Süddeutsche Zeitung Magazin - #35 - 30.08.2019

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seien wie ich gewesen und hätten deshalb sterben müssen. In den
Nächten darauf träumte ich, dass die Gestapo mich abholt. Von
jüdischen Freunden habe ich Ähnliches gehört. Eine israelische
Mutter erzählte mir einmal, ihre Kinder hätten in der Schule ein
Nazi­Verhör nachspielen sollen, um zu spüren, was ihren Vorfah­
ren widerfahren war.
Wertman sagt, dass es zu viel Erinnerung nicht geben kann.
Ich bin mir nach dieser Recherche nicht mehr sicher.
Während Wertman Kaffee kocht, folge ich mit den Augen den
Ziffern auf seinem Arm. Warum hast du keine KZ­Nummer aus
deiner Familie gewählt?, denke ich. Warum musste es ausgerech­
net die letzte Zahl sein?
An den Wänden hängen Kunstwerke von Wertmans Vater, der
den Holocaust als Kind überlebte. Nicht nur Wertmans Arm ist
ein Mahnmal: Sein ganzes Haus, sein ganzes Leben ist es.
»Fangen wir an?«, fragt Wertman.
Wir setzen uns in sein Atelier. Er hat einen kleinen Tisch
aufgestellt: Butterkekse, Kaffee. Vor dem Fenster tobt der
Sturm. Ich hole meine Mappe aus dem Rucksack. Ich stocke, ein
letztes Mal.
Dann beginne ich zu erzählen. Wie M. gelebt hat, dass er in
einem Dorf geboren wurde. Dass seine Eltern sich scheiden
ließen, er ins Heim kam, klaute und schließlich im KZ landete.
Nach und nach decke ich Papiere auf. Eine Kopie von M.s
Ge­burtenbuch. Zeitungsausschnitte, in denen seine Diebstähle
erwähnt sind. Archivschreiben, in denen steht, dass M. verurteilt
wurde und in Haft kam. Dokumente, die M.s KZ­Aufent­
halte belegen.
Dann ziehe ich das Bild des Kommandeurs Oskar Dirlewanger
hervor. Auf dem Foto trägt er eine Uniform, er ist eindeutig als
Nazi­Funktionär erkennbar. »Hast du diesen Mann schon mal
gesehen?«, frage ich. Wertman lehnt sich vor, schaut sich das Bild
an. Sein Blick wird starr. »Dieser Mann ist der Grund, warum ich
hier bin«, sage ich.
Ich zeige Wertman das Auschwitz­Papier, aus dem hervorgeht,
dass M. zur SS­Einheit Dirlewanger wechseln sollte. Er erfährt,
dass Dirlewangers Mannschaft schlimmste Verbrechen beging
und dass M. ab Januar 1945 wahrscheinlich ein Teil dieser
Gruppe war.
»Die Nummer auf deinem Arm gehörte jemandem, der wohl
bei der SS war«, sage ich. »Es tut mir leid.«
Wertman senkt den Kopf, ich höre ihn nach Luft ringen.
Minuten vergehen, ohne dass er sich rührt.
»Wie lange war er in dieser Einheit?«, fragt Wertman schließ­
lich.
»Einige Monate«, sage ich.
»Was hat er dort getan?«
Ich schlucke. »Ich weiß es nicht.«
Wertman schließt die Augen. Senkt wieder den Blick. So sitzt
er da, die Hand auf die Stirn gestützt, und sagt kein Wort.
Irgendwann stehe ich auf und lasse Wertman allein. Als ich
auf das Taxi warte, stellt er sich neben mich ans Fenster und
schaut in den Regen. »Jetzt weiß ich wieder, warum ich nie wissen
wollte, wem die Zahl gehörte«, sagt Wertman. Er sieht müde aus,
seine Stimme klingt schwach. Seine Umarmung zum Abschied
fühlt sich an, als wolle er mich wegschieben.
Im Hotel werfe ich alle Dokumente in den Müll. Zerknülle
das Bild des SS­Manns Dirlewanger, das ich für Wertman ausge­
druckt hatte. Was hast du angerichtet?, frage ich mich.


Ich träume, wie Wertman sich die Tätowierung abkratzt. Als ich
aus dem Schlaf aufschrecke, schreibe ich Wertman eine Nach­
richt: »Ich fühle mich schuldig.« Er antwortet nicht.
Am nächsten Morgen lese ich eine Nachricht von ihm. »Deine
Recherche zeigt, dass die Welt damals für jeden ein dunkler Ort
war«, schreibt Wertman. »Ich bin froh, dass du es gemacht hast.«
Ich möchte weinen vor Erleichterung.
Ich fahre noch einmal zu Wertmans Haus. Diesmal lächelt er.
Seine Stimme ist kräftiger als gestern, sein Blick klarer.
Nachdem ich fort war, sagt Wertman, lag er mehrere Stunden
auf dem Sofa seines Arbeitszimmers. Starrte an die Decke und
dachte über die Nummer nach. Und über Engelbert M., dem
Mann, dem sie einmal gehörte.
»Er war auch ein Opfer«, sagt Wertman. »Er kam unschul­
dig ins KZ. Vielleicht ging er nur zur SS, um Auschwitz zu
entkommen.«
Wertman erzählt, er wolle die Nummer behalten. Die Nazis
haben ihm seine Familie genommen, nun sollen sie ihm nicht
noch die Tätowierung nehmen. »Dann steht sie eben nicht nur
für die ermordeten Juden, sondern für alle Opfer dieses Krieges«,
sagt er. »Was du herausgefunden hast, ändert für mich nichts.«
Aber für mich ändert es etwas.
Erinnerung ist wichtig. Wir dürfen nicht vergessen, wir müs­
sen verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Aber wir
Juden erinnern nicht nur – wir geben ein Trauma weiter. Ein
Trauma, das in den vergangenen Jahrzehnten immer größer
wurde. Das sich loslöste von den Menschen, die es tatsächlich
erlebten, und das nun über uns allen schwebt.
Ich will keinen Schmerz, der mir nicht gehört. Und ich will
mich nicht vor etwas fürchten, das weit in der Vergangenheit
liegt. Ich will mich an die Menschen erinnern, die der Holocaust
wirklich traf.
Bei meinem Besuch am Tag zuvor hat Wertman mir ein Bild
gezeigt. Darauf ist eine junge Frau zu sehen: Sie trägt einen hellen
Mantel und lehnt an einem Brückengeländer. Ihre dunklen Haare
sind gewellt, sie lächelt in die Kamera. Die Frau ist eine Schwester
von Wertmans Großmutter Fania. Es ist das einzige Foto, das von
ihr existiert. Die einzige Spur, die sie hinterließ, bevor die Nazis
sie umbrachten.
Wertman wollte mit seiner Tätowierung eigentlich an die Frau
auf dem Bild erinnern. An sie und an ihre Familie, die sterben
mussten, weil sie Juden waren.
Ich kenne die Nummern nicht, die sie von den Nazis vielleicht
bekamen. Aber ich kenne ihre Namen. Sie hießen Elka. Liwsia.
Gicia. Rachel. Zołda. Berek.

hat eine intensive Beziehung zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Während ihres Aufenthalts in Jerusalem war der Park um das Museum einer
ihrer liebsten Orte. Dort sind mehrere Tausend Bäume gepflanzt – zum Ge-
denken an jene Menschen, die Juden retteten.

ALEX A ND RA ROJ KOV
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