Neue Zürcher Zeitung - 29.08.2019

(Martin Jones) #1

Donnerstag, 29. August 2019 INTERNATIONAL


IM UNTERGRUND


Vom Bunker aus ins neue Leben


Ab 1955 kamen Gastarbeiter au s Süd- und Südosteuropa in München an und ermöglichten das deutsche Wirtschaftswun der


STEPHANIE LAHRTZ, MÜNCHEN


Eleni Tsakmakis’ Annäherung an ihre
neue Heimat begann unter dem süd-
lichenVorplatz des Münchner Haupt-
bahnhofs.Von1955 bis1973, zu Zeiten
der Anwerbeabkommen mit ausländi-
schen Arbeitnehmern, kamen hier meh-
rereMillionen Menschen an. Italiener,
Griechen,Türken undPersonen aus dem
damaligenJugoslawien trafen in Sonder-
zügen auf Gleis 11 ein.Tsakmakis war 22,
als sie1961 mit ihrem Mann,zweiKoffern
und einem Sack jodhaltigen Salzes aus
Griechenland nach München kam.«Wir
wurden auf demBahnsteig von einem
Dolmetscher mit Megafon abgeholt. Im
Gänsemarsch ging es sofort hinunter»,
berichtet die zierliche Griechin.Der Bun-
kereingang liegt nur wenige Schritte vom
Gleiskopf entfernt. Dort befand sich da-
mals die «Zentrale Weiterleitungsstelle».
«Enge Räume, niedrige Decken,
nackter Betonboden, kalt und feucht,
alles nur erhellt von Neonröhren,Bänke
undTische aus Holz. Hier zu landen,
war ein Schock für mich. Es war so ganz
anders als das Deutschland, das ich mir
vorgestellt hatte»,erinnertsich Tsakma-
kis.Angst habe sie aberkeine gehabt, ob-
wohl die einzigen Deutschen, die sie bis
dahin gesehen hatte, die Gestapo-Män-
ner in ihrem Geburtsort gewesen waren.
Im Bunker gab es zur Begrüssung für
jeden Ankömmling einePapiertüte mit
zwei Brötchen, einem Stück Salami (für
Muslime ohne Schweinefleisch), einem
Eckchen Schmelzkäse, zwei Bananen,
einerPackung Butterkeksen und einer
kleinenTafel Schokolade. Dazu einen
Becher Kaffee, so dünn, dass man den
Boden sah.Alles in allem also eine für
südländische Gaumen doch eher ge-
wöhnungsbedürftigeVerpflegung – und
meist der ersteKontakt mit deutschem
Essen.In derRegel mussten die Neu-
ankömmlinge einige Stunden unter der
Erde warten. Nur beiVerspätungen der
Züge oder sonstigen Störungen ver-
brachten sie die Nachtdort im Etagen-
bett unterrauen Militärdecken.


Gutorganisiert


«Bis zu 4500 Menschen wurden in den
1960erJahren proWoche durch den Bun-
ker geschleust», berichtetKurt Spennes-
berger. Der grosse, stämmige Mann mit
leicht bayrischem Akzent war damals
Mitarbeiter desLandesarbeitsamtes Süd-
bayern. Er leitete die Gastarbeiter an ihre
künftigen Arbeitgeber in ganz Deutsch-
land weiter.Die Bedingungen im Bun-
ker seien zwar nicht ideal gewesen,zu-
mal vielePersonen dort unten geraucht
hätten, erzählt er. «An manchenTagen
hüllten uns dieRauchschwaden fast ein,
da mussten die Dolmetscher eineRauch-
pause ausrufen.»Trotzdemwar es für
Spennesberger beruflich die interessan-
teste Zeit seines Lebens.«Ich hab wirk-
lich nette Leute getroffen und Brocken
der fremden Sprachen gelernt. Einige
Male durfte ich als offizieller Begleiter


in den Sonderzügen aus derTürkei mit-
fahren, da wäreich doch sonst nie hin-
gekommen.»Wer im Bunker eintraf, der
wusste, dass er oder sie in Deutschland
bleibenkonnte. Denn die«Tauglichkeits-
prüfung» – in Tsakmakis’Erinnerung
waren das Kniebeugen, eine Gebisskon-
trolle, ein Blut- und Urintest undFra-
gen zur geistigenVerfassung – sowie die
Abfrage vonAusbildung undFähigkei-
ten wurden schon in den Heimatländern

durchgeführt. Nur wer bestand, erhielt
das von Deutschland bezahlte Zugbillett.
Da Deutschland die Arbeitswilli-
gen dringend benötigte, waren Anwer-
bung, Transport undVerteilung gutorga-
nisiert.Die Unternehmen bestellten
Arbeiter beim örtlichen Arbeitsamt,es
wurden anonymeVerträge ausgestellt
und postalisch an die ausländischenVer-
mittlungsstellen geschickt. Die Arbeits-
suchenden erhielten also noch in ihrem
Heimatland den anonymenVertrag, ver-
sehenmit Name und Anschrift des künf-
tigen Arbeitgebers. Dieses Schriftstück,
ihre Eintrittskarte nach Deutschland,
hüteten sie wie einen Schatz.

