Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 INTERNATIONAL


Jets aus Russland


statt aus den USA


Das Treffen von Erdogan und
Putin in Moskau zeigt Differenzen

INNA HARTWICH, MOSKAU

Der türkische PräsidentRecepTayyip
Erdogan schaut ins Cockpit, steigt die
Tr eppe vom russischen Kampfjet, der
auf der Luft- undRaumfahrtmesse in
Schukowski nahe Moskau ausgestellt
wird, wiederhinabund fragt seinen rus-
sischen Amtskollegen Wladimir Putin:
«Ist das die neue Su-57?» «Ja, das ist die
fünfte Kampfjet-Generation», antwortet
dieser.«Und denkönnenwirkaufen?»,
fragt Erdogan weiter. Putin schaut ver-
schmitzt und sagt: «Ja, den kann man
kaufen.»Erdogan lacht und setzt den
Gang über das Messegelände fort. Die
Begegnung der unfreiwilligVerbünde-
ten soll Einigkeit demonstrieren, wo
keine Einigkeit ist. Und nach aussen, in
Richtung Nato vor allem,soll siezeigen,
dass hier zwei Staaten umRüstungsde-
als verhandeln, die umstritten sind; Staa-
ten, die sich im geopolitischen Gefüge
beide Pluspunkte zu verschaffen versu-
chen – wenn auch jeder auf seineWeise.

Kampffeld Syrien


Der Tarnkappen-Kampfjet Su-57 ist
noch in der Entwicklungsphase, gilt in
denAugen derRussen allerdings als Al-
ternative zu dem von den USAgeführ-
ten F-35-Programm. Erst imJuli hat-
ten die Amerikaner dieTürken von der
Teilnahme am Programm ausgeschlos-
sen und mit Sanktionen gegen Ankara
gedroht, da das Nato-LandTürkei von
Russland das Raketenabwehrsystem
S-400 gekauft hatte. Seit 2012 hatten die
Türken versucht, von den Nato-Partnern
einRaketenabwehrsystem zu bekom-
men, vergebens.Russland erwies sich
schnell und gekonnt als Problemlöser:
Während Erdogan mit Putin in Schu-
kowski am Dienstag die Flugshow ver-
folgte, landete in Ankara einTr ansport-
flugzeug, dasTeile für die zweiteBatterie
des S-400 lieferte. Den Einsatz russischer
Militärtechnik im Nato-Luftraum sieht
Washington als Gefahr, vor allem für den
amerikanischen F-35-Tarnkappenjet.
Bei der gemeinsamen Pressekonferenz
der zwei Präsidenten legte vor allem Putin
grossenWert auf die Kampfjets Su-57 und
die als Übergangslösung dazu geltenden
Su-35, deren Entwicklungsanfänge noch
in die Sowjetunion zurückreichen. Die
Jagdflieger setztRussland auch inSyrien
ein. Es mutet paradox an, wenn sichdie
Türkei für dieWeiterentwicklung die-
ser Flugzeuge interessiert. Denn gerade
inSyrien zeigen sich die Differenzen der
zwei «Freunde».Ankara unterstützt die
Rebellen, Moskau ist Schutzmacht der
syrischenRegierung.Die russisch-türki-
sche Deeskalationszone in Idlib, um die es
auch inMoskau ging, war von Anfang an
ein kaum funktionierendes Instrument.
Tr uppen des syrischen Machthabers
Bashar al-Asad drangen in der vergange-
nenWoche in die symbolisch wie strate-
gisch wichtige Kleinstadt Khan Sheikhun
im Süden der Provinz ein und bedrohten
einen türkischenPosten. Einen darauf-
hin eilig geschickten türkischenKonvoi
mitVerstärkunggriffen die Asad-Trup-
pen aus der Luft an, seither sind die beim
Weiler Morek stationierten türkischen
Soldaten eingekesselt.

Dünne Sätze müssen reichen


Ankara sieht die Angriffe der syrischen
Regierung als Bedrohung für seinenatio-
nale Sicherheit. Dies hatte Erdogan Putin
bereits in einemTelefonat vor wenigen
Tagen mitgeteilt. Moskau aber zeigtkein
Entgegenkommen.Vielmehr ging es auch
beim gemeinsamenAuftritt amRand der
Luftfahrtmesse um Schuldzuweisungen.
Russland sieht die syrischenAufständi-
schen vor Stellungen seinerArmee öst-
lich von Khan Sheikhun vorrücken. So
blieben Putin und Erdogan bei allgemein
dünnen Sätzen, man sei der Stabilität ver-
pflichtet und wolle die Situation «norma-
lisieren». Einen Plan für diese Normali-
sierung legten sie nicht vor.Sie verwiesen
lediglich aufeinen weiteren Syrien-Gip-
fel mit dem iranischen Präsidenten Has-
sanRohani in Ankara am16.September
und verspeisten gelassen Glace aus rus-
sischer Produktion.

