Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 FEUILLETON 39


«Unsere schwarze Jeanne d’Arc!»

Keiner macht der Bürgerrechtlerin Ha rriet Tubman den Platz in der Geschichte streitig. Ausser Donald Trump


ANJASTEINBUCH UND MICHAEL MAREK


ErnestineWyatt ist sauer – und mehr
als das. «Ich bin wütend, böse und ent-
täuscht», fasst die Mittsechzigerin ihren
Gemütszustand zusammen. Mit ihrer
kleinen Statur und ihren leuchtenden,
wachenAugen sieht die Afroamerika-
nerin ihrer berühmtenVorfahrin, der
Sklavenbefreierin Harriet Tubman,
frappierend ähnlich. Als wir sie in einer
Hotellobby in Washingtons histori-
schem, quirligem Stadtteil Georgetown


begrüssen, ist ihr Händedruck warm und
herzlich, aber schwach. Sie wirkt müde.
Für WyattsFamilie – und nicht nur für
sie – ist ein langgehegter Lebenstraum
geplatzt.Vorerst jedenfalls. Ende Mai
hatte der amerikanischeFinanzminis-
ter Steven Mnuchin verkündet, dass die
Regierung denDruck derneuen 20-Dol-
lar-Note zu Ehren von HarrietTubman
gestoppt und auf 2028 verschoben habe.
Ein Beispiel mehr dafür, dass Donald
Tr ump vieles tilgen und vergessen ma-
chen wolle, was die Ära Obama hinter-
liess, sagt ErnestineWyatt. «Damals, in
den1960erJahren, wurden Schwarze als
minderwertig und unsere Geschichte für
unwichtig angesehen. Diese Einstellung
ist sehr gefährlich! Und sie darf nicht
wiederkommen.»
HarrietTubman, die Heldin aus Ge-
schichts- und Kinderbüchern undRet-
terin Hunderter Sklaven, wird also nicht
als erste schwarzeFrau eine Dollar-Note
zieren. Die offizielle Begründung: Man
wolle dieFälschungssicherheit garantie-
ren. Aber hier handelt es sich nicht um
eine gewöhnliche Umgestaltung einer


gewöhnlichenBanknote. Es geht um
dieWahl zwischen dem Präsidenten und
SklavenhalterAndrewJackson (der den
jetzigen 20-Dollar-Schein ziert) und der
Freiheitskämpferin HarrietTubman.
«Nur zwei Frauen haben es bis-
her in den USAauf eine Geldnote ge-
schafft», gibtWyatt zu bedenken. «Mar-
thaWashington undPocahontas. Und
di e bittereRealitätist leider – beide
Scheine werden nicht mehr gedruckt!»
Vor dreiJahren, alsBarack Obama
noch Staatsoberhaupt war, schien man
dem Ziel schon ganz nah: «Es hiess, die
Vorlage des Motivs sei bereits angefer-
tigt. Man müsse nur noch die Druck-
walzen anstellen.»Kurz nach der Amts-
einführung von DonaldTr ump war zu
hören,manhabe andere Prioritäten. Der
neue Präsident bezeichnete die Pläne
dann als «reine politischeKorrektheit»;
bekannt ist allerdingsauch,dassTr ump
AndrewJackson, der von1829 bis 1837
amtierte und seit1928 auf der Note zu
sehen ist, sehr bewundert.

Tapfer und selbstlos


Die1822 geborene Sklavin undFrei-
heitskämpferin HarrietTubman ist in
den USA eine Legende. Nur150 Kilo-
meter östlich der Hauptstadt arbeitete
sie bereits sechsjährig für weisseFar-
mer.Als 27-Jährige schloss sie sich der
klandestinen Fluchthelfer-Organisation
UndergroundRailroadan. Nichtnur hat
sie zahlreichen Sklaven aus den Südstaa-
ten zur Flucht in dieFreiheit verholfen;
sie kämpfte auch im Bürgerkrieg für die
Union gegen die Südstaaten.
Die auf historischen Bildern stets
energisch blickendeFrau, die weder le-
sen nochschreibenkonnte, befreite Ge-
fangene, pflegte als Krankenschwester
verwundete Soldaten und kundschaf-
tete unter Lebensgefahr Stellungen der
Konföderierten aus. Dabei hatteTub-
man infolge einer schwerenKopfver-
letzung, die unbehandelt blieb, schon
seit ihrer Kindheit mit gesundheitlichen
Beeinträchtigungen zu kämpfen. Eine
«schwarzeJeanne d’Arc» nennt Ernes-