Nicht unumstritten


Verstehenkonnte dieVerträge aller-
dings fast niemand. Kaum jemand sprach
Deutsch, vielekonnten gar nicht lesen.
Immer wieder hätten Eheleute unwis-
sentlichVerträge fürFirmen in unter-
schiedlichen Orten angenommen, erin-
nert sich Spennesberger. «Meistkonnten
wir das im Bunker aber nochkorrigie-
ren. DenFirmen war egal, welchePerson
kam.Nur dieAnzahl musste stimmen.»
In München wurden die Ankömmlinge
entweder in die Züge gesetzt, die sie an
ihren Arbeitsort brachten, oder sie wur-
den von Münchner Arbeitgeberndirekt
im Bunker abgeholt.
Selbst Leute,die auf eigeneFaust an-
reisten, landeten zuerst im Bunker.Wie
Salvatore Martino,der 1965als19-Jäh-

riger aus dem süditalienischen Salerno
nach München kam. EinLandsmann
hatte Martino gleich nach seiner Ankunft
amBahnhof dorthin geschickt. Im Bun-
ker drückte man ihm einenArbeitsvertrag
füreineMünchnerBaufirma in die Hand.
Viele Italiener seien inBaufirmen gelan-
det, erinnert sich Spennesberger. Die spä-
terkommendenTürken – das Anwerbe-
abkommen mit derTürkei wurde erst 1961
und somit sechsJahre später als jenes mit
Italien geschlossen – seien hingegen oft-
mals zur Städtereinigung gekommen.
Völlig unumstritten warder Bunker
als Sammelstelle nicht. «Immer wieder
habeneinige Einheimische undVertreter
der Ankömmlinge einen ansprechende-
ren Ersatz gefordert»,sagt Spennesberger.
Doch zum einen wollten die Behörden
den Münchnern damals nicht zumuten,
täglich mit einerKolonne vonPersonen
konfrontiert zu werden, die ihnen zum
Te il doch sehr fremdländisch und auch
ärmlich vorkamen.Zu frisch waren offen-
bar noch die Erinnerungen an Zwangs-
arbeiter- und Flüchtlingskolonnen wäh-
rend des Kriegs und danach. Zum ande-
ren war es praktisch, dasVerteilzentrum
in unmittelbarer Nähe zum Ankunfts-
und Abfahrtsgleis zu haben.
Die Ankunft im Bunker war auch
bezeichnend für das neue Leben: Die
Gastarbeiter verschwanden erst ein-
malimUntergrund. Die deutsche Ge-
sellschaft wusste zwar, dass man die
Ankömmlinge brauchte, aber so richtig
wahrnehmen wollte man sie nicht.Viele

der Gastarbeiter wohnten inBaracken,
die teils nochaus Kriegszeiten stamm-
ten.WerGlück hatte, fand ein Etagen-
bett in einem derWohnheime, die von
denFirmen gestellt wurden.«Wir waren
unter uns. Mit den Deutschen hatten wir
ausserhalb derFirma kaumKontakt»,
erzählt der Sizilianer OrazioVa llone,
der1964 nach München kam.
In den ersten Monaten bisJahren
störten sich viele Gastarbeiter nicht an
ihrem parallelen Leben. Sie seien fest
davon überzeugt gewesen,dass sie nur
einigeJahre in Deutschland bleiben,
viel Geld verdienen, dann wieder nach
Hausefahren und dort endlich gut le-
ben würden, berichten alle Gesprächs-
partner.Daher waren die meistenzu-
erst auch nicht besonders interessiert
daran, mehr als ein paar Alltagsvokabeln
Deutsch zu lernen.Viel mehr bewegte
die Gastarbeiter dieTrennung von ihrer
Familie. «Ich musste meine zwei Kinder
jeweils bei einer Oma zurücklassen.Das
hat mich fast umgebracht», erinnert sich
Tsakmakis.«Alle meine Gedanken, wäh-
rend ich die immer gleichen Handgriffe
an der Stanzmaschine ausführte, kreisten
darum, bald zu ihnen zurückzukehren.»
Doch das war nicht so einfach. Erst
musste genügend Geld verdient werden.
EinTe il des Gehalts ging für Unterkunft
und Essen in Deutschland drauf. Und als
das Heimweh Tsakmakis, Martino und
Va llone nach einigenJahren doch zu-
rücktrieb,konnten sie in der früheren
Heimat nicht mehrFuss fassen. Zum
einen waren sie dort fremd geworden.
Zum andernkonnten sie dort immer
noch nicht genug verdienen.