Eine ne ue Front inGaza


Nach Selbstmordansc hlägen mit drei Toten verhängt die Hamas den Notstand und ordnet Massenverhaftun gen an


ULRICH SCHMID, TELAVIV


DerFeind der Hamas istIsrael – üblicher-
weise. Es überraschte denn auch nieman-
den, dass die Hamas die beiden Selbst-
mordanschläge vom späten Dienstag-
abend in Gaza, die dreiPolizisten das
Lebenkosteten, zunächstreflexartig als
dasWerk Israelsbezeichnete.Erst spä-
ter, als über andereKanäle Details in die
Öffentlichkeit drangen, wurde dieseVer-
sion dementiert.Wen man für den oder
die Täter hält, hat die Hamas bisher ver-
schwiegen. Doch als nur Stunden später
in Gaza der Notstand verhängt und An-
hänger des Islamischen Staats (IS) und
anderer salafistischer Gruppen en masse
verhaftet wurden, war es mit der Unge-
wissheit vorbei. DerFeind, das war offen-
sichtlich,sitzt diesmal im Innern.


Der grosseWidersacher IS


Der britische Sender BBC meldete unter
Berufung auf einen Beamten, die bei-
den Explosionen nahe Gaza-Stadt seien
Selbstmordanschläge gewesen,durch-
geführt von Anhängern des IS. Einer


der Angreifer sei bereits einmal von der
Hamas festgenommen worden. Zwei
Polizisten kamen offenbar ums Leben,
als ein Motorrad kurz vor einem Check-
point zur Explosion gebracht wurde.
Wenigerals eine Stundespäter starb
bei einer ähnlich inszenierten Attacke
ein weitererPolizist. Alle drei Getöte-
ten sind lautRegierungsangabenPolizis-
tenimAlter zwischen 32 und 45Jahren.
An denRazzien beteiligten sich prak-
tisch allePolizisten und Sicherheitskräfte
im Streifen. Sie wussten, wo sie zu su-
chen hatten. Der Hamas ist klar, wer ihre
Feinde sind und wo sie wohnen. Oft ist
die politische Affiliationeine Angelegen-
heit derFamilien. Gewisse Clans in Gaza
sind seit langem Anhänger des Islami-
schen Jihad inPalästina, der Kaida oder
eben des IS. Der Islamische Jihad hat
die Hamas imWettrennen um die Gunst
Irans deutlich geschlagen und erhält aus
Teheran weit mehr Geld als ihr grosser
Widersacher. Neben diesen Gruppen
operieren unabhängige militante Sala-
fisten, die oft gut bewaffnet und manch-
mal käuflich sind. Israel hat klargestellt,
man habe mit denAttentaten nichtszu

tun.Zum fraglichen Zeitpunkt habe es
keine Aktivitäten in Gaza gegeben.Für
einmal wird niemand in Gaza an die-
serDarstellung zweifeln: Zu offensicht-
lich ist der innenpolitische Hintergrund.
Israel hätte zudemkeineVeranlassung
zu einer solchen Massnahme gehabt. So
kurz vor derWahl die Hamas zu provo-
zieren, wärevollendssinnlos.

Bedrohte Machtposition


Für die Hamas sind die Attentate zu-
nächst eine grossePeinlichkeit. Sie zei-
gen, dass die jihadistischenFeinde im
Innern durchaus in derLage sind, sie
empfindlich zu treffen.Doch derVo r-
fall ist mehr als ein Gesichtsverlust,er
ist auch eine ernste Herausforderung.
Die Hamas sieht sich förmlich umzingelt,
nicht nur im Inneren.Auf internationaler
Ebene heisst der Hauptfeind natürlich
immer noch Israel. Doch seit Sisis Macht-
übernahme in Ägypten hat sich auch das
Verhältnis zu Ägypten dramatisch ver-
schlechtert. Die Hamas ist eine Grün-
dung der Muslimbrüder, die Sisi hasst
und mit grösster Härte verfolgt. Den