tineWyatt,Tubmans Urururgrossnichte,
ihre tapfereVorfahrin. «Alles, was sie
hatte, teilte sie mit andern. Und sie hatte
diese Bauernschläue. Sie wusste genau,
wie sie an Spenden für ihre Fluchthilfe
kommenkonnte. Aber sie hat nie etwas
für sich selbst behalten.»Tubman habe
eine sehr christliche Haltung gehabt,
resümiertWyatt: «Das hat auch meine
Familie und meine Erziehung geprägt.»
Ironie der Geschichte:Für ihr En-
gagement im Bürgerkrieg wurde Harriet
Tubman erst kurz vor ihremTod 1913
gewürdigt – mit einer monatlichenVete-
ranen-Rente in Höhe von 20 Dollar.
ErnestineWyatts eigeneFamilien-
geschichte spiegelt die Geschichte der
schwarzen Bürgerrechtsbewegung wi-
der.Als Kind hatte sie ihrer besonderen
Herkunft noch nicht viel abgewinnen
können. Als sie in der Schule das erste

Mal erwähnte, dass sie mit HarrietTub-
man verwandt sei, glaubte ihr niemand.
«Ich habe dann einfach nichts mehr er-
zählt. Meinen Geschwistern ging es ge-
nauso.» Erst an der Highschool in Buf-
falo, Ende der1960erJahre, habe sie ge-
spürt, dass sich etwas veränderte: «Da-
mals demonstrierten wir während des
Unterrichts.Wir fordertenKurse in afro-
amerikanischer Geschichte. Und das
haben wir dann auch erreicht.»
Sie selbst erfuhr, wie ihreVorfah-
ren aus Afrika auf den nordamerika-
nischenKontinent verschleppt wurden.

Mitte des19.Jahrhunderts kamen sie
in Cambridge an – einemKüstenstädt-
chen im Gliedstaat Maryland, von dem
aus die Überlebenden der unmensch-
lichen Schiffstransporte ins ganzeLand
verkauft wurden.
ErnestineWyattsAugen leuchten
für einen Moment: «Mein Ururgross-
vater gehörte zu den berühmten Dover
Eight.Das war eine Gruppe von Skla-
ven, die durch eine mutige Fluchtaktion
in Dover, nicht weit von Cambridge ent-
fernt, der Leibeigenschaft entkommen
konnten.» Diese und andere Details über
ihreFamilie hat sie erst vor wenigenJah-
ren durch ihreArbeit für das neueTub-
man-Museum in Maryland erfahren, das
UndergroundRailroadVisitor Center.
Den angeschlossenen Nationalpark mit
einerRoute «auf den Spuren vonHarriet
Tubmans Leben» hatteBarack Obama
persönlich eröffnet.Wyatt: «Das war ein
Wendepunkt für mich. Ich war mir sicher,
dass nun eine späteWiedergutmachung
kommen würde.»

Die Relevanzbleibt


Heute ärgert sich ErnestineWyatt
manchmal darüber, dass sie ihre Gross-
mutter, die eine verschlossenePersön-
lichkeit gehabt habe, nicht mehr nach
ihren Erinnerungen an HarrietTubman
befragt hat. Sie vermutet, dass dieWun-
den,welche die Sklaverei hinterlassen
hatte, in den1950erJahren noch nicht
verheilt waren. Man sprach nicht dar-
über. Und wie ist es heute?«Schwierig,
sehr schwierig», sagt die Nachfahrin. Sie
verstehe die Haltung des derzeitigen Prä-
sidenten nicht. «Harriet wird immerTeil
der US-Geschichte sein.Afroamerikani-
scheFamilien, Organisationen und Kir-
chen werden weiter von ihr erzählen.»
Tubman unddie neue20-Dollar-Note
sind nicht nur für ErnestineWyatt zum
Politikum geworden. «DieRelevanz
bleibt», ist sie überzeugt. «Egal wie die
Tr ump-Regierung entschieden hat, ich
werde weiter über HarrietTubmanre-
den,sie in den Mittelpunkt stellen, denn
sie ist und bleibt einVorbild für uns.»

Eine Heldin mit vielen Gesichtern: Collageaus Porträts derFreiheitskämpferinHarrietTubman. TUBMAN VISITOR CENTER


Für ihr Engagement
wurde HarrietTubman
erst kurz vor ihremTod
1913 gewürdigt –
mit einer monatlichen
Ve teranen-Rente
in Höhe von 20 Dollar.

