manchen Gräbern der Migranten liegen zwei-
fellos Somalier: Kriegsflüchtlinge. In anderen
wahrscheinlich Deserteure aus Eritrea. Oder
von der Dürre ausgemergelte Oromo aus Äthio-
pien. Sie alle haben gehofft, heimlich über die
unmarkierten Grenzen Dschibutis zu gelangen.
Sie verirrten sich. Sie brachen unter der glü-
henden Sonne zusammen. Manche verdurste-
ten, da war das Meer in der Ferne schon zu
sehen. Die erschöpften Menschen, die
hinter ihnen kamen, begruben hastig
die Leichen.
Sie starben auf denselben öden Pfa-
den am Horn von Afrika, auf denen
schon die ersten modernen Men schen
des Pleistozäns auf ihrer Wanderung
den Tod fanden.
Eines Tages traf ich auf 15 magere
äthiopische Männer, die sich im spär-
lichen Schatten einiger Felsen ver-
steckten. Sie versuchten, unsichtbar
zu wirken, indem sie vollkommen reglos blie-
ben. Die meisten waren Bauern aus dem äthio-
pischen Hochland. Die jährlichen Regenfälle
seien vollkommen unberechenbar geworden,
erzählten sie. Auf ihren von der Sonne vertrock-
neten Feldern zu bleiben hätte bedeutet, all-
mählich zu verhungern. Dann lieber das Risiko
des Afar-Dreiecks auf sich nehmen, dieses Oze-
ans aus weißem Licht, selbst wenn man nie
daraus zurückkehrte. Auch sie sind eine Art
Pioniere: die ersten Klimaflüchtlinge.
Laut einer Studie der Weltbank werden bis
zum Jahr 2050 mehr als 140 Millionen Men-
schen in Subsahara-Afrika, Südasien und
Lateinamerika unterwegs sein – keineswegs
freiwillig, sondern wegen der verheerenden
Auswirkungen des Klimawandels. In Äthio pien
könnte die Zahl auf 1,5 Millionen Menschen
anwachsen – mehr als 15-mal so viele, wie sich
schon jetzt jedes Jahr durch das gefürchtete
Afar-Dreieck kämpfen.
Während ich in nördlicher Richtung durch
den Grabenbruch wanderte, dachte auch ich
darüber nach, wie das sein muss: eine vertraute
Welt verlassen zu müssen, weil sich die Sonne
selbst gegen einen wendet.
Die Gründe für den ersten Aufbruch der
Menschheit aus Afrika lagen möglicherweise
ähnlich. Forscher vermuten, dass damals ein
drastischer Klimawandel und mörderische
Hungersnöte dazu beitrugen, dass die Men-
schen Afrika verließen.
habe ich mit ihnen in staubigen Flüchtlingszel-
ten der Vereinten Nationen geschlafen. Ich habe
mir ihre Leidensgeschichten angehört, ich habe
aber auch mit ihnen gelacht. Natürlich bin ich
keiner von ihnen: Ich bin ein privilegierter Fuß-
gänger. Ich habe eine Kreditkarte und einen
Pass. Aber ich habe das Elend der Ruhr mit
ihnen geteilt und bin viele Male von ihrem Erz-
feind in Haft genommen worden: der Polizei.
Eritrea, Sudan, Iran und Turkmenistan haben
mir Visa verweigert; Pakistan hat mich hinaus-
geworfen, dann wieder hereingelassen.
Hunger, Ehrgeiz, Angst, politischer Wider-
stand: Die Gründe für Migration stehen nicht
infrage. Die Frage ist auch nicht, ob man dieser
Entwicklung mit Angst oder Mitgefühl begegnet.
Denn unabhängig davon, wie wir uns dabei füh-
len: Die neue Mobilität der Menschheit hat uns
und die Welt schon jetzt verändert.
Diese Mobilität hat eine eigene Klasse hervor-
gebracht – Menschen, zu deren Vorstellung von
„Heimat“ die offene Straße gehört. Mobilität ist
eine gewaltige und riskante Tangente des Mög-
lichen, die irgendwo weit entfernt beginnt und
vor unserer Türschwelle endet.
DIE ERSTEN MIGRANTEN, denen ich begegnete,
waren tot. Sie lagen unter kleinen Steinhaufen
im Großen Afrikanischen Grabenbruch. Wer
waren diese Unglücklichen?
Das ist schwer zu ermitteln. Die ärmsten
Menschen der Welt laufen von vielen Punkten
aus los und kommen häufig im Afar-Dreieck
Äthiopiens ums Leben, einer der heißesten
Wüsten auf der Erde. Sie wagen sich in dieses
entsetzliche Ödland, um den Golf von Aden zu
erreichen. Dort bildet das Meer das Tor zu
einem neuen – wenn auch nicht immer besse-
ren – Leben jenseits von Afrika: zu Jobs in den
Städten und auf den Dattelplantagen der Ara-
bischen Halbinsel, immer für Sklavenlohn. In
ICH HABE MIR DIE LEIDENSGESCHICHTEN
DER FLÜCHTLINGE ANGEHÖRT, ABER
ICH HABE AUCH MIT IHNEN GELACHT.
NATÜRLICH BIN ICH KEINER VON IHNEN:
ICH BIN EIN PRIVILEGIERTER FUSSGÄNGER.
ICH HABE EINE KREDITKARTE UND
EINEN PASS IN MEINEM RUCKSACK.
(Weiter auf Seite 144)
138 NATIONAL GEOGRAPHIC