Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

38 FILM Donnerstag, 29. August 2019


In den Strassen von Paris findet Rudolf Nurejew zu sich selbst


Ralph Fiennes erzählt in «The White Crow», wie der berühmteste Balletttänzer des 20.Jahrhunderts in den Westen floh


NINA JERZY


Er sollespäter wiederkommen, ruft die
Putzfrau Rudolf Nurejew zu. Doch der
jungeRusse harrt im Morgengrauen vor
denToren des Louvre aus. Er ist gekom-
men, um «Das Floss der Medusa» zu se-
hen. Mehr als das: Er will das Gemälde
von Théodore Géricault mit nieman-
dem teilen. Nurejew gehtkeine Kom-
promisse ein, lässt sich nichts sagen –
erst recht nicht vom KGB. EinigeTage
später wird der berühmtesteBalletttän-
zer des 20.Jahrhunderts während eines
Gastspiels dem Geheimdienst entkom-
men und in denWesten fliehen.
Der britische Schauspieler Ralph
Fiennes wählt diesen Schlüsselmoment
als Ausgangspunkt seiner drittenRegie-
arbeit.Wenige Wochen vor dem Ber-
liner Mauerbaureist Nurejew imJuni
1961 mit dem Leningrader Kirow-Bal-
lett (heute:Mariinski-Ballett) nachParis.


Der aufstrebende Stern am sowjetischen
Balletthimmel geniesst das Nachtleben
und begeistert das Publikum.Vor allem
aber ist Nurejew in gewisserWeise end-
lich angekommen.

Der «Brandodes Balletts»


«Obwohl ichkein grosses Interesse am
BalletthatteundnichtvielüberNurejew
wusste,warichvonderGeschichteseines
frühen Lebens ergriffen», erinnert sich
Fiennes an die Lektüre der 2007 erschie-
nenenBiografievonJulieKavanagh.Die
britischeJournalistinzeichnetdasLeben
des Tänzers (1938–1993) bis zu dessen
Aids-Tod nach.Fiennes und Drehbuch-
autorDavid Hare («The Reader»)kon-
zentrieren sich hingegen auf die Zeit bis
zumdramatischenAntragaufpolitisches
Asyl am Flughafen Le Bourget.
Fiennes ergänzt die Gegenwart durch
Rückblenden, deren Erkenntnisgewinn

sich in Grenzen hält. Nurejews ärm-
liche Kindheit in Ufa beschränkt sich
au f wenige Szenen in Schwarz-Weiss.
MehrRaum erhält seineAusbildung am
Choreografischen Institut Leningrad,
einer der berühmtestenBallettschulen
der Welt. Mit17 Jahren ist derJugend-
liche aus der Provinz eigentlich schon
zu alt für dieAusbildung. Das hält ihn
nicht davon ab, den besten Lehrer von
allen zu verlangen. Die Unverschämt-
heit zahlt sich aus: Der legendäreBal-
lettmeister Alexander Puschkin (Fien-
nes) nimmt Nurejew unter seineFittiche.
Puschkin trainierte später auch
MikhailBaryshnikov. Der gilt imVer-
gleich mit Nurejew als der elegan-
tere Tänzer. Vorläufer Vaslav N ijin-
sky (1889–1950) hatte die perfektere
Sprungtechnik. Doch selbst heute wird
Laien bei derFrage nach einemBallett-
virtuosenvermutlich am ehesten Nure-
jew einfallen.Als den «Brando desBal-

letts» bezeichnete ihn einst passend die
«NewYork Times».Bei seinerTechnik
war nichtPerfektiondas Ziel, sondern
unmittelbare Menschlichkeit. Nurejew
verführte die Zuschauer, zog sie in sei-
nen Bann. Er verlieh selbst den männ-
lichenRandfiguren des klassischenBal-
letts eine Sinnlichkeit, die in den wilden
Sechzigern den Zeitgeist traf.

