Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

4INTERNATIONAL Donnerstag, 29. August 2019


«Wir bezahlen


für den Klimawandel»


König TupouVI. von Tonga im Gespräch


Der Klimawandel wirkt sich auf den
Südpazifik stark aus. In welchemAus-
mass ist Ihr LandTonga betroffen?
Es betrifft uns stark. Das, was den Klima-
wa ndel auslöst, produzieren wir kaum.
Doch wir bezahlen dafür.Tongaist zum
grösstenTeil nur wenige Meter über
dem Meeresspiegel gelegen. Die meis-
ten Menschen leben fünf bis zehn Meter
vom Wasser entfernt.Jeglicher Anstieg
des Meeresspiegels betrifft uns daher
direkt.Auch unser Grundwasser, aus
dem wir unserTrinkwasser gewinnen, ist
in G efahr. Der Druck vom Meerwasser
steigt, und das Grundwasser wird sal-
ziger. Das geschieht bereits heute. Da-
neben erodiert unsereKüste vor allem
durch Tsunamis und Zyklone.

Naturkatastrophen kommen im Süd-
pazifik häufig vor, zumTeil werden
sie durch den Klimawandel verheeren-
der.Wie kann sich ein kleines Land wie
Tonga darauf vorbereiten?
Wir können nicht wirklichviel machen.
Wir sindkein Industrieland, wir haben
nicht viel Einfluss.Wir können nur hof-
fen, dass multilateraleForen wie die
Uno oderregionale Organisationenim
Pazifik uns vielleicht helfenkönnen.

In den letztenJahren ist im Südpazifik
China stärker aufgetreten.Was bedeu-
tet das fürTonga, dass sich eineweitere
Weltmacht für dieRegion interessiert?
Ich sage es einmal so: InTonga gibt es
keine amerikanische Botschaft. Aber

eine japanische undein e chinesische.
Die Briten sind zurückgekommen,nach-
dem sie gegangen waren. Sonst sind noch
Australien und Neuseeland präsent.

Mit dem Interesse der Chinesen enga-
gieren sich auchwestliche Länder wie
Australien oder die USA wieder stär-
ker im Südpaz ifik. Ist dieserWettb e-
werb etwas Gutes oder etwas S chlech-
tes fürTonga?
Ich weiss nicht.Das wird uns die Ge-
schichte zeigen.Aber es geht nicht nur
um die USA und China,Frankreich ist
auch eine Grossmacht imPazifik, etwa
in Tahiti und Neukaledonien. Und sie
habenWallis undFutuna–mit dem wir
Grenzen und Geschichte teilen.

Erklären Sie uns bitte die Geschichte...
Die Menschen aufWallis haben tonga-
nischeWurzeln.Wir haben uns vor über
200 Jahren getrennt, verstehen aber
immer noch gegenseitig unsere Spra-
chen.Wenn wir Militärübungen mit
französischen Truppen durchführen,
haben diese manchmal Übersetzer aus
Wallis.Aber die Menschen dort verlie-
ren ihre Sprache.Vor allem dieJünge-
ren sprechen sie häufig nicht mehr, weil
sie vielfach anderswo zurWelt gekom-
men sind.

Aber auch ein grosserTeil IhrerBevöl-
kerung lebt ausserhalb vonTonga ...
...ich glaube, mittlerweile ist es mehr als
die Hälfte.

Wie verändert das die Gesellschaft,
wenn Junge inSydney oderAuckland
aufwachsen, einem ganz anderen Um-
feld alsTonga?
Viele verlieren ihre Beziehung, weil sie
ih re Wurzeln vergessen.Wenn sieVer-
wandte haben,kommen sie zurück für
Besuche. Das hilft.Das Wichtigste ist,
dass sie die Sprache beibehalten.

Was kann dieRegierung, was können
Sie alsKönig dafür tun,dass diese Leute
mit Tonga verbunden bleiben?
Die Zahlungen der Migranten sind der
grösste Input in die tonganischeWirt-

schaft:Das Total ihrer Überweisungen
ist grösser als das gesamteRegierungs-
budget. Für die Familien sind dieseZah-
lungen ein wichtiges soziales Netz.So ist
es wohl weniger wichtig, was dieRegie-
rung tut.Wichtiger ist, dass die Bezie-
hung en innerhalb vonFamilien intakt
bleiben.Natürlicherhebt dieRegierung
dann gerne Steuern darauf.

