National Geographic Germany - 09.2019

(Ann) #1
ES IST EINE BEUNRUHIGENDE
NACHRICHT: WIR HABEN
WENIG BIS NULL KONTROLLE
ÜBER UNSERE PERSÖNLICHEN
VORLIEBEN.

haupt meiner Kontrolle? Beginnen wir mit den
Grundlagen: Warum fühle ich mich von Frauen und
nicht von Männern angezogen? Das war ja keine
bewusste Entscheidung, die ich eines Abends am
Strand sitzend traf, als ich über mein Leben nach-
dachte, sondern ich wurde so geboren.
Die genauen genetischen Komponenten der
menschlichen Sexualität sind immer noch nebulös.
Klar ist aber, dass man sie sich nicht aussucht. Un-
abhängig von unserer sexuellen Orientierung schei-
nen wir einen angeborenen Sinn für die Eigenschaf-
ten zu haben, die wir uns bei einem Partner oder
einer Partnerin wünschen.
Merkmale wie ein wohlgeformter Mund, funkelnde
Augen und üppiges Haar werden weithin als attrak-
tiv gewertet. Und Studien zeigen, dass attraktivere
Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine
Arbeitsstelle bekommen, mehr Geld verdienen,
einen Partner finden und sogar vor Gericht frei-
gesprochen werden.
Evolutionspsychologen erinnern uns daran, dass
in unserem Wesenskern praktisch alles, was wir
tun, aus dem unterbewussten Drang entsteht, zu
überleben und unser Erbgut weiterzugeben oder
aber andere zu unterstützen (zum Beispiel Famili-
enmitglieder), die ähnliche Gene wie wir in sich
tragen. Weiterhin behaupten sie, dass körperliche
Merkmale, die wir attraktiv finden, nichts anderes
als Anzeichen für körperliche Gesundheit und Fit-
ness sind. Mit anderen Worten: für gute Gene, deren
Verbreitung wir gerne unterstützen würden.
Die Wissenschaft bietet auch ein wenig Trost,
wenn es um die Frage geht, warum unsere amourö-
sen Avancen manchmal zurückgewiesen werden.
In einer Studie sollten Frauen im Achselbereich
von T-Shirts schnuppern, die Männer getragen
hatten, und dann den Geruch bewerten. Je mehr
sich die Gene, die für das Immunsystem der Männer
und Frauen verantwortlich sind, glichen, desto

Von klein auf lernen wir, dass wir sein können,

wer immer wir wollen, und dass wir tun können,


was immer wir wollen. Unserem Selbstverständnis


nach entscheiden wir bewusst, was wir gern essen,


wem wir unser Herz schenken oder wo wir das Kreuz


auf dem Wahlzettel setzen. Doch die Wissenschaft


lehrt uns nun, wir seien nur fleischgewordene Ro-


boter im Bann unsichtbarer Kräfte.


Vor einigen Jahren hätte ich mich noch dagegen

verwehrt. Aber als man mich zum x-ten Mal auf


einer Grillparty ins Kreuzverhör nahm, weil ich viele


Gemüsesorten nicht mag, die anderen Menschen


schmecken, kam es mir allmählich selber so vor,


dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Voller Neid


sehe ich zu, wie andere Leute bereitwillig zum Bei-


spiel Brokkoli essen. Doch wenn jemand mir so


etwas anbietet, zuckt mein Körper entsetzt zurück,


ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Aber warum


mag ich einfach keinen Brokkoli?


Ich verabscheue dieses Gemüse nicht vorsätzlich.

Und deshalb wollte ich unbedingt herausfinden,


woher meine Aversion dagegen kommt. Glückli-


cherweise hatte sich die Wissenschaft bereits damit


beschäftigt. Sie fand heraus, dass etwa 25 Prozent


der Menschen Brokkoli wohl aus demselben Grund


hassen wie ich. Diese Menschen werden „Super-


schmecker“ genannt. Sie tragen Variationen in den


Genen in sich, die für ihre Geschmacksrezeptoren


verantwortlich sind. Eins dieser Gene, TAS2R38,


erkennt bittere chemische Verbindungen wie Thio-


harnstoffe, die in Brokkoli reichlich enthalten sind.


Also ist es meine spezielle DNA, die dafür sorgt,


dass meine Geschmacksknospen Thioharnstoff als


ekelhaft bitter registrieren.


DIESE ERKLÄRUNG FÜR MEINE ABNEIGUNG gegen


Brokkoli beruhigt und verstört mich gleichermaßen.


Ich bin erleichtert, dass mein Widerwillen gegen


Kreuzblütengewächse nicht meine Schuld ist –


schließlich habe ich mir meine Gene nicht ausge-


sucht. Aber die Erleichterung mutiert schon bald


zur Sorge. Denn welche anderen Dinge, die mich


als Individuum ausmachen, entziehen sich zusätz-


lich noch meiner Kontrolle? Wie viel von mir bin


wirklich ich?


Wie verhält es sich zum Bei-

spiel mit meinem Frauenge-


schmack? Unterliegt er über-


In seiner 50-jährigen Kar-
riere als Heavy- Metal-
Musiker wurde Ozzy
Osbourne berühmt für
seine Alkohol- und Dro-
genexzesse. Er konsu-
mierte über Jahrzehnte
Kokain zum Frühstück und
vier Flaschen Cognac pro
Tag. Als Wissenschaftler
2010 seine DNA unter-
suchten, fanden sie die

Mutation eines Gens, die
den Abbau von Alkohol
begünstigt. Außerdem
entdeckten sie Varianten
von Genen, die mit Sucht-
verhalten in Verbindung
stehen. Sie sorgten dafür,
dass Osbourne unter
anderem einer sechsmal
höheren Wahrscheinlich-
keit ausgesetzt war, Alko-
holiker zu werden.

Rock ’n’ Roll-DNA


WAS OZZY OSBOURNES GENE MIT SEINEM
DROGENLEBEN ZU TUN HABEN KÖNNTEN

SEPTEMBER 2019 29
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