Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

44 SPORT Donnerstag, 29. August 2019


Gerardo Seoane er leid et den ersten Rückschlag


als YB-Trainer. Wie geht er damit um? SEITE 42


Der derzeit beste Golfspieler der Welt sp ielt im Wallis –


in Crans-Montana herrscht Rory-Mania SEITE 43


Kommentar


Schwingen


ist keine Oase


MARCOACKERMANN

VierTage ist es her, seit sich das Schwin-
gen mit dem Eidgenössischen auf wun-
derbareWeise inszeniert hat. Eupho-
rische Zuschauer sahen spannende
Kämpfe. Der Sportversuchte, seine
altenWerte von Ehrlichkeit,Fairness
und Kameradschaft zu transportieren.
Und der Standort Zug wurde zu einer
Oase desFriedens und einem Hort der
Glückseligkeit hochstilisiert.
DochamMittwoch sind die Schwin-
gerfreunde aus ihremTr aum erwacht.
Swiss Olympic veröffentlichte das
Urteil imFall von Martin Grab. Der
Dachverband sperrt den zurückgetre-
tenen Spitzenschwinger für zweiJahre
für alle Aktivitäten im Sport.DasUrteil
rechtfertigt sich dadurch, dass in Grabs
Körper imFrühling 20 18 die verbo-
tene SubstanzTamoxifen nachgewie-

sen wurde. Im Sport wird der Stoff dazu
missbraucht, im Zuge von Anabolika-
Kuren die Nebenwirkungen der Ste-
roide zureduzieren.Das Urteil ist noch
nichtrechtskräftig. Grab streitet nach
wie vor jeglichenVorsatz ab.
Ja, das Schwingen ist längst in der
Welt des modernen Spitzensports an-
gekommen. Und in dieser ist es immer
schwieriger, die alten hehrenWerte auf-
rechtzuerhalten.Dass in dieser Szene
alle Gutmenschen seien, ist eine Mär,
dieVerklärung desFairplay überholt.
Wenn ein Schwinger des Dopings über-
führt wird, tönen dieRechtfertigungs-
versuche nicht weniger abenteuerlich
als bei einem vollgepumptenRadprofi.
EinenFehler zuzugeben, scheintkeine
Alternative zu sein.
Grab macht es sich zu einfach, wenn
er darauf verweist, diegefundene Menge
Tamoxifen sei klein und nicht leistungs-
steigernd gewesen. Deren Existenz ist
Verstoss genug. Dass es durch dummen
Zufall in seinenKörper gelangt ist, ist
nicht auszuschliessen, aber dieWahr-
scheinlichkeit ist verschwindend klein.
Tamoxifen gilt als rezeptpflichtiger
Wirkstoff fürFrauenmedikamente.
DieSchwingerfreunde sind an einem
Punkt angelangt, an dem sie ihr Selbst-
bild überdenken müssen. Die altherge-
brachten Regeln verfangen teilweise
nichtmehr. Im Schwingen gehört es zum
gutenTon, dass der Sieger einesDuells
nicht überschwänglich feiert.Aber was
passierteam Samstag, als der Nordost-
schweizer Samuel Giger im ersten Gang
eine Niederlage kassierte? Die Anhän-
ge r des rivalisierenden Innerschweizer
Teilverbands ergötzten sich daran mit
frenetischemJubel und Schadenfreude.
Früher war es verpönt, einen Entscheid
des Kampfgerichts anzuzweifeln, in die-
ser Saison aber ist es mehrmals vorge-
kommen, dass ein Athlet mit unmiss-
verständlichen Gesten einJuryurteil in-
frage stellte.
Und nach dem Eidgenössischen in
Zug sind Diskussionen aufgeflammt,
ob die Einteilung und die Notengebung
des Kampfgerichts fair genug gewesen
seien.Vielleicht wäre es an der Zeit,
auch in diesen Bereichen mehrTranspa-
renz zu schaffen, so wie es die Schwin-
ger mit dem Beitritt zuSwiss Olympic
in Dopingfragen bereits getan haben –
auch, weil es in diesem Sport heutzutage
um zu viel Geld geht.

