National Geographic Germany - 09.2019

(Ann) #1

Er erkundete die Rätsel des Universums mit Tusche, Kreide und Sil-


berstift. Die Zeichnungen sind in ihrer Klarheit atemraubend. Die win-


zigste Skizze zeigt mit wenigen leichten Strichen einen weiblichen Torso.


Die beeindruckendste Zeichnung stellt einen Fötus in der Gebärmutter


dar, mit roter Kreide und mit gekrümmten Schraffuren zu Papier gebracht.


Es sind außerordentlich präzise Studien: der Faltenwurf eines Klei-


dungsstücks, Mörser, die eine Festung beschießen, Schatten und Halb-


schatten, ein Schädel, ein Herz, ein Fuß und die Konturen des mensch-


lichen Gesichts. „Was man anhand dieser Zeichenblätter besonders gut


erkennen kann, ist die Freiheit, die sich da Vinci nimmt, zwischen ver-


schiedenen Themen zu wechseln und sie zu ergründen“, sagt Clayton.


„Hier ist ein Verstand zu sehen, der sich in großen Dimensionen bewegt.“


Da Vinci war ein von Natur aus wissbegieriger Notizenschreiber und


Wahrheitssucher, der immerzu nach Erkenntnis strebte. Auf seiner To-


do-Liste standen Aufgaben wie diese: „Linsen entwerfen, durch die man


den Mond größer sieht“ oder „die Ursache des Lachens beschreiben“. Und


er suchte die Antworten auf eine Flut von Fragen: Warum sieht man die


Sterne in der Nacht und nicht am Tag? In welchem Verhältnis stehen die


Äste eines Baums zur Dicke des Stamms? Was trennt Wasser von der Luft?


Wo sitzt die Seele? Was sind Niesen, Gähnen, Hunger und Begehren?


Seine Gemälde sind zwar wesentlich bekannter, doch die Fülle seiner


Manuskripte und Zeichnungen enthüllt die Mechanismen von da Vincis


Genie. Sein fruchtbarer Geist – der Umfang der Hypothesen, die er prüf-


te, die intellektuellen, wissenschaftlichen und philosophischen Reisen,


auf die er sich begab – wird auf jedem einzelnen der 7 000 Blätter offenbar,


die in Windsor, in Bibliotheken in Paris, London, Madrid, Turin und Mai-


land sowie in der Privatsammlung von Bill Gates aufbewahrt werden.


Zum 500. Todestag da Vincis in diesem Jahr erleben die Notizbücher


des Künstlers eine Art Wiedergeburt. Museen zeigen Ausstellungen seiner


Zeichnungen, und Wissenschaftler publizieren neue Analysen seines


genialen Schaffens. Da Vincis Notizbücher haben endlich ihren Weg zu


den Experten jener Wissensgebiete gefunden, die den Forscher Zeit seines


Lebens umtrieben, von Medizin über Maschinenbau bis hin zur Musik.


„Nicht ein Einziger seiner Vorgänger oder Zeitgenossen hat irgendetwas


hervorgebracht, das sich mit der Bandbreite, der genialen Weitsicht und


der visuellen Intensität seines Werkes messen kann. Und auch aus den


folgenden Jahrhunderten ist uns nichts wirklich Vergleichbares bekannt“,


sagt der Kunsthistoriker und Da-Vinci-Experte Martin Kemp. Und das


Herausragende ist: Selbst für moderne Wissenschaftler von heute hält


Leonardo da Vincis Werk noch neue Erkenntnisse bereit.


GEBOREN WURDE LEONARDO DA VINCI als Kind unverheirateter Eltern am



  1. April 1452 nahe Vinci, einer ländlichen Stadt zwischen Florenz und


Pisa. Viele halten Caterina di Meo Lippi, eine Bäuerin aus dem Ort, für


seine Mutter. Sein Vater Ser Piero da Vinci hatte als Notar eine gehobene


gesellschaftliche Stellung inne. Wäre Leonardo kein uneheliches Kind


gewesen, hätte man von ihm erwartet, die gleiche berufliche Laufbahn


einzuschlagen. Über da Vincis Kindheit ist wenig bekannt. Aufzeichnun-


gen lassen vermuten, dass er bei seinen Großeltern in Vinci lebte und nur


wenig Bildung erfuhr. Piero da Vinci erkannte aber die künstlerischen


Fähigkeiten seines Sohnes. Er zeigte dessen Zeichnungen einem Klien-


ten, dem Künstler Andrea del Verrocchio, der da Vinci als Lehrling in


seiner Werkstatt in Florenz aufnahm.


Da Vinci schien jede
Faser des Körpers
verstehen zu wollen. Er
sezierte dazu sogar
Leichname. Auf diesem
Blatt zeichnete er Kno-
chen und Muskeln von
Arm, Schulter und Fuß.
Da Vinci plante eine
anatomische Abhand-
lung zu veröffentlichen,
doch es kam nie dazu


  • sonst würde heute
    wohl er als Begründer
    der modernen Anato-
    mie gelten und nicht
    Andreas Vesalius.
    FOTO: ROYAL COLLECTION
    TRUST/© HER MAJESTY
    QUEEN ELIZABETH II 2018


LEONARDO DA VINCI

Der


Anatom


DA VINCIS ZEICHNUNGEN

Tausende Skizzen,
Beobachtungen und Fragen
brachte der Gelehrte
während seines Schaffens zu
Papier. Ein Großteil ist ver-
loren gegangen. Die erhalte-
nen Blätter, viele von ihnen
in Notizbüchern zusammen-
gefasst, offenbaren sein
müheloses Wechselspiel
zwischen der Kunst und
der Wissenschaft.

(Weiter auf Seite 53)


46 NATIONAL GEOGRAPHIC

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