Golfarabern ist das Schicksalder Hamas
egal, die einzigeAusnahmeist Katar.
Dass es zur Eskalation kommen
würde, lagin der Luft. SeitWochen
führte die HamasRazzien gegen alle
Jihadisten im Gazastreifen durch, die
sich zum IS bekennen. LetztesJahr er-
klärte der in Ägypten operierende IS-
Ableger der Hamas offiziell den Krieg.
Die Herrscher in Gaza und alle ihre An-
hänger seien Apostaten, also Abtrün-
nige, hiess es. In Gazakommt dazu, dass
die Hamas in der Bevölkerung unbe-
liebt ist. SeitJahren gibt es weder Erfolge
nochPerspektiven, dieVersorgungslage
ist katastrophal, der Streifen verelendet.
Für eine Organisation, die sich dieVer-
nichtung Israels zum Ziel gesetzt hat, ist
es fatal, wenn ihr in dieserLageKon-
kurrenz erwächst von Gruppen, die mit
demradikalen Chic einer unerbittlichen
und tätigenFeindschaft zu Israel werben
können. Entsprechend hasserfüllt waren
denn auch die Communiqués der Hamas.
Diese «verdammten» Explosionen seien
«isolierte Ereignisse» gewesen, liess der
Hamas-Politbüro-Chef Ismail Haniya
seine Untertanen wissen.

«MutterOberin»verschiebt«Gebetsbücher»


Die Familie des katalanischen Ex-Regierungschefs Jordi Pujol hat auf korrupten Wegen ein Vermögen angehäuft


UTE MÜLLER, MADRID


In vierJahrzehnten hat der Clan des frü-
heren katalanischen Regierungschefs
Jordi Pujol einVermögen von 290 Mil-
lionen Euro angehäuft. Ein Grossteil der
Summe soll aus Schmiergeldern und du-
biosen Geschäften stammen. So melden
mehrerespanische Zeitungen aufgrund
eines Untersuchungsberichts der spani-
schenPolizei. Im Zentrum der Ermittlun-
gen steht der 88-jährigePatriarch, der zwi-
schen 1980 und 2003 katalanischer Minis-
terpräsident war, zusammen mit seinem
gleichnamigen ältesten Sohn. So ziemlich
alle sieben Kinder Pujols waren offenbar
an den Machenschaften beteiligt.
DieFamilie habe ihre privilegierte
Stellung in sozialer, politischer und wirt-
schaftlicher Sicht ausgenutzt, um ein uner-
messlichesVermögen anzuhäufen, heisst
es in dem 222 Seiten starken Bericht. Seit
mehr als sechsJahrenbeschäftigt sich
die spanischeJustiz mit dem immensen
Vermögen, das dieFamilie Pujol imAus-
land gehortet hat.Wegen der zögerlichen
Kooperation vonBanken in Steuerpara-
diesenkonnten die Beamten der Sonder-
einheit fürWirtschaftskriminalität der
Staatsanwaltschaft in Madrid ihren Ab-
schlussbericht erst jetzt vorlegen.


Konten in Andorra


Nach den Erkenntnissen derPolizei hat
Jordi Pujol junior, heute 61Jahre alt, jahre-
lang als Schatzmeister der von seinem
Vatergegründeten katalanischenPartei
Convergencia Democratica de Catalunya
fungiert und einen gutenTeil der Spenden
undBestechungsgelderaufBankkonten
in Andorra transferiert. Den entscheiden-
denTipp gegen Jordi junior erhielt die
Justiz vor sechsJahren.Damals hatte ihn
seine ehemaligeFreundinVictoria Alva-
rez wegen angeblicher Geldwäsche an-
gezeigt.Laut den Angaben Alvarez’ fuhr
Jordi Pujol junior jahrelang mitTaschen
voller 500-Euro-Scheinen nach Andorra,
um dort das Geld auf einerBank einzu-
zahlen. Sie sei selbst bei diesen«Trips» oft-
mals dabei gewesen. Jordi Pujol junior be-
sass damals 19 Fahrzeuge, ein 10 00 -Qua-
dratmeter-Anwesen mitten inPedralbes,
dem teuerstenViertel vonBarcelona,und
einWochenendhaus.
AuchJordi Pujol senior wurde damals
vorgeladen, um über möglicheAuslands-
kontenAuskunft zu geben. DerPatriarch
erklärte dem Richter, dass er seit über 30
Jahren ein Millionenvermögen imAus-
land habe, das Geld sei das Erbe seines
Vaters Florenci, eines1980 verstorbenen
Bankers. Einen Beweis für die Erbschaft
konnteJordi senior allerdings nicht prä-


sentieren. Nun war die Demontage der
Pujols, die einst zu den angesehens-
tenFamilien Kataloniens zählten, nicht
mehraufzuhalten.

