National Geographic Germany - 09.2019

(Ann) #1
Auf dem Bosporus jagen Möwen nach dem Brot der Fahrgäste. Unten: ein
Jesusbild in der Hagia Sophia, einst Kirche, dann Moschee, heute Museum.

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unvergleichliche Kulisse. Die Sonne
verschwand hinter der Süleymaniye-
Moschee, der Himmel glühte orange-
farben. Ich sah Minarette, den Gewürz-
basar, die lange Schlange der Autos
auf den Brücken, die vielen Menschen
am Ufer. Über uns segelten die Möwen
in der Hoffnung, ein Stück Brot zu
ergattern. Aber alles, was ich hörte,
war das Plätschern der Wellen.

G


ewiss, auch Istanbul hat seine
Probleme: einen schlimmen Auto-
verkehr, mangelnde Stadtpla-
nung, soziale Ungleichheit. Und doch
zaubert diese Stadt immer wieder
Wunder aus dem Hut. Sie wächst aus
dem Fundament uralter Kulturen,
außerdem: Welche andere Metro pole
erstreckt sich schon über zwei Konti-
nente? In welcher anderen gibt es
Jesusbilder in einer (ehemaligen)
Moschee? Wo begleiten einen Delfine
auf dem Weg zur Arbeit? Und wo sonst
schneit es auf Palmen?
Schon immer haben Dichter Verse
und Musiker Lieder über Istanbul ge-
schrieben. Die Metropole spielt die
Hauptrolle in zahlreichen Filmen – mal

als Stadt der Melancholie, dann als
ein Ort von Gewalt. Auf den ersten
Blick scheint sich das zu widerspre-
chen, doch im Grunde zeigt es mir nur,
dass Istanbul eine Ansammlung ganz
vieler Teile mit einer gemeinsamen
Identität ist.
Die einzigartige Schönheit dieser
Stadt erwächst daraus, dass sie sich
immer wieder häutet und ihre Eigen-
heiten dennoch bewahrt. Wer auch
immer im Laufe der Geschichte über
Istanbul geherrscht hat, konnte die
Stadt nur zu einem gewissen Grad
verändern. Letztlich macht sie, was
ihr gefällt.
Während meine Fähre an Fracht-
schiffen vorbeiglitt und ich die Mina-
rette auf der historischen Halbinsel
betrachtete, wo einst das klassische
Byzanz lag, spürte ich all diese alten
und so verschiedenen Elemente, aus
denen sich Istanbul bildet. Ich sah sie
nicht, ich hörte sie nicht, aber sie waren
da. Und ich fragte mich: Wenn alle vier
Minarette der Hagia Sophia identisch
wären, wie es bei anderen Moscheen
üblich ist: Würde ich diese Stadt ge-
nauso lieben? Onur Uygun

FOTOS: MB IMAGES/ALAMY STOCK PHOTO (O.);
KAV DADFAR/SCHAPOWALOW (U.)

REISE-INFO

REISEZEIT
Frühjahr und Herbst, dann
sind die Temperaturen am
angenehmsten.

SEHENSWERT
In der langen Geschichte
der Stadt sind unzählige Kul-
tur- und Baudenkmäler ent-
standen, allein Hunderte
von Moscheen, Palästen,
Sommerhäusern und Festun-
gen, zudem armenische,
orthodoxe und protestanti-
sche Kirchen. Nicht verpas-
sen sollte man den Topkapı-
Palast, die Hagia Sophia und
die Blaue Moschee (Sultan-
ahmet Camii). Viele dieser
Orte in der Altstadt lassen
sich gut zu Fuß besuchen,
zudem mit der Straßenbahn.
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