National Geographic Germany - 09.2019

(Ann) #1

Röntgenuntersuchungen von da Vincis Werken decken zahlreiche Kor-


rekturen auf, sogenannte Pentimenti. Es gab für ihn unendlich viele Mög-


lichkeiten und immer noch mehr zu lernen. „Das ist intellektuell gesehen


in vieler Hinsicht ein endloser Prozess“, sagt Bambach.


Das Vermächtnis da Vincis wirkt bis heute nach – obwohl in den Jahr-


zehnten nach seinem Tod im Jahr 1519 wahrscheinlich ein Großteil seines


Nachlasses gestohlen wurde oder verloren ging.


J. Calvin Coffey, Chirurgischer Leiter an der University of Limerick in


Irland, machte vor einigen Jahren im Rahmen seiner Forschungsarbeiten


eine erstaunliche Entdeckung. Er untersuchte das Mesenterium, eine


fächerartige Struktur zur Befestigung von Teilen des menschlichen Ver-


dauungstraktes an der Rückwand des Bauchraums. Seit über 150 Jahren


lernen Studenten, das Mesenterium bestehe aus mehreren getrennten


Strukturen. Doch Coffey war nach zahlreichen Darmoperationen der


Verdacht gekommen, es könnte ein zusammenhängendes Organ sein.


Coffey und sein Forscherteam beschäftigten sich daraufhin intensiver


mit der Anatomie dieser Struktur. Dabei stießen sie auf eine Zeichnung


da Vincis, die das Mesenterium ganz klar als ein zusammenhängendes


Gebilde darstellt. Coffey erinnert sich genau an den Moment dieser Ent-


deckung: Zuerst schaute er die Zeichnung an, dann schaute er weg. Und


dann schaute er wieder hin. „Ich war vollkommen verblüfft“, sagt er. „Was


ich da sah, stimmte genau mit dem überein, was wir sahen. Die Zeichnung


ist ein absolutes Meisterwerk.“


Als Coffey 2015 seine medizinische Entdeckung publizierte, fügte er da


Vincis 500 Jahre alte Zeichnung hinzu und verwies in Anerkennung sei-


ner Forschungsleistung auch in seinem Text auf ihn: „Wir wissen, dass


da Vincis Interpretation korrekt war.“ Dem Italiener war es also schon vor


langer Zeit gelungen, das Mesenterium trotz der komplizierten Struktur


seines Gewebes als Ganzes zu präparieren. „Selbst heute noch gibt es viele


Chirurgen, die dazu nicht fähig wären“, sagt Coffey.


DA VINCIS SCHARFER BLICK FOLGTE STETS den Regeln der Natur, egal ob


es um eine Baumwurzel oder ein Flusspferd ging. Der menschliche Er-


findungsgeist, schrieb er, „wird niemals irgendwelche Erfindungen so


schön oder so einfach, niemals so zweckmäßig gestalten wie die Natur.


Denn in ihren Erfindungen gibt es nichts, was fehlt, nichts, was überflüs-


sig wäre.“


Diese Erkenntnis da Vincis beeinflusste auch die berufliche Laufbahn


des Herzchirurgen Francis Charles Wells. Der Chefarzt am Royal Papworth


Hospital in Cambridge, England, besuchte 1977 zufällig eine Ausstellung


von da Vincis anatomischen Zeichnungen in der Royal Academy of Arts


an der Londoner Piccadilly. Wells war überwältigt vom Umfang der For-


schungen des Künstlers.


Da Vinci sezierte zum Beispiel den Leichnam eines 100 Jahre alten


Mannes und lieferte auf dieser Grundlage die erste Beschreibung von


Arterienverkalkung in der Medizingeschichte: „Das geschieht, bis die


Kapillargefäße vollkommen schließen“, schreibt da Vinci zu den tödlichen


Folgen von Arteriosklerose und vergleicht die Verengung der Blutgefäße


anschaulich mit alternden Orangen. „Die Schale wird dicker, und das


Fruchtfleisch wird weniger, je älter sie werden.“


Auch da Vincis Forschung zu Herzklappen, Wells’ Spezialgebiet, war


vorausschauend. Um zu verstehen, wie sie funktionieren, entwarf da Vinci


ein Glasmodell der Aortenklappe, gefüllt mit Wasser und Grassamen. Das


In da Vincis Notizbü-
chern finden sich viele
Ideen, die er nie um-
setzte, darunter auch
dieser Apparat, der
Tauchern ermöglichen
sollte, unter Wasser zu
atmen. Der Kriegsgeg-
ner da Vinci erklärte,
dass er nie preisgeben
würde, wie man seine
Unterwasserapparate
baut – „wegen der
bösen Natur der Men-
schen“. Er fürchtete,
dass solche Vorrichtun-
gen benutzt würden,
um Schiffe zu zerstören
und die Menschen an
Bord zu töten.
FOTO: BRITISH LIBRARY BOARD/
BRIDGEMAN IMAGES

LEONARDO DA VINCI

Der


Erfinder


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