SÜ D D EU TS C H E ZEITU N G M AGA ZI N 29
Wenn die Mächtigen der Welt sich mal
richtig aussprechen wollen, gehen
sie wandern. Aber bringt’s das wirklich?
Eine Nachbegehung
Die »charakterlichen, geistigen und politischen Voraussetzungen« Helmut Kohls
beeindruckten Franz Josef Strauß nicht besonders. Aber immerhin waren die Voraussetzungen
für gemeinsame Wanderungen gegeben.
Erkenntnis drei: Ja, das geht hier anders als
mittags in der Kantine oder abends beim
Bier in der Kneipe. Wir wissen, zwei Stunden
hin, zwei Stunden zurück, eine Stunde Pause,
wir werden viel Zeit miteinander verbrin
gen. Man atmet anders. Geht die Themen
aufgeräumter an: Warum haben wir uns vor
Jahren so wenig leiden können? Wovon
träumst du? Und wie um alles in der Welt
kann jemand solche Feierabendtreter zum
Wandern anziehen?
Der Dirigent Wilhelm Furtwängler wan
derte gern mit dem Archäologen Ludwig
Curtius. Es heißt, als Curtius einmal sagte,
dass er Bachsh-Moll-MesseBeethovensMissa
Solemnisvorziehe, habe Furtwängler empört
erwidert: »Wenn du so denkst, dann können
wir nicht weiter zusammen wandern.« So
grundsätzlich wird es bei uns nicht. Trotz
dem, jeder von uns erfährt Überraschendes
über das Leben des anderen. Erkenntnis vier:
Wer gemeinsam wandert, wird offener. Ich
hab schon immer davon geträumt, von einer
Brücke zu pinkeln. Was war der schreck
lichste Moment in deinem Leben? Und die
Schuhe, ganz im Ernst?
Als der Philosoph Martin Heidegger 1966
nach langer Anbahnung endlich bereit war,
denSpiegelGründer Rudolf Augstein zum
Interview zu empfangen, wurde auch eine
gemeinsame Wanderung zu Heideggers Hüt
te im Schwarzwald anberaumt. Gesagt, ge
tan, es gibt hübsche Fotos von den beiden,
wie sie in Sakko und Krawatte weit ausschrei
ten. Wir dagegen gönnen uns leichte Berg
kleidung (nein, jetzt kein Wort mehr zu den
Schuhen).
Die Bäume rücken näher, der Weg wird
eng und anspruchsvoll. Mit dem gemüt
lichen Nebeneinander ist es bald vorbei,
meistens müssen wir hintereinander herstei
gen. Erkenntnis fünf: Wer zum Reden in die
Berge geht, unterwirft sich dem Rhythmus
der Berge. Da wird ein Argument nicht auf
der Stelle mit Widerrede beantwortet, man
muss warten, durchatmen und, ja, nachden
ken. »Noch eine Bemerkung zu dem, was du
vorhin gesagt hast ...« – »Ich hab nachge
dacht, ich glaube, du hattest doch Recht ...«
Der Weg zwingt der Kommunikation Pausen
auf. Tut gut.
Das wird damals auch den Hitzköpfen
Strauß und Kohl geholfen haben. Einmal, so
erzählt es ein früherer StraußMitarbeiter,
haben sich die zwei vor lauter Palaver verlau
fen. Als sie nicht mehr weiterwussten, ent
deckte Kohl auf einer Wiese einen alten,
kleinen Bauern, der Holz schlug. Der Kanz
FotoRICHARD SCHULZE -VORB ERG