Nicht jeder schlugWurzeln


Also packten sie ein zweites Mal die
Koffer und zogen wieder nach Deutsch-
land. Nun wolltensie endgültig aus dem
Untergrund auftauchen und auch ge-
danklich einTe il Deutschlands werden.
Leicht war das nicht. Tsakmakis musste
eine Betreuung für ihre mittlerweile
drei Kinder finden. «Meine Mutter und
meine Schwester kamen immer abwech-
selnd für drei Monate mit einemTo uris-
tenvisum», erzählt sie. «Wir lebten alle
zusammen in zwei Zimmern.» Eine grös-
sere und zudem bezahlbareWohnung zu
finden, war damals vor allem fürAus-
ländersehr schwierig. Nur wenigeVer-
mieter trauten den Gastarbeiterfamilien.
Auch wenn Tsakmakis von einem har-
ten und nicht völlig glücklichen Lebener-
zählt – sie ist in der Oberwelt angekom-
men. «Ab dem Moment, als ich hier mein
erstes Enkelkind in den Armen halten
durfte, war München für mich Heimat»,
sagt sie und strahlt dabei.Doch nicht jeder

konnteWurzeln schlagen. Dasich Salva-
tore MartinosFrau nicht an München ge-
wöhnenkonnte,zog sie nachnur weni-
gen Monaten zurück nach Süditalien. Die
Kinder lebten ebenfalls dort, in einem
Haus, das mit dem deutschen Gehalt
desVa ters finanziert wurde. «Deutsch-
landhat mir GeldundKulturgegeben,
aber die Liebe genommen», sagt Martino.
Heute sei dasVerhältnis zu seinerFami-
lie zerrüttet.«München ist toll zum Le-
ben, es bedeutetRuhe,Befreiung, Leben
ohne Angst», sagt er.Aber die Heimat sei
für ihn immer noch Salerno. Dort will er
dereinst begraben werden,«nicht in frem-
der Erde!» OrazioVa llone, der früher in
derkommunistischenPartei Italiens aktiv
war und sich dann inMünchen in der Ge-
werkschaft engagiert hat, fühlt sich nun
als Europäer. Den Untergrund haben sie
alle verlassen. Aberdashat gedauert.

Wie die Gastarbeiter München veränderten


slz.·Trattoria Santa Lucia,Taverne
Hellas oder der Dönerladen um die Ecke



  • wenn man heute durch die Isarmetro-
    pole schlendert, fallen einem die vielen
    Restaurants mit ausländischen Namen
    gar nicht mehr als fremd auf.Die Er-
    weiterung des kulinarischen Horizonts
    ist auch einVerdienst der Gastarbeiter.
    In den1950erJahren beschimpfte man
    sie hingegen als «Spaghettifresser» oder
    verbot ihnen, in Mietwohnungen mit
    Knoblauch zukochen.
    Auch viele moderneWahrzeichen
    oder Infrastrukturbauten in München
    sind dasWerk der Gastarbeiter. Das
    Olympiagelände,die Strassen Innen-
    stadt- und Mittlerer Ring oder die U-
    Bahn sind in denJahren desBaubooms
    vor und für die Olympiade von1972 ent-
    standen. In manchen Münchner Stadt-
    teilen machten die Gastarbeiter da-


mals einViertel der Bevölkerung aus.
Das sogenannte Münchner Modell bei
der Mietwohnungsvergabe verhinderte
aber eine Ghettobildung. Schon damals
musste in Neubauten eine bestimmte
Anzahl derWohnungen anAusländer
vermietet werden. SonntäglicherTreff-
punkt und Ersatz für den heimischen
Dorfplatz wurde für viele derBahnhof,
ihr Ankunftsort.
1972 bekannte sich München dazu,
eine Einwanderungsstadt zu sein. Man
wollte damals Integration richtig-
gehend planen und auch den Einheimi-
schen klarmachen, dass die Gastarbei-
ter keineswegs nur für kurze Zeitnach
Deutschlandgekommen waren. Gegen
die ursprünglich in den Anwerbeabkom-
men geplanteRotation waren auch die
Arbeitgeber.Wer einmal gut angelernt
war,den wollte man im Betrieb behalten.

IM UNTERGRUND
Die NZZ-Sommerserie beleuchtet
Verstecktes.Lesen Sie nächsten
Donnerstag denBeitrag über einen
früherenRechtsextremisten, der
heute britische Neofaschisten jagt. Alle
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nzz.ch/untergrund

In München kamen von 1955bis 1973 mehrere Millionen Gastarbeiteran. Im Bild italienische Migr anten 1960. J. KOVACS / SZ PHOTO
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