Wenn ein Schwinger
beim Doping erwischt
wird, tönt die Rechtfer-
tigung so abenteuerlich
wie bei einem voll-

Dina Asher-Smith:«DasStudium hat mir gezeigt,was es bedeutet, eineschwarzeFrauinEngland zu sein.» ALEX MORTON/GETTY gepumpten Radprofi.


«Ich lasse mich nicht verbiegen»

Die Br itin Dina Asher-Smith ist Europas schnellste Sprinterin, hat an einer Eliteuniversität abgeschlossen


und ist Femini stin. Im Gespräch mit Remo Geisser sagt sie, wie Sport und Studium ihr Leben verändert haben


Dina Asher-Smith, Ihre erste Erfah-
rung als Leichtathletin sammelten Sie
in einem Crosslauf. Stimmt es, dass Sie
nur teilnahmen,weil Ihnen eine Glace
versprochen worden war?

Es gab eineLaufgruppe an meiner Pri-
marschule, und meineFreundin wollte
da unbedingt mitmachen. Mich inter-
essierte das nicht, ich war schon im
Schwimmen, imKunstspringen und in
derTanzgruppe. MitLaufenkonnte ich
nichts anfangen. Aber sie sagte: «Nach
demTr aining zahle ich dir eine Glace.»
Ich sagte: «Klar!»


Unddann liefen Siegleich imCross mit?
Das ist einfach passiert. Und ich hatte
keinen Spass, es war furchtbar.Aber da
waren 300 oder 400 Kinder am Start,
und ich wurdeFünfte.Also musste ich
es noch einmal tun, und es war genauso
schlimm.Irgendwann gingich in unse-
ren lokalen Leichtathletikverein und
merkte, dass es auch noch andere Dis-
ziplinen gibt.


Die Erfahrungwar schlimm,aber der
Lauf veränderte Ihr Leben.

Ja, es war furchtbar.Wir liefen nur etwa
1200 Meter, aber ich schmeckte Blut in
meinem Mund und dachte, ich würde
gleich sterben.Aber ich lief weiter. Ich
bin dankbar,dass ich das getan habe.
Es hat mich zwei Dinge gelehrt: dass
ichrennen kann – und dass ich tapfer
bin und schwierige Herausforderungen
meistern kann.


Siewaren 9Jahre alt, alsKelly Holmes
2004 zwei olympische Goldmedaillen
gewann.Dafür bekam sie jeweils einen
Lorbeerkranz.Das hat Sie damals be-
eindruckt?

Das hat mich wirklich bewegt. Bei der
Siegerehrung weinte sie, und meine Mut-
ter weinte ebenfalls, obwohl sieKelly
gar nicht kannte. Kelly hat die Leute


stolz gemacht, indem sie einfach das ge-
tan hat, was sie am besten kann. Und
dann war da dieser Kranz. Ich dachte,
es sei eine Krone. Dasagte ich mir: «Das
möchteichauch,ich will eine Prinzessin
sein.» Es sind manchmal solche kleinen
Geschichten,dieein Kind dazu motivie-
ren, im Sport dranzubleiben.


An den Sommerspielen 2012 in Lon-
donwaren Sie als Helferin im Stadion,
als britische Athleten innerhalbweniger
Stunden drei Goldmedaillen gewannen.
War das der Moment, der Ihnenzeigte,
wie süss Erfolg sein kann?

Ich stand direkt hinter der Ziellinie und
weiss noch, wieJessica Ennis im Sieben-
kampf mit ausgebreiteten Armen auf
mich zulief. Sie und die anderen Olym-
piasieger hatten Grossartiges geleistet.
Aber vor allem haben sie die Menschen
inspiriert. Jeder Einzelne, der damals im
Stadion sass, wird diesenTag nie mehr
vergessen.Das hat mir gezeigt, was der
Sport leisten kann.In solchen Momen-
tenspielt eskeineRolle,woher du
kommst und wer du bist.Duspürst ein-
fach ein tiefes Glück.