Tonga hat an regionalen Friedens-
missionen inBougainville und auf den
Salomonen teilgenommen,aber auch an
internationalen Einsätzen im Irak oder
inAfghanistan.Warum nimmt Ihr Land
an solchen Missionen teil?
Länder sollt en das machen, was siekön-
nen.Wir sind sehr klein und nicht beson-
ders reich. Unser Beitrag muss propor-
tional zu unseren Möglichkeiten sein.
Doch wir sehen es als unsere Pflicht als
Weltbürger an, teilzunehmen. In unse-
rer Region haben nurAustralien, Neu-
seeland,Fidschi,Tonga undPapua-Neu-
guinea militärische Streitkräfte. Bei den
Friedensmissionen in Bougainville und
auf den Salomonen waren aber auch
Polizisten dabei.Auf den Salomonen
zusätzlichJuristen und Lehrer. Sicher-
heit hat mehr als eine Dimension, sie
ist nicht nur physisch. Es geht auch um
Klimawandel, Umwelt oder Bildungs-
möglichkeiten.

Welche Rolle spielt das tonganische
Militär bei derVorbereitung auf den
Klimawandel?
Das Militär unterstützt dieRegierung
und die zivilen Kräfte bei Naturkata-
strophen, sei es bei einem Tsunami oder
einem Zyklon. Normalerweise sind die
Soldaten als Erste im Einsatz: Sie stel-
len dieKommunikation sicher, sie hel-
fen, Spitäler, Flughäfen und Häfen in
Betrieb zu halten, damit wir Leute eva-
kuierenkönnen, falls nötig.

Ihr Militär ist sehr klein.Besteht da
nicht die Gefahr, dass Sie bei einer Kata-
strophe zuwenig Personal haben,wenn
Sie einenTeil derTruppen insAusland
schicken?
Das gehört zu denVorbereitungen,
zur Ausbildung. Wenn eine Katastro-
phe passiert, braucht man dieTruppen
sofort.Dann kann man nicht auf ein-
mal diese Leute ausbilden. Nehmen wir
einmal einen Ingenieur: Er braucht vier
Jahre für dieAusbildung und dann viel-
leicht noch einmal so lang, um prakti-
sche Erfahrung zu sammeln. Bei einer
Naturkatastrophe brauchen wir dann
diese erfahrenen Leute auf einmal.

Was ist die grösste StärkeTongas für
eine erfolgreiche Zukunft?
Als ich jung war, dachten viele, dass es
etwas Negatives sei, wenn junge Leute
ins Ausland gehen. Man sah nur den
Braindrain. Nun merken wir, dass es
etwasPositives ist, dass Menschen in
anderen Ländern Erfahrungen sam-
meln.Viele kommen zurück, wenn sie
etwas älter und erfahrener sind.Und
leisten dann ihren eigenen Beitrag für
unserLand.
Interview:Patrick Zoll

Sofia öffnete 1989 für die türkischstämmigen Bulgaren die Grenzen, um die Minderheitloszuwerden. ANDREW HOLBROOKE / GETTY


Der grosse türkische Exodus

Vor 30 Jahren verliessen Hunderttausende Türken ihre bulgarische Heimat


ANDREAS ERNST


Kilometerlang stauten sich im Sommer
1989 dieFahrzeuge im bulgarischen Ka-
pitanAndrejewo an der Grenze zurTür-
kei. In hoch beladenenPersonenwagen,
überfüllten Bussen, aufTraktoren und
mit Handwagen wartetenTausende bul-
garischeTürken in der Sommerhitze auf
dieAusreise. So ging dasTag für Tag von
Mai bis EndeAugust.Schliesslich hat-
ten 320000 Personen Bulgarien verlas-
sen. Was war geschehen, nur Monate
vor dem Zusammenbruch deskommu-
nistischenRegimes? «Der Spiegel» be-
richtetevonVertreibung und Flucht,die
NZZ von einem Massenexodus.
DasDramahateineVorgeschichte,die
1984 beginnt. Die bulgarischeFührung
unter dem NationalkommunistenTodor
Schiwkow hatte zur nationalen«Wieder-
geburt» aufgerufen, einem Prozess,der
die türkische Minderheit (etwa 10 Pro-
zent)inderbulgarischenMehrheitsgesell-
schaft aufgehen lassen sollte. DieTürken,
so die Begründung, seien eigentlich Bul-
garen, die unter osmanischer Herrschaft
mit Gewalt islamisiert worden seien.Der
neueZwang,sodieLogik,seieineBefrei-
ung hin zum Ursprung.


