nun am arrivier-
ten Claremont Institute die Denke von
Hamilton,Madisonund Co. studieren
dürfen?KeinWunder, hagelte es Kritik,
selbst auskonservativerWarte. Mit der
Ehrung eines«Trumprechtfertigenden
Speichelleckers» wiePosobiec mache
sich Claremont zum Clown und bringe
die Gründer derRepublik zumWeinen,
meinte etwa dieAutorin Mona Charen.
Posobiec selbst erklärt auf Anfrage
das Süssholzgeraspel zwischen ihm und
Claremont mit Charakterläuterung.
Nach Heirat und Geburt eines Sohns
habeer sich 2017 entschlossen, dem
«Trolling zu entsagen» und auf moralisch
«höheren Pfaden zu wandeln».Ausser-
dem habeer seit dem College die in der
amerikanischenVerfassung verankerten
«first principles» (Naturrechte, Födera-
lismus und Gewaltentrennung) kaum
mehr im Original studiert. Diese Bil-
dungslücken soll nun dankbarerweise
das Claremont Institute stopfen.

IntellektuellerWahlkampf


HinterPosobiecsWandlung vom Saulus
zumPaulus dürfte jedoch ein anderes,
tieferes Motiv stecken. Claremont-Prä-
sidentRyanP. Williams kündigte in dem
Artikel «Amerika verteidigen – Multi-
kulturalismus besiegen» eine rhetori-
sche Kampagne an, um die Idee des
«bürgergetragenen Nationalismus mit
populären,kulturellen und historischen
Eckwerten amerikanischer Grössezu-
sammenzuführen».
Übersetzt heisst das, dass Claremont
die zu erwartende Schlammschlacht um
dieWiederwahlTr umps 2020 intellektu-
ellanreichern will. Und die gelungene
Mischung von Geist und Geschrei lie-
fern dabei wohl in Claremont geschulte
Medien-Trolle undTr ump-freundliche
Influencer wiePosobiec.

Es ist höchste Zeit,

über das Jahr 1969 nachzudenken

Vor fünfzig Jahren legte der Westen den Glauben an die Revolution ab. Heute kehren alte Muster zurück


JAN SÖFFNER


Jahrestagen sollte man eigentlich nicht
zu vielRaum geben. Aber vielleicht
wäre es angebracht, mit demJahr 1969
eineAusnahme zu machen, weil seine
Wichtigkeit unbemerkt geblieben ist.
1969 scheint dasJahr gewesen zu sein,
in dem der1968 noch verbreitete Glaube
an dieRevolution endete und stattdes-
sen der Siegeszug derPartizipation an-
fing.Die Studentenbewegung begann,
dasFreund-Feind-Denken abzulegen,
das sie ihrer Elterngeneration ähnlicher
gemacht hatte, als sie glaubte. Und sie
lernte die Hinwendung zu einerPolitik
der Offenheit und Inklusion: DieWelt-
revolution war nicht längerdasZiel,
stattdessen verlagerte man sich darauf,
den unterdrückten Minderheiten Mehr-
heitsrechte zu verleihen.
Ikonisch für das Scheitern desrevo-
lu tionären Gestus stand in jenemJahr
die Selbstverbrennung des tschecho-
slowakischen StudentenJanPalach aus
Protest gegen die Niederschlagung des
PragerFrühlings: eineVerzweiflungstat,
die den Umsturz versuchte, doch nur
noch Selbstvernichtung war und folgen-
los blieb. Für den Erfolg derPartizipa-
tion stand dagegen derAufstand sexu-
eller Minderheiten in der Christopher
Street in NewYork – sie wollten nicht
das ganzeSystem umstürzen, sondern
nur in ihrenRechten anerkannt wer-
den.Jahr fürJahr folgten dem Ereignis
fortanParaden, die zum Sinnbild einer
Befreiung und allmählich auch einer ge-
sellschaftlichen Akzeptanz wurden, wie
sie sich 1969 noch kaum erhoffen liessen.