Können stattfühlen


Von all dem istin «The White Crow»
nicht viel zu spüren.Authentizität über-
trumpftTranszendenz.Fiennesentschied
sich für russischsprachigeDarsteller und
Untertitel. Die Hauptrolle ging an den
ukrainischenBalletttänzer Oleg Ivenko.
Ein Schauspielerwärevielleicht die bes-
sereWahl gewesen. Ivenko besitzt frag-
loskörperlichePräsenz.SeineMimikbe-
schränkt sich allerdings meist auf eine
MischungausTrotzundArroganz.Umso

stärkeristderEindru ck,denAdèleExar-
chopoulos («LaVie d’ Adèle») als Nure-
jews Schutzengel Clara Saint hinterlässt.
Wahrhaft lebendig werden derFilm
und sein Hauptdarsteller seltsamer-
weise nicht auf der Bühne, sondern in
den Strassen und Museen vonParis.
Nurejew erlebt dort, was wahreKunst
ist:einSpiegeldesMenschseins,dernoch
Jahrhunderte später den Betrachter auf
sich selbst zurückwirft. Die alten Meis-
ter greifen scheinbar das Leben desTän-
zers auf – von den Muskeln gemeisselter
MännerkörperbiszurerstenUmarmung
mit dem aus dem Kriegzurückgekehr-
ten Vater. Die lichtdurchflutete Sainte-
Chapelle lehrtihn Demut,Géricault mit
seinemFlossschiffbrüchigerKannibalen
den schmalen Grat zwischen Leid und
Schönheit.«RudolfNurejewimLouvre»
wäre ein phantastischerFilm geworden.
DiesesPorträteinesMeistersimWerden
bleibt jedoch aussen vor.

Ein Filmfestival überwindet Grenzen

Für das Doku-Fest pilgert ein internationales Kinopublikumjedes Jahr inden Süden Kosovos


FRANZISKA TSCHINDERLE, PRIZREN


Zwanzig Minuten bevor derFilm be-
ginnt, ruft der Imam zum Gebet.Für
ein paar Minuten hebt sich sein Gesang
über denLärmpegel derStadt – die
röhrendenAutos, das Stimmengewirr
in den Strassen, die albanischePop-Mu-
sik in denRakia-Bars und Grillrestau-
rants.Von den Minaretten tönt der Ge-
sang bis zur mittelalterlichen Burg hin-
auf, die über der Stadt thront. Es ist ein
mahnenderRuf, dem niemand folgt.
Am Eingang der Burg hat jemand
einenKühlschrank angeschlossen und
verkauft Bierflaschen. Die Besucher las-
sen sich in einer Arena mit Holzbänken
und Sitzpolstern nieder.Vor ihnen eine
weisse Leinwand, über ihnen der Mond.
Man hört dasRascheln vonPapiertüten,
in die das Burek der stadtbekannten
bosnischenBäckerei eingewickelt ist.
Zigaretten glimmen in derDunkelheit.
Bevor derFilm beginnt, hält man einen
Moment inne – gibt es einen schöneren
Ort, um insFreiluftkino zu gehen?


Älterals derStaatKosovo


Prizren isteine von den Osmanen ge-
prägte Stadt im Süden vonKosovo, um-
geben von Gebirgszügen, unweit der
Grenze zu Albanien und Mazedonien.
Einmal imJahr,AnfangAugust, ver-
wandelt sich die verschlafene Altstadt
in einen Ameisenhaufen. Die Hotels
sind ausgebuchtund die Strassenzupar-
kiert. Über 25000 Besucher gab es die-
ses Jahr, davon auffallend viele aus der
Schweiz. Die Diasporareist zum Hei-
maturlaub an.Viele machen in Prizren
halt, um mit Freunden undVerwandten
Kaffee zu trinken.
Grund für denAuflaufist das Doku-
Fest. InKosovo, dem jüngsten Staat
Europas, ist dasFilmfestival eineKultur-
institution, die über dieLandesgrenze
hinweg wahrgenommen wird:Das ame-
rikanische Magazin «Movie Maker»
wählte es in seine Liste der «25 coolsten
Filmfestivals derWelt». Auf neunTage
verteilt werden über180 Dokumenta-
tionen undKurzfilme gezeigt. Unter-
tags in abgedunkelten Kino- oderThea-
tersälen,in denen man in bequemen
Klappsesseln versinkt,während dieVen-
tilatoren surren,amAbend unter freiem
Himmel.Am Ufer des Lumbardhi-Flus-
ses, über den sich eine wunderschöne,
von den Osmanen gebaute Steinbrücke
spannt.Oder oben auf derFestung – ein
Kulturdenkmal aus dem11.Jahrhundert.
Eine ganze Nachkriegsgeneration
ist mit dem Doku-Fest aufgewachsen.
Menschen wie der jungeRegisseur Le-
art Rama, 22, der als Nachwuchstalent
in derFilmszene vonKosovo gilt. Es ist
eine kleine Industrie, die sich nach dem
Krieg selbst erfinden musste und heute
mit fehlenderFörderung zu kämpfen