Zwangsassimilierungscheitert


Die Türken mussten ihre türkisch-ara-
bischen Namen zugunsten christlicher
oder slawischer Namen aufgeben. So
wurden etwa 800000 Türken «bulgari-
siert».Wo die Namensänderung nicht
freiwillig erfolgte,wurde sie mit Gewalt
durchgesetzt. Die Miliz (Polizei) um-
stellte türkische Dörfer und zwang den
Bewohnern die neuenPersonaldoku-
menteauf. Der öffentliche Gebrauch
desTürkischen wurde verboten und Zei-
tungen durften nur noch auf Bulgarisch
erscheinen.Auch rituelle Praktiken wur-
den eingeschränkt oder, wie die Kna-
benbeschneidung, untersagt. Mancher-
orts wurden Moscheen und muslimische
Friedhöfe geschleift.
Den Grund für dieradikalen Mass-
nahmen sieht derRegensburger Ost-
europahistoriker Ulf Brunnbauer in
einem wachsenden Legitimationsdefizit
des Regimes.Eshatte seineRechtferti-
gung in früheren Jahrzehnten auf dem
anfänglich rasch wachsendenWohl-
stand unddannimmermehr aufder
Idee der «einheitlichen sozialistischen
Nation» begründet. Doch je weniger
die Planwirtschaft dasWohlstandsver-
sprechen einlösenkonnte, desto wich-
tiger wurde der bulgarische Nationalis-
mus als Integrationsklammer. Schiwkow
beunruhigten auch die Ergebnisse der
Volkszählungen, wonach die türkische
Minorität wuchs (2 Prozent imJahr),


während die ethnisch-bulgarische Be-
völkerung stagnierte.
Entgegen den Erwartungen des
Regimes versteifte sich der Protest
der Türken in ihren Siedlungsgebie-
ten im Süden und Nordostendes Lan-
des. Es entstandenWiderstandsbewe-
gungen, von denen die meisten gewalt-
los waren, einige aber Anschläge ver-
üb ten. Bei Zusammenstössen mit der
Miliz wurdenDutzendePersonen ge-
tötet. Rädelsführer – oder wen man da-
für hielt – wurden in das Arbeitslager
auf der Donauinsel Belenegesteckt.
Auch international war das Echo
verheerend. In einer Zeit,in d er die So-
wjetunion unter Michail Gorbatschow
die LosungenPerestroika (Umbau) und
Glasnost (Offenheit) ausgab, wirkten
die Massnahmen von Schiwkow dop-
pelt skandalös und wurden imWesten
laut und aus Moskau diskret kritisiert.
Mit diesem Wind im Rücken richteten
bulgarische Intellektuelle imFrühling
1989 einePetition gegen die Zwangs-
assimilation derTürken an die Natio-
nalversammlung. Spätestens jetzt wurde
Schiwkow klar, dass seinProjektge-
scheitert war. Seine Minderheitenpoli-
tik, so Brunnbauer, hatte das Sonderbe-
wusstsein derTürken gestärkt, statt es
zu schwächen.
Eine neue Strategie musste her. In
einerFernsehanspracheim Mai kün-
digte Schiwkow an, was später in Bul-
garien als «grosse Exkursion» beschö-
nigt wurde. Im Kern ging esdarum, eine
möglichst grosse Zahl von ethnischen
Türken zurAuswanderung ins benach-
barte «Mutterland» zu bewegen.Das
sollte zumindest nach aussen nicht als
Zwangsmassnahmeerscheinen, sondern
als Ausdruck einer neuenFreizügigkeit


  • einePolitik der offenen Grenzen, die
    selbstverständlich für ethnische Bulga-
    rennicht galt.


«Exkursion»oder Vertreibung?