Zwei Konzepte


Den Unterschied, der in diesen bei-
den Ereignissen sichtbar wird, nennt
der Philosoph Hans-Martin Schönherr-
Mann denjenigen zwischenRevolution
und «Involution». Ja n Palach war inso-
fernRevolutionär, alserals Alternative
zur Unterdrückung nur den Sturz der
Unterdrücker kannte.Mit dem «involu-
tiven» Christopher StreetDaykündigte
sich indes eine andere Strategie an, näm-
lich diejenige der Einbindung vonAus-
geschlossenen: auf Unterdrückung und
Ungerechtigkeitenreagierte die Bewe-
gung nicht mit Umsturzdrohungen, son-
dern mit Inklusionsforderungen.
Der Gesinnungs- und Strategiewan-
del der Studentenbewegung wurde zu-
erst von den überzeugtestenRevolutio-
nären bemerkt, denen dieser nicht gefal-
lenkonnte.Schon1969 gründeten sich in
den USA dieWeathermen und im fol-
gendenJahr in Deutschland dieRote-
Armee-Fraktion sowie in Italien die Bri-
gateRosse. Die unbeabsichtigteFolge
war aber, dass derrevolutionäre Ges-
tus noch stärker diskreditiert wurde,die
«involutive» Haltung indes an Überzeu-
gungskraft gewann.
Dass sich dieser bemerkenswerte
Schritt zunächst vor allem imWesten
vollzog,hat sicher damit zu tun, dass


die westlichen Demokratien ihrerseits
inklusiver auf die Studentenrevolten
reagierten als etwa die Sowjetunion auf
den PragerFrühling.Auch etwas ande-
res dürfte aber noch von Bedeutung
gewesen sein: Die 68er handelten hier
weniger aus eigener Not als aus Über-
zeugung, und das machte sie umgekehrt
auchkompromissbereiter als andere
revolutionäreBewegungen.
Dazu kam, dass die Studenten den
Sozialismus stellvertretend für die Arbei-
terklasse durchsetzen wollten – dieser

aber selber kaum angehörten. Und so-
sehr die Studenten auch versuchten,
sich mit einem idealisiertenkommunis-
tischen Proletariat zu solidarisieren: Ihre
Solidarität blieb weitgehend unerwidert.
Damit war dieRevolution gescheitert.
Durch ihre neue, meist unreflek-
tierte «involutive» Strategieerreichten
die «69er» indes dieVerwirklichung fast
all ihrer Anliegen.Pazifismus, Toleranz
und Emanzipation, basisdemokratische
Formen derPolitik, kreativeFormen der
Selbstverwirklichung sowie der Abbau
vonHierarchien und patriarchalen Struk-
turen setzten sich auf breiter Linie durch.
Mit dem Ende des Kalten Krie-
ges wurde die inklusive Haltung sogar
so selbstverständlich und ihr Erfolg so
durchschlagend, dass derPolitikwissen-
schafter FrancisFukuyama1989 das
Ende der Geschichte gekommen sah –
und zwar aufgrund einer partizipativen
Einbindung aller Gruppen: durchTeil-
habe sowohl amWohlstand als auch an
den politischen Entscheidungen in den
liberalen Demokratien. In derTat folgte
nach demFall der Berliner Mauer eine
zweite, diesmal aussenpolitisch-diploma-
tische Inklusionswelle: diejenige der Glo-
balisierung und also derAuflösung des
Block-Denkens zugunsten offener poli-
tischer und wirtschaftlicher Netzwerke.

Gegenwärtig aber stösst das «lange
1969» an Grenzen, seine Grundhaltun-
gen schwinden.Esist leicht zu erkennen,
dass inklusive und partizipative Demo-
kratien nicht mehr der natürliche Ziel-
punkt der Geschichte sind. Mehr noch:
Es scheint ein erstaunliches Misstrauen
gegenüber den inklusiv denkenden «Eli-
ten» entstanden zu sein – vonPopulisten
werden sie bestenfalls als naive «Gut-
menschen» und schlimmstenfalls als
Handlanger einer weltweitenVerschwö-
rung angesehen.
Wie konnte es dazukommen? Einen
interessanten Ansatz liefert ausgerech-
netFrancisFukuyama, der in seinem
neuesten Buch «Identity» die Krise am
Streben nachkollektiverAnerkennung
oderWürdigung spezifischer Gruppen-
identitäten festmacht.

