Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

40 SACHBÜCHER Donnerstag, 29. August 2019


Mit den Fingern überzeugen


Politiker setzen bewusst auf Gesten – doch ihre Körpersprache muss man lesen lernen


DIETER HINTERMEIER

StefanVerraist Experte für ein ganz spe-
zielles und dabei doch alltägliches Ge-
biet: Der Österreicher studiert seit zwan-
zig Jahren dieKörpersprache der Men-
schen. Sein besonderes Interesse gilt da-
bei denPolitikern und «Mächtigen». In
seinem Buch versucht er deren Erfolg
zu ergründen undkommt zum Schluss,
dass nicht wichtig ist, was diese Mäch-
tigen sagen,sondern wie sie es sagen.
Wenn Verra dieKörpersprache derPoli-
tiker analysiert, darf natürlich US-Prä-
sident DonaldTrumpnicht fehlen. Und
auchWladimirPutin, Emmanuel Macron,
Chi nas Xi Jinping oder ChristineLagarde
zählen zu denAuserwählten, deren non-
verbaleAusdrucksformenVerraakribisch
und kurzweilig unter die Lupe nimmt.
In SachenKörpersprache ist Donald
Trump offenbar eine ergiebige Quelle.
Gleich zu Beginn fragt sich derAutor,
warum ein Milliardär den von Arbeits-
losigkeit bedrohten amerikanischen
Stahlarbeiter begeistern kann. Um eine
Antwort ist er nicht verlegen:Trumps
Gestik sei auf die Menschen des viel-
zitierten «abgehängten» Amerika ab-

gestimmt. Und auch eine Erklärung für
Trumps berühmten «Zeigefinger» lie-
fert er:Wenn Trump bei seinenAuftrit-
ten immer wieder in die Menge zeigt,
imitiert er damit lautVerra keine Stech-
waffe. Im Gegenteil. Mit dem ausge-
streckten Zeigefinger stelleTrump Nähe
zu seinem Publikum her.
Auch all seinen anderen Protagonis-
ten widmet sichVerra mit Akribie. So
stellt er fest, dass Wladimir Putin sei-
nenWidersachern immer wieder die
«Stirn bietet». Bei SebastianKurz ent-
decktVerra eine «Salatschüssel»-Ges-
tik: Kurz sei sehr jung, um ernst genom-
men zu werden, müsse er älter wirken.
Hierbei helfe ihm dieLangsamkeit sei-
ner Bewegungen, die sonst älteren Men-
schen zu eigen sei. Und ein weitereskör-
persprachliches Instrumentkomme bei
Kurz ins Spiel: Erreduziere denRadius
seiner Bewegungen. Eine «Salatschüs-
sel»reiche, um erfahrener zu wirken.
Schliesslich widmet sichVerra zwei
mächtigenFrauen.Daist zum einen
Angela Merkel, deren mit den Händen
geformte «Raute»mittlerweile auf der
ganzenWelt zumMarkenzeichen gewor-
den ist. Erstmals kam sie imWahlkampf-

jahr 2013 zum «Einsatz». Auf einer Ber-
liner Plakatwand waren die Hände einer
Frau zu sehen, die eineRaute formte.
Jeder wusste, wer sie war. Das Foto be-
durftekeiner Erklärung.
Aber was sollte dieRaute bedeu-
ten? Die einen sagten,die Raute sym-
bolisiere eineBrücke. Merkel wolle Grä-
ben überwinden.Wieder andere mein-
ten gar, die Raute sei einFreimaurer-
Symbol, schliesslich sei die «Pyramide»
deren Erkennungszeichen.Verra inter-
pretiert die MerkelscheRaute als Zei-
chen, das«Aktivität» und «Souveräni-
tät» ausdrücken soll. Und wie hat sich
eigentlich die designierte EZB-Chefin
ChristineLagarde in einem von Män-
nern dominierten Metier durchgesetzt?
Auch das hatVerra durchschaut.

