von Kilometern. Sie heben sich vom Schnee ab
und sind unmöglich zu übersehen.
In hundert Metern Entfernung zieht Atqittuq
eine Linie in den Schnee und stellt seine Solda-
ten daran auf. Jeder bekommt eine Handvoll
Gewehrkugeln. Die Ranger knien auf Robben-
fellen und feuern ihre antiquierten Waffen ab.
Deren Alter sei ihr einziger Vorteil, sagt Atqittuq:
Die Gewehre haben nur wenige bewegliche Teile
und frieren deshalb nur selten ein.
Ranger Lushman, der mehrere
Auslandseinsätze in Afghanistan
hinter sich hat, glaubt nicht an
einen Krieg im Norden: „Sieh dich
doch um“, sagt er und breitet die
Arme aus, also wolle er die leere
Tundra, die Ranger und die Papp -
russen umfassen. „Was soll man hier oben denn
machen? Mit Panzern herumfahren, Flugzeuge
einsetzen?“ Er wendet sich zu Atqittuq. „Wie
sieht’s aus, Marv? Bereit zum Kampf gegen die
Russen?“ Grinsend blickt Atqittuq von seinem
Notizbuch auf. „Lass mal, zu stressig.“
„Aus militärischer Sicht ergibt das einfach
keinen Sinn“, meint Lushman. „Wir verbringen
hier draußen viel Zeit mit einfachsten Dingen,
die Ausrüstung geht oft kaputt, schon das
schlichte Überleben ist anstrengend. Hier gibt’s
garantiert keinen Krieg.“
Die Canadian Rangers wurden im ersten Ost-
West-Konflikt gegründet. Damals sorgten sich
Militärstrategen um ballistische Raketen und
das Wettrüsten im Weltraum. Es war nie vorge-
sehen, dass die Ranger gegen einfallende Ar-
meen kämpfen würden. Bis heute besteht ihre
Aufgabe vor allem darin, passierende Schiffe zu
sichten. Mit dem Rückgang des Eises werden
gewiss häufiger Eisbrecher, Frachter und Kreuz-
fahrtschiffe vorbeifahren.
Einer der Ranger in der Schützenlinie heißt
Paul Ikuallaq. Er ist seit mehr als 30 Jahren
dabei. Früher war er an der Ausbildung von Sol-
daten der Nato-Staaten beteiligt. „Es war ein
ziemliches Chaos“, sagt er. Die kabluna (nicht-
indigenen) Soldaten, die er über die Jahre aus-
gebildet hat, kehrten alle mit der Erfahrung nach
Hause zurück, wie brutal ein Krieg in der arkti-
schen Kälte sein würde. „Manche haben es nicht
mal gemerkt, wenn sie Erfrierungen im Gesicht
hatten“, sagt Ikuallaq. „Den Weißen war nicht
klar, dass sie noch weißer werden konnten.“
Außerhalb des Militärs hoffen viele weiterhin
auf eine Arktis, die nicht als Schlachtfeld für
einen neuen Kalten Krieg dient, sondern mehr
wie die Antarktis oder der Weltraum genutzt
wird. In diesem Grenzgebiet menschlicher Zivi-
lisation haben internationale Vereinbarungen
und große Entfernungen positiven Einfluss auf
politische Unstimmigkeiten.
„Länder, die anderswo vielleicht unkooperativ
sind, müssen in den kalten, dunklen, gefährli-
chen und kostspieligen Regionen zusammenar-
beiten“, sagt Professor Michael Byers von der
University of British Columbia. „Die Notwendig-
keit der Zusammenarbeit führt zur Normalität
der Kooperation.“
Am letzten Abend brausen lange nach Son-
nenuntergang mehrere junge Inuit mit ihren
Schneemobilen ins Lager. Einer von ihnen stürzt
aufgeregt in die Gruppe. Er berichtet, ein junger
Mann sei vom Schlitten gefallen, den er mit sei-
nem Schneemobil gezogen habe, und nun nicht
mehr aufzufinden, irgendwo da draußen in der
Tundra. Marvin Atqittuq erfragt ein paar Ein-
zelheiten. Das ist genau die Art von Such- und-
Rettungs-Mission, die von den Rangern geübt
wurde. Bevor Atqittuq den Einsatz organisieren
kann, haben zwei Ranger ihre Ausrüstung an-
gelegt und rasen los.
Die Scheinwerfer ihrer Schneemobile leuch-
ten in der Dunkelheit, dann wird ihr Licht
schwächer und schließlich verschwindet es. Die
meisten Ranger schlendern zurück in ihre Zelte,
um dort auf das Heulen der zurückkehrenden
Motorschlitten zu warten. Wir kochen während-
dessen Tee. Marvin wirkt nicht übermäßig be-
sorgt. Der vermisste Inuit ist in der Arktis auf-
gewachsen und weiß, wie er im Notfall auf sich
gestellt zurechtkommt.
Ich denke an die vor ein paar Tagen gesichte-
ten Bären und versuche mir vorzustellen, was
der junge Mann jetzt wohl macht – allein da
draußen. Vielleicht singt er ja Kirchenlieder. N
Aus dem Englischen von Sabine Schmidt
Der Autor Neil Shea schreibt regelmäßig darüber,
wie Kulturen durch Konflikte verändert werden.
Der Fotograf Louie Palu ist auf sozialpolitische
Themen spezialisiert.
„DIE AUSRÜSTUNG GEHT OFT KAPUTT. SCHON
DAS SCHLICHTE ÜBERLEBEN IST ANSTRENGEND.
HIER GIBT’S GARANTIERT KEINEN KRIEG.“
WETTLAUF IM EIS 103