Sie schreiben eine Zeitungskolumne.
Eine IhrerBotschaften ist, dass man
Jugendlichen zu früh sagte, sie sollten
mit dem Sport aufhören.Warum?

Oft wird extrem viel Druck auf sie aus-
geübt, weil sie in der Schule Prüfun-
gen bestehen müssen.Dann heisst es
schnell:«Wenn du in der Schule erfolg-


reich sein willst, musst du mit dem Sport
aufhören.» Ich kann das verstehen.Aber
man nimmt ihnen das weg, was ihnen
Spass macht. Sport kann einem sehr viel
bringen fürs Leben.Man sollte ihn nicht
inKonkurrenz zur Schule stellen.

Sie sagten einmal, eine IhrerAufgaben
alsVorbild sei es,jungen Mädchen zu
zeigen, dass sie ihre Ziele erreichen kön-
nen.Denken Sie, dass Mädchen weniger
Selbstvertrauen haben als Buben?
Ich glaube nicht, aber ich denke, dass
sich diesesVertrauen auf andere Art
zeigt.Wenn ich in England Schulklas-
sen besuche, scheinen mir die Buben
im Sport viel mehr Selbstvertrauen zu
haben. In Grossbritannien ist derFuss-
ball riesig, wir haben diese grossen Stars,
sie sind ständig präsent.Für die Mäd-
chen gibt esviel wenigerVorbilder.
Frauenkönnen sich nicht vorstellen,was
sie erreichenkönnen, weil es ihnen nicht
vorAugen geführt wird.

Eine andereAussage von Ihnen ist, dass
der Sport Ihnengeholfen habe, im Le-
ben IhrenWeg zu gehen. Können Siedas
ausführen?
Im Sport lernst du dich selbstkennen, du
erfährst, wie weit du mit deinenFähig-
keitenkommen kannst. Es gibt viele
Situationen, in denen mich die Leute
in denRennen gar nicht wahrgenom-
men haben. Man stellte mich auf eine
Aussenbahn,keinerkannte mich.Aber
mein Coach sagte mir immer: «Glaub an
dich!» So habe ich gelernt, inentschei-
denden Situationen nur auf mich selbst
zu schauen. Und dass ich mirkeine
Grenzen setzen darf. Das ist eine Lehre
fürs Leben. Es gibt heute viele Situatio-
nen,in denen ich mir sage: «Das ist zwar
neu für dich – aber probier es einfach!»

Wie wichtigwar dieTatsache, dass Sie
eine sehr kompetitive Schule besuchten?
Das war sehr wichtig.Wir bekamen
unsere Prüfungen zurück, und ich sah:
«Oh, ich habe eine A» – das ist die Best-
note.Aber wenn ich links undrechts
schaute, hatten fast alle auch eineA.
Und ich hatte 88 Prozent allerAufga-
ben richtig gelöst, andere aber erreich-
ten 98 Prozent.Das hat mich gelehrt,
dass man auch dann noch weiterarbei-
ten muss, wenn man scheinbar das Maxi-
mum erreicht hat. Und dass man sich

seinen eigenen Massstab anlegen muss.
Wenn eine besser ist als ich, weil sie ein-
fach mehr draufhat, dann kann ich das
problemlos akzeptieren.

Sie haben Geschichte studiert und ge-
sagt, das habe Ihnen dieAugen da-
für geöffnet,was es bedeute, eine junge
schwarze Frau zu sein.Was meinenSie
damit? So etwas lehrt Sie doch das all-
tägliche Leben!
Ja, das Leben zeigt mir Dinge.Aber
manchmal geschehen die Dinge, und du
verstehst sie nicht.Das Studium hat mir
gezeigt, was es bedeutet, eine schwarze
Frau in England zu sein. Man hat zwar
einen akademischen Blick, aber in der
Geschichte geht es umreale Menschen.
Wenn wir lernen, dass imJahr X Hun-
derttausende Menschengestorben sind,
dann sind sie wirklich gestorben. Und
manchmal spielte es eben eineRolle,
welche Hautfarbe sie hatten oder ob sie
homosexuellwaren.Das macht mich de-
mütig, wenn ich denke, dass mein einzi-
ger Stress darin besteht, welchenRang
ich in einemRennen belege.