hat. Rama machtFilme, seit er16 Jahre
alt ist, oft mit autobiografischem Cha-
rakter. Das Doku-Fest bezeichnet er als
«meine zweiteFamilie».
Hier hat er sein Handwerk gelernt
und seine erstenFilme gedreht. Mitt-
lerweile steht sein Name selbst im Pro-

grammheft. Sein neuesterFilm «Seam»
feierte diesesJahr Premiere am Doku-
Fest. Er handelt von einem jungen
Mann, der in einer traditionellen,kon-
servativ geprägten Kleinstadt in Nach-
kriegskosovo aufwächst, Schauspieler
werden will,aber sich das Leben nimmt.
Rama war vier Jahre alt, als das
Doku-Fest 2001 zum ersten Mal statt-
fand, zweiJahre nach dem Krieg. Das
Festival ist somit älter als der Staat, der

2008 seine Unabhängigkeit von Serbien
erklärte. Bis heute schwelt derKonflikt
mit dem Nachbarn, der die Abspaltung
seiner mehrheitlich von Albanern be-
wohnten ehemaligen Provinz nie an-
erkannt hat.BeideLänder – Kosovo und
Serbien – wollenTeil der Europäischen
Union werden.

Eingesperrt im eigenenLand


Der Weg dorthin ist so holprig wie das
Kopfsteinpflaster in Prizren. Ein seit
2011 von Brüssel forcierter Normali-
sierungsdialogführte ins Nichts. Es sind
jungeMenschenwieLeartRama,diedie
Blockade zu spüren bekommen.Kosovo
istdaseinzigeLandEuropas,dessenBür-
ger nicht visafrei in den Schengen-Raum
einreisen dürfen.Wenn Rama insAus-
land eingeladen wird, um seineFilme zu
zeigen, muss er meist absagen, weil ihm
die Botschaftenkein Visum ausstellen.
Wie ist das, im eigenenLand ein-
gesperrt zu sein? Die niederländische
Regisseurin KatjaVerheul hat es in
ihremKurzfilm«Toni and Bleri» humo-
ri stisch auf den Punkt gebracht.Da ste-
hen zweiKosovo-Albaner auf einem
Flachdach der Hauptstadt und bauen
eine Rakete, um abzuhauen.«Wir sit-
zen in einemLand fest, das jeder be-
treten kann», sagt einer der Brüder
zum anderen.

DerDialogbeschreibteinParadoxon:
Über dieJahre hat Pristina Hunderte
von Entwicklungshelfern, Diplomaten
und Beamtenkommen und gehen se-
hen.Aber Menschen wieToni und Bleri
dürfen dieLänder, aus denen diese «in-
ternationals» entsandt werden,nicht be-
reisen, Regisseure wie LeartRama kön-
nen nichtan die Premieren ihrer eige-
nen Filme.Veton Nurkollari,Programm-
direktor desFilmfestivals, bezeichnet
die fehlendeReisefreiheit als eines der
grössten Hindernisse für jungeTalente.
Wer sich für die Nachfolgestaaten des
ehemaligenJugoslawien interessiert, fin-
det am Doku-Fest eineReihe vonFil-
men mitBalkan-Bezug.Dokumenta-
tionen über die Suche einer architek-
tonischen Identität der mazedonischen
Hauptstadt Skopje. Interviews mitAlba-
nern, die zur Zeit desKommunismus in
Straflager gesteckt wurden. EinFilm
über den Prozess gegen den bosnisch-
serbischen Ex-GeneralRatko Mladic,
bekannt als «Schlächter vomBalkan».
Diesjähriges Highlight war die BBC-
Dokumentation «Forgiving the Blood»
der britischenRegisseurin Melissa Lle-
welyn-Davies.1991 begleitete sie eine
kosovarischeFamilie, die ihren Nach-
barn Blutrache schwor, weil diese einen
ihrer Söhne getötet hatten. Programm-
direktorNurkollari hofft, dass es in den
nächstenJahren eineWelle von nationa-

