National Geographic Germany - 09.2019

(Ann) #1

Und was, wenn sich der Wandel selbst ver-


stärkt – wie es etwa beim Rückgang des arkti-


schen Meereises schon der Fall ist? Das Eis


reflektiert die Sonnenstrahlen, und das darun-


terliegende Wasser bleibt kühl. Schmilzt es aber,


absorbiert der dunkle Ozean die Wärme, was die


Schmelze wiederum verstärkt. Die Kipppunkte,


an denen solche Rückkopplungsschleifen in


Gang gesetzt werden, sind schwer vorhersagbar.


„Wir wissen, dass es Schwellenwerte gibt, die


nicht überschritten werden sollten“, sagt Chris


Field vom Woods Institute for the Environment


an der kalifornischen Stanford University. „Aber


wir wissen nicht genau, wie hoch diese liegen.“


Was den Permafrost angeht, gibt es viel Unge-


wissheit. Auf einer Fläche, die mehr als doppelt


so groß ist wie die USA und in einer der abge-


schiedensten Gegenden der Welt liegt, leben


gerade einmal so viele Menschen wie in Berlin.


Wenig davon wird direkt beobachtet, es fehlt


an geeigneten Messinstrumenten. Stattdessen


untersuchen Wissenschaftler kleine Abschnitte


genauer, verfolgen andere aus der Ferne und


ziehen Rückschlüsse auf den Rest – anders als


beim arktischen Meereis, das in seiner Gesamt-
heit per Satellit gemessen werden kann.
Um einen Typ Permafrostboden machen sich
die Forscher besondere Sorgen: jene etwa 20 Pro-
zent, die enorme Mengen von gefrorenem Eis

enthalten. Ein Teil davon bildete sich, als einst
Wasser in die Böden sickerte und gefror, sobald
es auf den Permafrostboden traf; ein anderer
entstand über Tausende Jahre in den arktischen
Wintern, wenn sich der Boden zusammenzog
und in Form netzartiger Muster aufbrach. Im
Frühling füllten sich die Risse mit Wasser, das
später wieder gefror. Mit der Zeit wuchs das un-
terirdische Eis zu massiven, von Permafrost-
boden umschlossenen Keilen an. Duvanny Yar
etwa ist von solchem Eis durchzogen.

E

INE DERARTIGE STRUKTUR
kann sich schnell auflö-
sen. Zerfällt der Perma-
frost, schmilzt auch das
eingeschlossene Eis. Das
ablaufende Wasser leitet
Wärme weiter, die das
Auftauen beschleunigt.
So entstehen Tunnel und
Lufteinschlüsse. Der Boden sackt ein, und es
entstehen Oberflächensenken, in denen sich
Regen und Schmelzwasser sammeln. Das wie-
derum vertieft diese Senken und wäscht die
eisigen Ufer aus, bis die Pfützen zu Tümpeln
und diese zu Seen werden. So erwärmt sich
noch mehr des Bodens.
„Abruptes Auftauen“ nennen Forscher diesen
Vorgang. Er verändert die gesamte Landschaft,
löst Erdrutsche aus. Auf Banks Island in Kanada
an der Beaufortsee verzeichnete man zwischen
1984 und 2013 eine 60-fache Zunahme von mas-
siven Bodenabsenkungen. Ganze Wälder stürzen
um. Merritt Turetsky, eine Ökologin an der Uni-
versity of Guelph in Kanada, verfolgt seit 15 Jah-
ren das abrupte Auftauen in einem Schwarz-
fichtenwald in der Nähe von Fairbanks. Das
Schmelzwasser destabilisiert die Wurzeln der
dortigen Bäume. Sie werden alle absterben,
fürchtet Turetsky.
Wenn Permafrost taut, entstehen immer
Treib hausgase. Und stehendes Wasser vergrö-

ßert die Gefahr noch. Aus dem sauerstoffarmen
Schlamm unter den Tümpeln und Seen steigt
auch Methan auf, das als Treibhausgas 25-mal
stärker wirkt als Kohlendioxid. Die Biochemike-
rin Katey Walter Anthony von der University of

PERMAFROST 119
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