ExklusiveIdentitäten


Das Würdigen scheint zwar einerseits
viel mit einem inklusivenGestus zu
tun zu haben,denn wen man inkludiert,
den würdigt man auch,indem man ihm
Rechte verleiht. Andererseits sind In-
klusion und Identität aber auch Gegen-
begriffe.Identität braucht die Abgren-
zung von anderen, um das Eigene zu
erkennen: Sie ist exklusiv, und so ist es
schwer, sie mit einer inklusiven Haltung
zu vermitteln, in der die allgemeineTeil-
habe und dieToleranz im Zentrum ste-
hen. Es bildet sich folglich eine merk-
würdige Gemengelage aus zwei Aner-
kennungsansprüchen: jenem auf Ab-
grenzung und jenem auf Einbindung.
DieserWiderspruch scheint so lange
unbemerkt geblieben zu sein, wie man
Identität nur Minderheiten zubilligte.
Zu Beginn des Zeitalters der «Involu-
tion» kam dennauch kaum einVertreter
der Mehrheitsgesellschaft auf die Idee,
für sich selbst Identitätsschutz zu bean-
tragen – dafür war man zunächst zu pro-
gressiv und später zu postmodern: an-
fangs hätte man die eigene kulturelle
Identität für gestrig und später für ideo-
logischkonstruiert und ergo dekon-
struierenswert erachtet.
Heute ist das anders. Einerseits
haben imVerlauf der Zeit immer mehr
Minderheiten dasRecht auf den Schutz
ihrer Identität eingeklagt – und sich da-
bei immer weniger untereinander soli-
darisiert. Diese Entwicklung ist ver-
ständlich:Wenn Minderheiten einerin-
toleranten und exklusiven Mehrheit
gegenüberstehen, teilten sie mit dem
Leid auch die Hoffnung auf eineVerän-
derung.Ist die Mehrheitaber tolerant

und ist das Ziel die Einbindung, dann ist
die erfolgreiche Strategie nicht mehr die
Solidarisierung, sondern der Kampf um
Anerkennung für die je eigene Identität.
Andererseits hat vor diesem Hinter-
grund nun eben sogar die Mehrheit be-
gonnen, auf eine Identität zu pochen.
Was in den letztenJahren zunächst in
der kleinen identitären Bewegung auf-
gekommen ist und inzwischen in fast
alleneuropäischen Parlamenten von
recht stark angewachsenen Parteien
kundgetan wird, zeugt davon, dass der
Kompromiss zwischenIdentität und In-
klusion nicht mehr funktioniert.

Freundoder Feind


MitVerwunderung und erstaunlicher
Verzögerung nimmtdie inklusive Ge-
sellschaft wahr, dass sie sich nicht nur
mit bunten und solidarischen Minder-
heiten auseinanderzusetzen hat,son-
dern auch mit antisemitischen Migran-
ten, mitrechtsradikalen Homosexuel-
len, mit xenophobem«WhiteTr ash» und
miteiner populistischen Bewegung, die
die Identität des jeweiligenVolkes wah-
ren will: mit kleinen und grossen, jeweils
auf Identitäts- und Anerkennungsrechte
pochenden Gruppierungen, die sich auf
sehr unzuverlässigeWeise miteinander
solidarisieren und entsolidarisieren.
Die populistische Bewegung hat da-
bei in der offenen und inklusiven Ge-
sellschaft sogar ihren grösstenFeind ent-
deckt. Dievon den«69ern» errichtete
Gesellschaft stellt sie alsFremdkörper
dar: als eine verblendete oder bösartige
globale Elite, die dasVolk gefährde.
Gerade dort, wo Menschen sich in ihrer
Identität als«Volk» verstehen, scheint
also durch die Hintertür jenesFreund-
Feind-Denken in diePolitik zurückzu-
kehren, das seit1969 scheinbar so erfolg-
reich überwunden worden war.
Jestärker dieseTendenz wird, desto
mehr droht die Inklusion auch von der
aussenpolitischen Agenda zu verschwin-
den; auch hier werden Bündnisse in-
stabiler, und auch hier vertiefen sich
die Gräben zwischen «Freunden» und
«Feinden».Gerade in dieser Zeit wäre
es wichtig, den Prozess zu verstehen,
der vor 50Jahren begonnen hat. Denn
er hat ein Erfolgsmodell geschaffen, des-
sen Errungenschaften man leicht für viel
selbstverständlicher hält,als sie es sind.

JanSöffnerist Professor für Kulturtheorie
und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität
Friedrichshaf en.

Nach1969 forderte manRechte statt einesSystemwechsels.ImBildVertreter sexueller Minderheiten 1975 in NewYork. PETER KEEGAN / GETTY

Der Gesinnungs-
und Strategiewandel
der Studentenbewegung
wurde zuerst von
den überzeugtesten
Revolutionären
bemerkt, denen dieser
nicht gefallen konnte.

In Zusammenarbeit mit

ALTENPFLEGE4.0

29 .ACUASGINO–TH (^2) E (^8) AT.ERSWEINPTE (^2) R (^0) TH (^1) U (^9) R

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