probierten sie ein paar Hundert Meter lang ihre
englischen Wörter und Sätze aus, bis sie wieder
abdrehten. Sie lernten für die Prüfungen des
International English Language Testing Sys-
tem. Gute Ergebnisse waren entscheidend, um
die Anforderungen für ein Visum für Neusee-
land, Australien, Großbritannien, Kanada und
die USA zu erfüllen. Diese Gespräche hatten
nichts Unbekümmertes an sich, es waren Haus-
aufgaben. Die Fragen, die die Jugendlichen mir
stellten, sind so alt wie die Steinzeit: „Wer sind
Sie?“ „Woher kommen Sie?“ „Wohin gehen Sie?“
IN FARIDKOT, einer Stadt in einem Meer aus
Weizen, bereiten ungefähr hundert private
Englischschulen Zehntausende junge Inder da-
rauf vor, ihre Heimat zu verlassen. Denn die
Felder von Punjab sind vergeben, und Land-
wirtschaft hat wenig Zukunft. Die Schüler wol-
len sich den 150 Millionen Arbeitsmigranten
anschließen. Die Gegend erlebt eine Entsiede-
lung, anders kann man es kaum sagen. „Die
Einzigen, die bleiben, können es sich nicht
leisten zu gehen“, sagte der Besitzer einer
Sprachschule. Eine Auswanderung kostet
durchschnittlich 14 000 Dollar. Das ist das
23-Fache eines mittleren Jahreseinkommens
in Indien.
Ich war gerade aus Zentralasien angekom-
men. Einer meiner Wandergefährten in Usbe-
kistan stahl sich regelmäßig nach Kasachstan
hinüber, um ohne Papiere auf Baustellen zu
arbeiten. Er hatte Narben von Zusammen-
stößen mit der Polizei. In Kirgistan und Tad-
schikistan war ich Migranten begegnet, die
nach Moskau flogen, um irgendwo an der Kasse
zu sitzen oder in albtraumhaften Chemiefabri-
ken zu schuften. Den Afghanen auf meiner
Reise war jeder Kontinent recht, wenn sie nur
dem Krieg entfliehen konnten.
Dennoch werden vermutlich die in ihrem
Land bleibenden Menschen die Welt verändern.
Und das sind viele. 139 Millionen Einwohner
Indiens sind Binnenmigranten, die vor allem
vom Land in die Städte ziehen. In China nähert
sich diese Zahl einer Viertelmilliarde. In Brasi-
lien, Indonesien, Mexiko: Überall ist es der
gleiche Trend. Drei Viertel der Menschen, die
über den Planeten ziehen, sind derzeit inner-
halb ihrer eigenen Landesgrenzen unterwegs.
Neue Mittelklassen werden geboren, alte po-
litische Dynastien geraten ins Wanken und die
Megastädte werden immer größer.
Noch weniger ähneln sie den karikaturhaften
Eindringlingen, die Rechtspopulisten fürchten:
barbarische Horden, die kommen, um die Jobs
und die Wohnungen, Sozialleistungen, Sexpart-
ner und alles andere in den wohlhabenden
Gastländern an sich zu reißen.
So schwarz oder weiß war es in der Geschich-
te noch nie: Seit neolithischen Zeiten haben
Einwanderungswellen aus Zentralasien und
dem östlichen Mittelmeerraum Europa und
dessen früheste Bevölkerungen stark verwan-
delt. Ohne sie gäbe es den modernen „Euro-
päer“ gar nicht.
Die Flüchtlinge, mit denen ich gewandert
bin, sind Pharmazeuten, Ladenbesitzer und
Intellektuelle. Also normale Leute, die versu-
chen, mit den spärlichen Möglichkeiten zu-
rechtzukommen. In Erinnerung an ihre Toten
legen sie die Hände vors Gesicht und weinen.
Im nächsten Moment sind sie unglaublich stark
und großzügig.
„Bitten kommen Sie, Mister“, flüsterte eine
syrische Lehrerin in der Türkei und führte mich
aus einem Klassenraum im Flüchtlingslager
nach draußen an die Luft. Ihre Schüler hatten
als Teil ihrer Therapie Enthauptungen und
Hinrichtungen durch den Galgen gemalt. Sie
hatte bemerkt, dass ich verstummt war. Sie
sorgte sich um meine Gefühle.
Im Kaukasus rief mir eine armenische Flücht -
lingsfamilie aus Syrien zu: „Bitte nicht herein-
kommen!“ Ich wartete vor ihrem baufälligen
Haus, während sie hastig ein Essen auf den
Tisch brachten, das sie sich nicht leisten konn-
ten. Ihr Haus hatte einmal Aserbaidschanern
gehört, die nach dem Zerfall der Sowjetunion
im Konflikt um Bergkarabach vertrieben wor-
den waren. Die heimatlosen Aserbaidschaner
traf ich 200 Kilometer später. In einem Flücht-
lingslagercafé wiesen sie mein Geld zurück, als
ich bezahlen wollte.
Die Flüchtlinge und Migranten der Welt for-
dern kein Mitleid von uns. Sie bitten nur um
unsere Aufmerksamkeit. Sie bemitleideten
mich, als ich weiterwanderte.
„Darf ich mein Englisch üben?“, fragten die
Teenager in Punjab letztes Jahr auf Kilometer
11300 meiner langsamen Wanderung über die
brutheißen Nebenwege von Indiens Kornkam-
mer. Fünf, zehn, 20 Jugendliche kamen täglich
aus ihren Häusern und rannten los, um mich
einzuholen, nachdem ich vorbeigegangen war.
Schwitzend, keuchend, nicht an Sport gewöhnt,
UNTERWEGS MIT MIGRANTEN 145