Es relativiert den Sport?
Mein Gott!Wenn ich verliere, gehe ich
nach Hause,verarbeite das und ver-
suche, besser zu trainieren. Es tut gut,
hin und wieder daran zu denken, dass
wir Entertainer sind.Auch wenn das für
uns viel bedeutet und an Olympischen
SpielenTränen fliessen: Niemand stirbt,
es geht nicht umPolitik – wirrennen
bloss im Kreis herum.

Was bedeutete es Ihnen als Historike-
rin und Schwarze, dass Sie Ihre bisher
grössten Erfolge inBerlin errangen,in
dem Stadion, in demJesse Owens Adolf
Hitler den Handschlag verweigerte?
Das war cool.Aber ich habe es bewusst
ausgeblendet, weil ich nicht von Ge-
fühlen überwältigt werden wollte. Ich
war in Berlin eine ambitionierte Athle-
tin, das war nicht der Moment, um mir
zu sagen: «O mein Gott, das ist Berlin!
Ich binTeil der Geschichte!»Dadurch
würde der Moment unnötig aufgeladen.
Wenn du läufst, denkst du ganze simple
Dinge:«Startegut! Beschleunige richtig!
Gewinne diesesRennen!»

Sie sagen von sich, Sie seien eineFemi-
nistin.Wie drückt sich das im Sport aus?

Ich binkompromisslos ich selbst– ich
denke, das sollten alle tun.Das tönt nach
wenig.Aber die Geschichte hat immer
wiedergezeigt, dass Leute in der Öffent-
lichkeitRollenspielen. Sie sind so,wie
sie denken, dass man es von ihnen er-
wartet. Ich bin ich.Wenn das die Leute
gut finden, ist das okay. Und sonst ist es
mir egal. Ich bin freundlich, das ist wich-
tig.Aber ich lasse mich nicht verbiegen.

Wie gleichberechtigt sind dieFrauen in
der Leichtathletik?
Leichtathletik ist eine der wenigen
Sportarten, in denenFrauen und Män-
ner gleichzeitig im Stadion sind und
jeweils ihreeigenen Disziplinen absol-
vieren. Es gibtFans, diekommen, um den
200-Meter-Lauf derFrauen zu sehen,
weil hier die Leistungsdichte am gröss-
ten ist. Es geht darum, herausragende
Athleten zu sehen, ganz egal, was für ein
Geschlecht sie haben. Und es spielt auch
keineRolle,ob sie schwarz oder weiss
oder was auch immer sind. Ich bin stolz,
dass das in der Leichtathletik so ist.

Die Preisgelder sind gleich, wie steht es
um Antrittsgagen und Sponsoring?
Ich kann das nicht allgemein sagen,
aber ich weiss, dass in Grossbritan-
nien dieFrauen eher in der besseren
Position sind. Bei den Männern gibt es
die grossen Profisportarten wieFuss-
ball undRugby mit ihren Superstars.
DerFrauensport ist kleiner, es gibt viel
wenigergrosseNamen. Diesekönnen
dafür guteVerträge abschliessen. Ähn-
lich ist es bei den Antrittsgagen, sie hän-
gen vom Markt ab. In London werde ich
sehr gut bezahlt, inJamaica müsste ich
mich mit deutlich weniger bescheiden
als die Einheimischen.

Der Markt ist das eine.Aber imFrauen-
sport spielt dasAussehen immer noch
eine wichtigeRolle.
Ja, das stört mich und macht mich
manchmal traurig.Wir sollten auf-
grund unsererFähigkeiten bezahlt wer-
den, weil wir so und so viele Medail-
len gewonnen undRekorde gebrochen
haben.Wenn man zuerst auf dasÄussere
schaut, vermittelt man den jungen Mäd-
chen: «Es zählt nicht, wie gut ihr seid,
wenn ihr nicht gut ausseht.»Das ist ein
völlig falschesRollenbild.
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«Niemand stirbt, es
geht nicht um Politik.
Wir rennen bloss
im Kreis herum.»
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