Heute nimmt Russland nach gängiger Mei-
nung die Vormachtstellung in der Arktis ein. Es
verfügt über die größte Flotte, die ganzjährig in
den Gewässern des hohen Nordens verkehren
kann. Das Land unterhält mehrere Dutzend Mi-
litärstützpunkte oberhalb des Polarkreises. Die
USA haben einen einzigen Stützpunkt im Nord-
polargebiet – und einen Flugplatz auf einer ge-
mieteten Fläche im Norden von Grönland.
Russland hat neue Truppen im Norden sta-
tioniert, setzt vermehrt U-Boote ein und schickt
wieder Kampfflugzeuge in den Himmel über der
Arktis, wo sie regelmäßig den Nato-Luftraum
verletzen. Aber Markowitz und andere Experten
sehen die russischen Aktivitäten im Norden eher
als Ausdruck innenpolitischer Pläne und weni-
ger als Anzeichen globaler Bestrebungen.
Zwei Millionen Menschen leben in den russi-
schen Polargebieten, zu denen Großstädte wie
Murmansk und Norilsk gehören. Die arktischen
Bevölkerungen in Kanada und den Vereinigten
Staaten machen zusammen nicht einmal ein
Viertel dessen aus. Utqiaġvik, die früher Barrow
genannte größte US-Stadt in der Arktis, hat gut
4 000 Einwohner.
Russland sei stark auf die Gewinnung von
Rohstoffen angewiesen, sagt Markowitz, und
betrachte die Arktis „als seine künftige strategi-
sche Ressourcenquelle“.
Yun Sun, ein Senior Fellow am Stimson Center
in Washington, ist der Ansicht, dass die Strategie
der chinesischen Arktisexpansion ebenfalls auf
Rohstoffe und nicht auf Gebiete zielt. Die Exper-
tin sagt, dass China zusätzlich zu seinen Inves-
titionen in russische Öl- und Gasvorhaben be-
sonders am Zugang zu neuen Seewegen inte-
ressiert sei. Die könnten die Transportzeiten
zwischen asiatischen Häfen und europäischen
Märkten um bis zu zwei Wochen verkürzen.
Im vergangenen Januar veröffentlichte die
chinesische Regierung ein Weißbuch, in dem sie
ihre Pläne für den Norden umreißt. China sieht
sich darin als „arktisnaher Staat“ und spricht
sich dafür aus, mit anderen Nationen eine „Po-
larseidenstraße“ aufzubauen. „Man sollte das
sorgfältig beobachten“, sagt Sun. „Die wörtliche
Übersetzung dessen, was die Chinesen zu mir
gesagt haben, lautet: ‚Wir wissen, dass wir in der
Arktis keine Ansprüche haben, aber wenn es
etwas in der Arktis gibt, das wir bekommen kön-
nen, wollen wir nicht übergangen werden.‘“
Viele wollen ein Stück vom Kuchen abbekom-
men. Die Nordamerikaner müssen damit leben,
dass sie es jahrzehntelang versäumt haben, die
Gebiete im Norden zu erschließen und in deren
Bevölkerung zu investieren.
Joe Savikataaq, der Premierminister des ka-
nadischen Territoriums Nunavut, ist der Mei-
nung, dass die Inuit auch in den Plänen für die
neue Arktis wieder nicht vorkommen. „Wir sind
froh und stolz, dass wir zu Kanada gehören“,
erklärt er, „aber wir fühlen uns wie der arme
Bruder, der nur die Reste abbekommt.“
Savikataaq nennt mehrere Bereiche, in denen
die Gemeinden im Norden gegenüber denen im
Süden benachteiligt sind: Gesundheitsversor-
gung, Arbeitsplätze, Technologien, akademische
Abschlüsse. Dann zählt er auf, wo der Norden
vorne liegt: Eisverlust, Lebenshaltungskosten,
Tempo der Erwärmung, Selbstmordrate. Egal,
was als Nächstes komme, sagt er, es werde sie
zuerst treffen. „Ich kann nicht sagen, was Russ-
land oder China oder die USA vorhaben. Wir
sind klein und unsere Mittel sind so beschränkt,
dass wir nur Zuschauer sind. Wir müssen uns
anpassen, so gut es geht.“
N
ACH KNAPP einer Woche
Rangereinsatz wird das
Wetter endlich besser.
Marvin Atqittuq be-
stimmt, dass es Zeit ist,
auf Russen zu schie-
ßen. Zusammen mit
Sergeant Dean Lush-
man, einem ehema-
ligen kanadischen Infanteristen, der heute
Ranger ausbildet, schleppt er ein Bündel Schüt-
zenscheiben aus Pappe heran, heftet sie an
Holzlatten und stellt ein halbes Dutzend außer-
halb des Lagers in den Schnee. Jedes Ziel ist mit
dem Bild eines angreifenden, brüllenden Solda-
ten bedruckt, der ein Gewehr mit Bajonett trägt.
Die Schießscheiben wurden im Kalten Krieg
für Nato-Truppen entwickelt. Sie stehen Schul-
ter an Schulter am Fuß einer niedrigen Erhe-
bung und sind die höchsten Objekte im Umkreis
Am 21. September setzt
NATIONAL GEOGRAPHIC
seinen Schwerpunkt auf die Arktis. 15.55 Uhr: Wil-
des Russland; 16.45 Uhr: Planet der Raubtiere –
Jäger der Arktis; 17.40 Uhr: Wilde Arktis – Inseln
aus Eis und Feuer; 18.30 Uhr: Alaskas gefährliche
Wildnis – Soldaten der Arktis; 19.20 Uhr: Amerikas
National Parks – Gates of The Arctic. Mehr Infos
unter: nationalgeographic.de/spotlight
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