sogar in Stiefeln antreten, die aus Lappen zu-
sammengeschustert sind.
Sie fliehen aus brennenden Städten und ver-
lassenen Dörfern. Sie ziehen die Schuhe an, die
im Moment griffbereit herumliegen.
Erdrückende Verzweiflung und Hilflosigkeit,
das macht einen Kriegsflüchtling aus. Zumin-
dest ist es das, was bei uns fast immer in den
Medien ankommt. Als gebe es nur diese Stan-
dardaufnahme eines Kriegsvertriebe-
nen: Kolonnen traumatisierter Seelen
marschieren schweren Schrittes und
mit hängenden Schultern eine staubi-
ge Straße entlang. Oder das Bild der
zusammengedrängten Familie in
einem lecken Boot, der Blick panisch
nach irgendwo gerichtet. Doch diese
Schnappschüsse vom Flüchtlingsle-
ben – durch die Linse der reichen Welt
gesehen – sind beschränkt, irrefüh-
rend, wenn nicht sogar eigennützig.
Wochenlang bin ich in Jordanien durch den
Staub von Zelt zu Zelt gegangen. Mindestens
eine halbe Million Syrer vegetierten dort vor sich
hin – nur ein Bruchteil der ungefähr zwölf Mil-
lionen Zivilisten, die vom blutigsten Bürgerkrieg
im Nahen Osten vertrieben wurden. Krieg stiehlt
die Vergangenheit und die Zukunft. Die Syrer
konnten nicht zu den umkämpften Ruinen ihrer
Häuser zurückkehren. Und niemand sonst woll-
te sie haben. Sie waren gestrandet.
VIELE SCHUFTETEN ILLEGAL auf den Feldern. Ein
mageres Auskommen fanden sie beim Toma-
tenpflücken, für umgerechnet 1,50 Dollar am
Tag. Ich lief vorbei, sie winkten mich heran.
Fröhlich gaben sie mir die Feldfrüchte ihrer Ar-
beitgeber zu essen. Sie flößten mir literweise
Tee aus wildem Thymian ein. Sie schüttelten
ihre dreckigen Decken aus und luden mich ein,
mich zu setzen und auszuruhen.
In einem Zelt trat eine junge Frau hinter ein
aufgehängtes Laken und kam in ihrem präch-
tigsten Kleid wieder hervor, pink mit silbernen
Streifen. Die Schönheit dieser Hochschwange-
ren fuhr wie ein klarer Windhauch durch meine
Brust und dann in die Wüste hinaus.
Was ich damit zu sagen versuche: Was immer
Flüchtlinge sein mögen – sie sind auf keinen
Fall machtlos.
Sie sind nicht die bevormundeten Opfer, als
die sie im Leidensporno der politischen Linken
üblicher Weise dargestellt werden.
Wie stark muss der Drang in die Fremde sein,
wenn man alles zurücklässt, das man liebt? Nur
das bei sich, was in eine Hosentasche passt? Er
muss mächtiger sein als die Angst vorm Tod.
Im Afar-Dreieck stieß ich auf sieben Leichen,
die niemand begraben hatte. Frauen und Män-
ner, alle auf einem Haufen. Sie lagen mit dem
Gesicht nach oben, mumifiziert auf einem dunk-
len Lavafeld. Die Hitze war erdrückend. Scha-
kale hatten ihnen Hände und Füße abgefressen.
Mein Wandergefährte Houssain Mohamed
Houssain schüttelte fassungslos und angewidert
den Kopf. Er ist ein Afar, ein Nachfahre von Ka-
melhirten, den alten Königen der Wüste. Sein
Volk nennt die jüngsten Wellen flüchtender
Menschen hahai, Windmenschen: Geister, die
über das Land wehen.
Einer der unglückseligen Migranten hatte sich
unter einen Felsvorsprung gequetscht. Be-
stimmt auf der verzweifelten Suche nach Schat-
ten. Er hatte seine Schuhe neben sich gestellt,
in jedem eine ordentlich zusammengerollte
Socke. Als hätte er gewusst: Seine Suche nach
einer besseren Welt war vorbei.
Der Charakter eines Menschen spiegelt sich
in seinem Gesicht. Doch wenn man über Konti-
nente wandert, lernt man, nach unten zu bli-
cken. Man begreift, wie wichtig Füße sind.
Die Wahl der Schuhe (ebenso wie ihr Fehlen)
sagt etwas über die persönliche Geografie eines
Menschen aus: Wohlstand oder Armut, Alter,
Art der Arbeit, Ausbildung, Geschlecht, Stadt
versus Land. Die Legionen von Migranten welt-
weit kann man nach ihren Füßen klassifizieren.
Wirtschaftsmigranten – jene Millionen Not-
leidender, die zumindest etwas Zeit zum Vor-
ausplanen haben – scheinen den billigen chi-
nesischen Unisex-Mehrzweck-Sneaker zu
bevorzugen. Kriegsflüchtlinge, die vor Gewalt
fliehen, müssen ihre Schreckenswege hingegen
in Flip flops, Slippern, hochhackigen Pumps oder
WAS ICH DAMIT ZU SAGEN VERSUCHE:
WAS IMMER FLÜCHTLINGE SEIN MÖGEN –
SIE SIND AUF KEINEN FALL MACHTLOS.
SIE HABEN EUROPA SCHON SEIT
NEOLITHISCHEN ZEITEN STARK VERWAN-
DELT. OHNE SIE GÄBE ES DEN
MODERNEN EUROPÄER GAR NICHT.
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