len Produktionen geben wird.«Vor zehn
Jahren gab es garkeine Förderungen für
heimischeFilme», sagt er. Mittlerweile
liegt dasFörderbudget bei einer Million
Euro jährlich.
Von etwaigen finanziellen Engpässen
bekommen die ausländischen Besucher
nichts mit. InVergleich zuWesteuropa
sind die Preise sehr tief. Ein Cappuccino
kostet rund einenFranken, für einen
Schwarztee zahlt man vierzigRappen.
Filmtickets gibt es zumFixpreis von um-
gerechnet 2Franken 70.Für ein Abend-
essen in einem traditionellenRestaurant
legt eineFamilie nicht mehr als zwanzig
Franken aus.
UmMitternacht,wenn der letzte
Film endet,pilgern die jungen,partyaffi-
nen Besucher flussabwärts. Nach fünf-
zehn Minuten steht man auf einem von
steilenFelswänden umgebenen Sport-
platz, der zu einemFestivalgelände um-
gew andelt wurde. Die Menge tanzt zu
Techno und House,zuamerikanischem
und zu albanischemRap. Kosovaren aus
der Diaspora, hier «Schatzis» genannt,
tippen einem auf die Schuler und fragen:
«Nga jeni?» –«Woher kommst du?», um
dann in fliessendem Schweizerdeutsch
weiterzureden, weil sie unter demJahr
in Luzern oder Zürich leben.

Schlafzimmervermietung


Wer frühmorgens nach Hause geht –
müde vomTanzen, beduselt vonRakia–,
hört ihn wieder rufen, den Imam. Dies-
mal zum Morgengebet. Man überlegt,ob
mandieFüsseindenFlusshaltensoll,und
biegt dann doch ab, in das Gassengewirr
von Prizren hinein mit seinen tief hän-
genden Stromkabeln,dem glattpolierten
Kopfsteinpflasterund den herumstreu-
nendenHunden.«Natënemirë»–«Gute
Nacht»,rufensichdieGrüppchen,diege-
rade noch nebeneinander getanzt haben,
zu.DannverteilensiesichaufdieHäuser
in der Nachbarschaft, derenTüren rund
um die Uhr offen stehen.
Einheimische schlafen während des
Doku-Fest imWohnzimmer und ver-
mieten ihre Schlafzimmer. Die Gast-
freundschaft wird in Prizren hochgehal-
ten.Wenn man Glück hat,kehrt man bei
Familien wie Cipa-Laciein.Agnesa, die
Hausfrau,kocht am Morgen tiefschwar-
zen türkischen Kaffee. Bujar, der Haus-
herr, verkostet abends seinenselbst-
gebrannten Birnenschnaps, knackt Ha-
selnüsse undkommentiert den laufen-
den Fussballmatch.Kommt man spät in
der Nacht nach Hause, schleicht man die
knarrende Holztreppe nach oben.Ein
bisschen wie damals, als man noch bei
den Eltern gewohnt hat.

FranziskaTschinderleist freieReporterin
und lebt in Tirana. Sie besuchte das Doku-Fest
auf Einladung von Swisscontac t.

Ein Abend unter freiem Himmel amDoku-Fest in Prizren. PD

Programmdirektor
Veton Nurkollari
bezeichnet die fehlende
Reisefreiheit als eines
der grössten Hinder-
nisse für jungeTalente.
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