Migrationszone Maghreb


Beat Stauffer analysiert Ursachen, Akteure und Strategien


CHRISTOPH WEHRLI


«Sieemigrieren, weil sie inTunesien
nicht ernst genommen werden und weil
sie arbeitslos sind», schreibt ein junger
Mann über seinesgleichen aufFacebook.
Im HinterlandTunesiens, ähnlich auch
in AlgerienundMarokko, siehteine
Mehrheit der jungen Leutekeine Per-
spektive. In Europa erwarten sie «mehr
Wohlstand, mehr Freiheit, hübsche
jungeFrauen»,wie ein unfreiwillig Zu-
rückgekehrter lächelnd vermerkt.
Der auch für die NZZ tätige freieJour-
nalist und Maghreb-Kenner Beat Stauffer
hat vor allem inTunesien mitAuswande-
rungswilligen gesprochen,sich mit Schlep-
pern getroffen undeinschlägige Orte
aufgesucht. Es sind tristeKleinstädte,
wo sich dieLage seit dem Arabischen
Frühling nochverschlechtert hat, Dreh-
punkte wie die Hafenstadt Zarzis,Tan-
ger in Marokko, wo Subsahara-Afrikaner
auf den Sprung nach Spanien hoffen,aber
dieAbschiebung Richtung Südgrenze ge-
wärtigen müssen, oder Zuwara inWest-
libyen, wo die Schlepper zum Schmug-
gel gewechselt sind, seitdie Machthaber
mit europäischer Hilfe die Menschen-


tran sporte bekämpfen. Stauffer nähert
sich so einem Phänomen an,das sonst
vor allem aus Sicht der Zielländer wahr-
genommen wird und sich weder auf eine
ökonomische noch auf eine polizeiliche
Frage reduzieren lässt. Nur amRand be-
fasst er sich mit der (Transit-)Migration
aus dem südlicheren Afrika, die umfang-
reicher undkomplexer ist. Differenziert
erörtert er Strategien zurVerminderung
der irregulären Migration.DasProblem
der europäischenLänder,ihreÜberfor-
derung zu vermeiden, aber die humani-
tären Prinzipien zu wahren, hat er weder
als Erster erkannt noch wirklich «gelöst».
Wichtig ist indes sein Plädoyer für eine
Politik, die aufKooperation mitAuswan-
derungsländern setzt und deren legitime
Interessen beachtet.

StefanVerra:
Leithammel sind
auch nur Menschen.
Die Körpersprache der
Mächtigen. Ariston-Verlag,
München 2019. 256S.,
Fr. 31.90.

Beat Stauffer:
Maghreb, Migration
und Mittelmeer.
Die Flüchtlingsbewegung
als Schicksalsfrage für
Europa und Nordafrika.
NZZ Libro,Basel 2019.
320 S., Fr. 38.–.

Sein Erfolg ist unübersehbar.Allein im



  1. Jahrhundert hat sich der Lebensstan-
    dard in den Industrieländern mehr als
    verzehnfacht. Und in den Entwicklungs-
    länderngelang esMilliarden, dieFesseln
    bitterster Armut abzustreifen. Dennoch
    will die Kritik am Kapitalismus nicht ab-
    reissen, zumal dieFinanzkrise von 2008
    daran erinnert hat, dass er höchst insta-
    bil sein kann.Dazu kommen düstere
    Prognosen für die Beschäftigung sowie
    eine vielerorts gespreizte Einkommens-
    verteilung. BereitsKeynes klagte in sei-
    nem Hauptwerk «AllgemeineTheo-
    rie», die herausragendenFehler unse-
    rer Gesellschaft seien «die willkürliche
    und ungleicheVerteilung derVermögen
    und Einkommen» und ihr«Versagen,
    für Vollbeschäftigung zu sorgen». Es ist
    darum verlockend, den Kapitalismus für
    «moralisch bankrott» (Paul Collier) zu
    erklären oder mit dem SoziologenWolf-
    gang Streeck gar von einer fundamenta-
    len Krise imVerhältnis von Demokratie
    und Kapitalismus zu sprechen.


Digitale Herausforderung...