Die administrative Umsetzung erfolgte
mit einemPassgesetz. Den Anführern
der Proteste wurden Papiere ausge-
stellt, und man forderte sie zurAusreise
auf.Bald stieg die Zahl derAntragsteller
sprunghaft. Die «Exkursion» hatte be-
gonnen.Da und dort übten die lokalen
Behörden Druck aus und drangsalierten
die ansässigenTürken. Doch vielerorts
war offener Zwang nicht mehr nötig.
Die Ungewissheit über die Zukunft im
eigenenLand, aber auch die Hoffnung
auf ein besseres Leben in derTürkei
setzten dieMenschen in Bewegung.Tag
für Tag verliessenTausende die Heimat.
Der plötzliche Andrang brachte die
Türkei in eine schwierigeLage.Verbal
hatte sich dieFührung in Ankara längst

mit den bulgarischen«Vettern» solida-
risiert. Die türkische Propaganda pran-
gerte angeblichePogrome und Mas-
senvertreibungen an. Und als der tür-
kische PräsidentKenan Evren imJuni
ein Flüchtlingslager in Edirne nahe
der bulgarischen Grenze besuchte, rief
er aus: «Lasst sie allekommen!»Das
waren leereWorte. Die vielen An-
kömmlinge stellten dasLand vor grosse
Probleme, es fehltenWohnungen und
Arbeitsplätze. EndeAugust schloss die
Türkei die Grenze.
Auch Bulgarien litt an denFolgen der
Auswanderungswelle. Viele Türken, die
in derLandwirtschaft gearbeitet hatten,
fehlten zur Erntezeit.In manchenLand-
strichen war ein Drittel der Bevölkerung
auf einen Schlag verschwunden. Die
misslicheVersorgungslage imLand ver-
schlechterte sich und untergrub Schiw-
kows bereits angeschlageneAutorität.
Am 9. November, demTag des Berli-
ner Mauerfalls, wurde er aus den eige-
nen Reihen gestürzt.

Fortschritte seit der «Wende»


Schon kurz davor war einTeil der Exi-
lierten zurückgekommen. Ein Jahr spä-
ter ,im Herbst1990, waren es155000.
Viele hatten dieTürkei als unerwartet
fremd erlebt, auch wegen der stärkeren
Religiosität derTürken.Die Gesetze zur
Zwangsassimilation wurden noch im sel-
ben Jahr annulliert. Heute beträgt der
Anteil derTürkischsprachigen wieder
knapp 10 Prozent der Gesamtbevölke-
rung. 2012 verabschiedete das bulgari-
sche Parlament eine Deklaration, in der
es die Zwangsassimilation verurteilt.
Der Exodus von1989 wird als «ethni-
sche Säuberung» bezeichnet.
So weit geht der Historiker Brunn-
bauer nicht. Er sieht dieVorgänge nicht
als Auftakt zu denVertreibungen der
Jugoslawienkriege, die 1992 den Begriff
der «ethnischen Säuberung» hervor-
brachten.Vielmehr stehe Schiwkows
Politik imKontext der ethnischen und
religiösen Homogenisierungsversuche,
die mit der Nationsbildung auf demBal-
kan verbunden ist. Zudem stehe sie in
einerReihe mit anderen Massenfluch-
ten auskommunistischen Staaten, etwa
jener aus der DDR.
Sei ther haben sich die bulgarischen
Türkenrecht gut ins politischeSystem
des Landes integriert.Das Vehikel ist
ihre Partei, die «Bewegung fürRechte
und Freiheiten» (DPS), die alsRegie-
rungspartei oder Mehrheitsbeschafferin
wichtig ist.Davon profitiert vor allem
die politische Elite der bulgarischen
Türken.In z weiter Linie aber auch ihre
Wähler, die ins Klientelsystem derPar-
tei eingebunden sind.

Tupou VI.
NZZ König von Tonga

Kleinstaat


in der Südsee


paz.∙Tonga liegt im Südpazifik, etwa
1800 Kilometer nördlich von Neusee-
lands Nordinsel. Der Archipel umfasst
172 benannte Inseln mit einerLand-
fläche von insgesamt747 Quadratkilo-
metern, was etwa dem Kanton Solo-
thurn entspricht. Die Mehrheit der gut
100000 Ein wohner lebt auf der Haupt-
insel Tongatapu, wodie Hauptstadt
Nuku’alofa liegt. Schätzungsweise noch
einmal so vieleTonganer leben imAus-
land, in den USA,Neuseeland undAus-
tralien.Tonga ist eine parlamentarische
Erbmonarchie.Seit 2010 hat derKönig
nicht mehr absoluteMacht, das politi-
scheTagesgeschäft wird von einem ge-
wählten Premierminister geführt.König
Tupou VI. ist seit 2012 auf demThron.
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