ErnestineWyatt
Urururgrossnichte
TUBMAN VISITOR CENTER von HarrietTubman

STICHWORT

«Mittelstand»


KLAUSBARTELS

ImWahlkampf hat der «Mittelstand»
Saison.So jung dasWort scheint: Es
stammt wie die «Demokratie» aus
Athen, und seinen erstenAuftritt hatte
es – auf Griechisch, versteht sich –
in einer euripideischenTr agödie, im
Munde des mythischenKönigsTheseus:
«DreiTeile sind’s von Bürgern; erst die
Reichen: / Unnütz sind die und voller
Gier nach mehr; / die Armen dann, die
nichts zu beissen haben: / Die sind ge-
fährlich,vollerNeid undHass, / undkeh-
ren ihre Stacheln gegen jene, / von üblen
Volksverhetzern angeführt. / Der Dritt-
teil in der Mitte trägt die Staaten / und
schützt die Ordnung, die der Staat sich
gibt.» Und in derFolge hat Aristoteles
diese «Mittleren» als den staatstragen-
den Stand gewürdigt und in den politi-
schenWortschatz eingeführt:
«In allen Staaten gibt es diese drei
Teile der Bürgerschaft: die überaus
Reichen, die überaus Armen und als
Dritte die Mittleren – die mésoi – zwi-
schen diesen.Danun anerkanntermas-
sen das Massvolle und damit das Mitt-
lere das Besteist, so ist offenkundig
auch bei den Glücksgütern der mittlere
Besitz der beste von allen. Denn die-
ser hat es am leichtesten, derVernunft
zu gehorchen; dem übermässig Schö-
nen oder Starken, übermässigVorneh-
men oderReichen dagegen oder deren
Gegenstücken, dem übermässigArmen
oder Schwachen oder ganz und gar Ge-
ringgeschätzten, fällt es schwer, derVer-
nunft zufolgen. Denn dieErsten werden
eher zuRechtsverächtern und Kriminel-
len im Grossen, die anderen allzu leicht
zu Betrügern und Kriminellen im Klei-
nen; zuRechtsverletzungenkommt es
im erstenFall aus Selbstüberschätzung,
im zweiten aus niedererGewinnsucht.
Auch drücken sich diese Mittleren am
wenigsten vor den politischen Ämtern
oder drängen sich zu ihnen; beides ist für
den Staat ja gleicherweise unzuträglich.
Dazukommt: Die im Überfluss von
allen Glücksgütern leben, von Stärke,
Reichtum,Freunden und anderen sol-
chen Gütern, sind weder willens noch
fähig,sich einer Herrschaft zu fügen,
und das zeigt sich gleich von Haus aus
bei den Kindern: In ihrerVerwöhntheit
sind sie ja schon in der Schule nicht ge-
wohnt, sich etwas sagen zu lassen. Die
dagegen im Übermass Mangel leiden an
alledem, sind allzu unterwürfig. So sind
die einen nicht fähig, irgendeine Herr-
schaft auszuüben, sondern allenfalls, sich
einer knechtenden Herrschaft zu unter-
werfen, die anderen nicht fähig, sich
irgendeiner Herrschaft zu fügen, son-
dern allenfalls, eine herrische Herrschaft
auszuüben.Daraus kann nur ein Staat
von Knechten und Herren werden, nicht
einer von freien Bürgern, nur ein Staat,
in dem die einen mit Missgunst und
Neid, die anderen mit Geringschätzung
auf die Gegenseite sehen.Das aber ist
weit entfernt vonFreundschaft und so
auch von politischer Gemeinschaft. [...]
Aus alledem geht klar hervor, dass die
politische Gemeinschaft die beste ist, die
sich auf diese Mittleren stützt, und dass
solche Staaten politisch in guterVerfas-
sung seinkönnen, in denen der Mittel-
stand stark ist und sich gegen die äus-
serenTeile der Bürgerschaft durchsetzen
kann – im bestenFall gegen beide zu-
gleich oder sonst doch wenigstens gegen
einen der beiden. Denn dann kann sein
Gewicht, der einen oder anderen Seite
zugelegt, jeweils denAusschlag geben
und verhindern, dass es zu einem Über-
gewicht der entgegengesetzten Seite
kommt.Daher ist es der grösste Glücks-
fall, wenn in einem StaatdieBürger
durchweg über einen mittleren und da-
bei doch hinreichenden Besitz verfügen.»
Aristoteles hat nie zu den Schul-
autoren gezählt, und so ist dieser vier-
undzwanzigJahrhunderte alte Glück-
wunschder altathenischen Demokratie
an die Schweiz und ihren starken Mittel-
stand weithinunbestellt geblieben.Jetzt
imWahljahr sei er wieder einmal aus-
ge richtet!

Die Überse tzung des Zitats aus der «Politik»
des Aristote les istübern ommen aus Klaus Bar-
tels’ Buch «Jahrtausendworte – in die Gegen-
wart gesprochen», das im Rombach-Verlag er-
schienenist.
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