Um die von Streeck monierte Krise geht
es demDuoTorben Iversen (Harvard)
undDavid Soskice (London School of
Economics) sowie Carles Boix (Prince-
ton). Illustre Vorgänger sind etwaJoseph
Schumpeter, der den Untergang des
Kapitalismus alsFolge des unterneh-
merischen Strebens nach Monopolstel-
lungen prophezeite. OderFriedrich von
Hayek, der befürchtete, ein ausufernder
Sozialstaat werde in die Knechtschaft
führen. Kapitalismus ist jedoch ein schil-
lernder Begriff. Der Manchester-Kapita-
lismus des19.Jahrhunderts unterschei-
det sich substanziell von der sozialen
Marktwirtschaft des späteren 20.Jahr-
hunderts, die denAutoren als Muster
des demokratischlegi timierten Kapita-
lismus dient.
Klar wird in denWerken heraus-
gearbeitet, dass die Digitalisierung –
oft als vierte industrielleRevolution be-
zeichnet – die soziale Marktwirtschaft
herausfordert. DieentscheidendeFrage
ist, ob der technischeFortschritt arbeits-
sparend oder arbeitsvermehrend ist. Im
erstenFall resultierten, wie im19.Jahr-
hundert, Massenarbeitslosigkeit und
soziale Spannungen. Im zweiten wären
Arbeit und Kapitalkomplementär; der
Fortschritt käme,wie in der zweiten
Hälfte des 20.Jahrhunderts, allen zugute.
Nun lassen sich mit Untergangs-
szenarien trefflich Bestseller schreiben.
MartinFord ist das mit «Aufstieg der
Roboter» und derThese der drohen-
den Massenarbeitslosigkeit gelungen.
Dagegen haben es die Argumente der
Ökonomen schwer. Sie bauen auf der
historischen Einsicht, dass vom techni-
schenFortschritt letztlich alle profitie-
ren. Es kann allerdings lange dauern, bis
er Früchte trägt. DerWirtschaftshisto-
riker Carl BenediktFrey (Oxford) be-


Der Kapitalismus

kann nicht ohne

die Demokratie

Der Kapitalismus hat seit der Finanzkrise von 2008


einen schweren Stand. Die Behauptung, er sei


unvereinbar mit der Demokratie, ist allerdings nicht


haltbar. Die grössten Gefahren liegen anderswo.


Von Daniel Hofmann


fürchtet darum eine«Technologiefalle».
Er glaubt, die Digitalisierung werde
kurzfristig mehrArbeitsplätze vernich-
ten als schaffen.Das könne eine Nega-
tivspirale auslösen, die von zunehmen-
der Einkommensungleichheit und sozia-
lem Dissens angetrieben werde.

...und Widerstandsfähigkeit


SolchePerspektiven sind in den er-
wähntenWerken nicht auszumachen.
Das Paradoxon sei vielmehr,so Iver-
sen und Soskice, dass sich der Kapita-
lismusallen Krisen zumTrotz als enorm
anpassungs- und widerstandsfähig er-
wiesen habe. Sie erklären dies mit einer
Symbiose aus Kapitalismus und Demo-
kratie.Diese beruhe auf Mehrheitenbei
Wählern,die jenePolitiker in den Sat-
tel höben, die für eine funktionierende
Marktwirtschaft sorgten. Zu den Eck-
pfeilern dieserPolitik gehörtenWettbe-
werb (der allen Kapitalisten gegen den
Strich geht) und ein starker Staat, der
überzogene Ansprüche von Unterneh-
men und Gewerkschaften zurückbin-
det. Ähnlich argumentiert Boix, der in
Anlehnung an Schumpeter schreibt, die
Folgen der Digitalisierung seien nicht
in Stein gemeisselt. Sie hingen vielmehr
von denRahmenbedingungen sowie
den demokratisch legitimierten Strate-
gien zur Bewältigung der technologi-
schen Umwälzungab.
DieAutorenräumen mit beliebten
Versatzstücken der anti-kapitalistisch
gefärbten Kritik an der Globalisierung
auf. Die vielzitierteVermutung des Öko-
nomenDani Rodrik, Demokratie und
nationale Souveränität seien im Zeitalter
der Globalisierung unvereinbar,verwer-
fen sie. Der Nationalstaatkönne nach
wie vor für gedeihlicheRahmenbedin-
gungen und einsoziales Sicherheits-
netz sorgen und die dafür nötigen Steu-
ern eintreiben. DieWelt sei auch nicht
«flach», wie der amerikanische Publi-
zistThomasFriedman unterstellt. Die
digitaleRevolution habe vielmehr eine
unebeneTopografie geschaffen, in der
urbane Zentren mitder Bündelung von
kritischen Dienstleistungen («clusters»)
eine herausragendeRolle spielten.Wie
Iversen und Soskice plausibel darstel-
len, sorgen dieVorteile dieserBallungs-
zentren dafür, dass die Unternehmen an
einmal etablierten Standorten festhalten
und nichteinfach ins günstigsteregula-
torische Umfeld flüchten. Die heute be-
obachteteRückführung von zuvor in
Schwellenländer ausgelagerten Tätig-
keiten scheint dieseThese zu stützen.
Was in beidenWerken indessen zu
kurzkommt, ist derVerdacht, die Demo-
kratiekönne von kleinen, finanzstarken
Gruppen missbraucht werden. DerPoli-
tologe Martin Gilens (Princeton) hat für
die USA belegt, dassFinanzeliten und
grosse Unternehmen denVerlauf der
Politik erheblich beeinflussenkönnen,
wogegen denWählern nur ein gerin-

