National Geographic Germany - 09.2019

(Ann) #1

EXPLORER | ESSAY


schlimmer stank das T-Shirt für die Frauen. Auch
dafür gibt es eine evolutionsbiologische Erklärung:
Wenn die elterlichen Immungene sich zu stark äh-
neln, sind die Nachkommen weniger gut für den
Kampf gegen Krankheitserreger gerüstet. Unsere
Gene nutzen also die Geruchsrezeptoren zur Ein-
schätzung, ob die DNA eines potenziellen Partners
gut zur eigenen DNA passt. Wir sollten Zurückwei-
sungen in Liebesdingen also nicht persönlich neh-
men, sondern sie eher wie die Abstoßung eines
Organs betrachten.

LEICHT ERSCHÜTTERT ÜBER DAS AUSMASS, in dem
die Gene offenbar unsere Lebensentscheidungen
prägen, untersuchte ich nun ein Gebiet, das meiner
Meinung nach wohl kaum von unserer DNA beein-
flusst sein konnte: unsere politischen Überzeugun-
gen. Und auch hier spielen Gene eine Rolle.
Liberale gelten, kurz gesagt, als offener für Neues,
Konservative bevorzugen Stabilität. Ob das eine
oder das andere wichtig für uns ist, liegt wohl daran,
ob wir im Besitz von bestimmten Varianten des
Dopamin-D4-Rezeptorgens sind, die unsere Bereit-
schaft für Neues und für Risiken fördern – also für
liberale Lebenseinstellungen.
Ältere Forschungsarbeiten haben zudem gezeigt,
dass bestimmte Hirnregionen bei Liberalen und
Konservativen Unterschiede aufweisen. So ist bei
Konservativen der Mandelkern, das Angstzentrum
des Gehirns, oft größer, und sie reagieren physio-
logisch stärker auf unerfreuliche Reize.
Diese biologischen Unterschiede erklären zu-
mindest teilweise, warum es für einen Liberalen
oder Konservativen so schwer ist, auf einen gemein-
samen Nenner zu kommen. Das verlangt nicht nur
die eigene Einstellung zu ändern, sondern auch
seine biologische Prägung zu ignorieren.
Und so ist jede menschliche Verhaltensweise –
von Sucht über Anziehung bis zu Ängsten – an einen
genetischen Anker gekettet. Die Wissenschaft hat
bewiesen, dass es eine treibende Kraft für jede un-
serer Handlungen und Persönlichkeitsmerkmale
gibt, die wir bisher für Ergebnisse eigenen Willens
gehalten haben.
Aber unser Gehirn durchschaut das Spiel der DNA.
Und die Kenntnis der molekularen Grundlagen des
Erbguts versetzt uns in eine Position, seinen Einfluss
einzudämmen; das Akzeptieren der Tatsache, dass
andere Menschen nicht viel dagegen tun können,
dass sie so sind, wie sie sind, ermöglicht mehr Em-
pathie und Mitgefühl. Vielleicht können wir ja auf-
grund des Wissens, dass wir keine totale Kontrolle
haben, dem Drang nach Tadel widerstehen und
stattdessen Verständnis anstreben.
Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow

Technisch gesehen, ja. In Ihrem Ge-
nom stecken viele mögliche Versio-
nen Ihrer selbst. Der Mensch, den
Sie im Spiegel sehen, ist nur eine
Auswahl davon, selektiert durch vie-
lerlei Faktoren, denen Sie seit der
Empfängnis ausgesetzt waren. Der
Wissenschaftszweig der Epigenetik
untersucht, wie chemische Verände-
rungen an der DNA oder an den
Proteinen, die mit unserem Erbgut
interagieren, die Genaktivität be-
einflussen. Und nicht nur Umwelt-
faktoren verändern die Gene. Auch
Mikroorganismen im menschlichen
Körper, das Mikrobiom, lenkt unser
Verhalten – vom übermäßigen Es-
sen bis hin zu Depressionen. Ja, wir
sind die Summe unserer Gene. Sie
stellen die Klaviatur des Lebens.
Aber es ist die Umwelt, die das Lied
darauf spielt.

Bestimmen meine


Gene, wer ich bin?


30 NATIONAL GEOGRAPHIC

Bill Sullivan ist Professor für Pharmakologie und
Mikrobiologie an der Indiana School of Medicine.
Er forscht über Infektionskrankheiten sowie Gene
und schreibt in seinem Buch „Pleased to Meet Me“
über die wahren Herrscher unseres Körpers.
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