FrommeChiffren


Im Ermittlungsbericht wird auch Pujols
Gattin MartaFerrusola, heute 84Jahre
alt,erwähnt.Sie sei besonders inten-
siv an derVerwaltung desFamilien-
vermögens beteiligt gewesen, heisst es.
Schon vor zweiJahren stellte sich heraus,
dass der Schriftverkehr mit ihrer andor-
ranischen Hausbank chiffriert war. Die
bekennende Katholikin war sich nicht
zu schade, sich als «Mutter Oberin» aus-
zugeben, die Millionen wurden als «Ge-
betsbücher» bezeichnet, dieKonten,
zwischen denen das Geld bewegt wurde,
als «Bibliotheken». Mit diesem Ablen-
kungsmanöver hoffte sie, keinenVer-
dacht bei den Behörden zu wecken und
dasVermögen derFamilie zu schützen.
Doch nicht nur wegen ihres Schwarz-
geldes,sondern noch wegen anderer
korrupter Machenschaften gerieten ihre
Sprösslinge schliesslich in die Schlag-
zeilen. Der 52-jährige Oriol Pujol, das

fünfte Kind derFamilie, wurde letz-
tesJahr zu zweieinhalbJahren Gefäng-
nis verurteilt, weil er von Geschäfts-
leuten Schmiergelder in Höhe von
443 600 Euro kassiert hatte; im Gegen-
zug sicherte erihnen Lizenzen fürPrüf-
stellen der Motorfahrzeugkontrolle.
Gegen den 47-jährigen Oleguer Pujol,
denjüngsten Sohn, ermittelt dieJustiz
wegen möglicher Geldwäsche bei einem
Milliardenprojekt in Katalonien. ImVer-
gleich zu den Brüdern haben die bei-
den Schwestern Marta und Mireia den
Skandal bisher halbwegs unbeschadet
überstanden. Aktenkundig ist, dass die
Schwestern zusammen etwa zwei Millio-
nen Euro aufKonten in Andorra haben.
Die erste ist Architektin, sie hat immer-
hin zehn lukrativeAufträge von der kata-
lanischenRegionalregierung erhalten.
Die zweite ist eine ehemalige Tänzerin.

Verbannt in Barcelona


Die spanische Gesellschaft bezahle jetzt
den Preis dafür, dass sie denPolitikern
nach dem Ende derFranco-Diktatur
zu viel Macht eingeräumt habe und bei
ihnen auf so etwas wie freiwillige Selbst-

kontrolle gesetzt habe,schrieb die Zei-
tung «ElPaís»bereits zuBeginn der Er-
mittlungen. Heute lebtJordi Pujol mit sei-
ner Gattin zurückgezogen inBarcelona
in einerWohnung, die ihm seinVater 1956
zur Hochzeit geschenkt hat. SeinePartei-
freunde haben sich von ihm abgewandt.
In seinen Memoiren bezeichnet sich
Pujol alsPatriot, der sich für Katalonien
einsetzt. Doch das politischeVermächt-
nis des Mannes, der früher in Madrid
stets umworben wurde und der abwech-
selnd Sozialisten undKonservativen zur
Mehrheit imParlament verhalf, ist zer-
stört. SeinePartei löste sich 20 16 auf, sie
ging im neuenPartit Democrata Euro-
peu Catala auf, der sich die Unabhängig-
keit Kataloniens auf dieFahnen schrieb,
in derWählergunst inzwischen aber von
den schon viel länger separatistischen
Linksrepublikanern überholt wurde.
In einem Interview sagte Pujol, er
fühle sich an denRand gedrängt und
im Grunde verbannt.Immerhin muss er
von einem Prozess gegen seineFamilie
nicht mehr viel befürchten. Bei einem
fast 90-Jährigen sieht das spanische
Strafrecht eineAussetzung der Strafe
auf Bewährung vor.

JordiPujol senior und MartaFerrusola, die «Mutter Oberin»,mit Anwälten 2016 vor dem Obergericht in Madrid. SUSANAVERA/REUTERS
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