ges oder garkein Gewicht zukommt. Er
widerspricht damitIversen und Soskice,
die seine Studie zwar erwähnen, aber
kaum überzeugend entkräften. Nicht
nur mit Blick auf die USA kann man
sich ausmalen, dass Eliten einenPopu-
listen stützenkönnten, der vorgibt,sich
für die Unterschicht einzusetzen, dann
aber eine diametral entgegengesetzte
Politik verfolgt.
Unübersehbar, und von denAutoren
nicht behandelt,sind sodann innereund
äussere Bedrohungen der Demokratie.
In «How Democracies Die» dokumen-
tie ren Steven Levitsky undDaniel Zi-
blatt (beide Harvard) beklemmend, wie
autoritärePolitiker demokratische Pro-
zesse und Institutionen untergraben. Zu
deren Instrumentarium gehören dasVer-
höhnen politischer Gegner,das Herab-
setzen der Medien als Lügenpresse so-
wie dasTolerieren von Gewalt.Alarmie-
rend ist, wie solche Praktiken vielerorts
anscheinend mühelos eingesetztwerden.

Konkurrenz ausChina


Dazu kommt die äussere Bedrohung im
Wettbewerb derSysteme. Dievon Iver-
sen und Soskice aufgegriffene Erwar-
tun g, ein prosperierender Mittelstand
werde in den Schwellenländern mehr
Demokratie einfordern, ist zumeist uner-
füllt geblieben. China hat all jene Lügen
gestraft, die seitJahren dieKonvergenz
derSysteme voraussagen. Die Macht-
haber inPeking sind daran, wirtschaft-
liche Schwächen auszubügeln, denRen-
minbi global zu etablieren und dieWelt-
macht Amerika herauszufordern. Soll-
ten sie Erfolg haben,könnten sie China
als das überlegene Modell anpreisen, das
Nachahmer in den Entwicklungsländern
find et – und die geopolitischeKonfron-
tation zwischen dem Staatskapitalismus
chinesischer Prägungund dem west-
lichen Kapitalismus gewinnen.
Wer dieses Ende der Geschichte be-
fürchtet, übersieht allerdings die opti-
mistisch vorwärtsblickende Kraft des
Kapitalismus. Er verspricht eine bessere
Zukunft, weil die Marktwirtschaft den
Wohlstand besser sichert als alle ande-
ren Systeme. Iversen und Soskicekom-
men denn auch zum Schluss, dass die
Frage nicht laute, ob Demokratie und
Kapitalismus überlebten – sondern ob
Politiker dieWeichen so stellenkönnten,
dass weiterhin ein inklusivesWachstum
stattfinde. Die dreiAutoren sind zuver-
sichtlich, dass dies gelingen kann.

Carles Boix: Democratic Capitalism
at the Crossroads.
Technological Change and theFuture of
Politics.Princeton UniversityPress, Princeton


  1. 256S., Fr. 2 1.70.


Torben Iversen und David Soskice:
Democracy and Prosperity.
Reinventing Capitalism through aTurbulent
Century. Princeton UniversityPress,
Princeton 2019. 335S., Fr. 22.90.

Die Finanzkrise von 2008 hat die Kapitalismuskritik durch die«OccupyWall Street»-
Bewegung befeuert. MIKE SEGAR / REUTERS
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