Im Herbst 1516 brach da Vinci zu seiner letzten Reise auf: nach Am boise
in Frankreich, wo König Franz I., ein Bewunderer da Vincis, ihm eine
Pension anbot und die Freiheit, zu schaffen, was auch immer er wollte.
Mit 64 Jahren zog der Künstler in ein hübsches Château, heute Schloss
Clos Lucé, zusammen mit seinen vielen Zeichnungen und den drei Ge-
mälden, die er niemals hergab – „Johannes der Täufer“, „Anna selbdritt“
und die „Mona Lisa“. Von seinem Schlafzimmerfenster aus konnte er das
Schloss des Königs sehen. Die Farben und das Licht des Loire-Tals brach-
ten Erinnerungen an seine Kindheit in der Toskana zurück. Während
seiner Jahre im Clos Lucé entwarf da Vinci hydraulische Maschinen für
das Königreich, skizzierte Pläne für eine neue königliche Residenz und
inszenierte fröhliche Feste für den König.
BEVOR DA VINCI AM 2. MAI 1519 im Alter von 67 starb, vollendete er eine
Serie von Sintflutzeichnungen mit verheerenden Windböen und riesigen
Wellen, meist in schwarzer Kreide. Ein grandioses Schäumen, Tosen und
Stürzen. Auch am Ende seines Lebens wandte sich da Vincis Blick wie
immer der Natur zu.
Heute gleicht die letzte Schaffensstätte Clos Lucé einem Denkmal für
da Vincis Leben und Wirken, mit einem weitläufigen Park voller Salbei
und anderen Pflanzen, die da Vinci während seines Künstlerlebens zeich-
nete. Und mit Dingen, für die der vielseitige Forscher einst Konstruk-
tionspläne anfertigte: Brücken, ein Panzerfahrzeug, eine Luftschraube,
von der da Vinci hoffte, sie könne Menschen in die Luft heben. François
Saint Bris, Direktor von Clos Lucé, sagt, er hoffe, dieser Ort, an dem da
Vinci seine letzten Lebensjahre verbrachte, werde kommende Genera-
tionen inspirieren.
In der Tat deutet alles darauf hin, dass die Wissenswelten Leonardo da
Vincis nichts an Faszination verlieren werden. Und dass sie auch noch
lange neue Nahrung für Wissenschaftler hervorbringen werden. Eine
neue Analyse des „Codex Leicester“ von Laurenza und Kemp ergab, dass
da Vinci auch die Geburt der modernen Geologie beeinflusst haben
könnte. Diesen Sommer erschien zudem „Leonardo da Vinci Redis-
covered“, ein prachtvolles vierbändiges Werk von Carmen Bambach, der
Kuratorin des Metropolitan Museum of Art. In den dicken Bänden stecken
mehr als zwei Jahrzehnte sorgfältiger Recherche zu Leonardo da Vincis
Leben und Werk.
Auch seine Notizbücher finden allmählich ihren Weg in eine größere
Öffentlichkeit. Das größte unter ihnen, der „Codex Atlanticus“, wurde
digitalisiert und steht jedem Interessierten im Internet zur Verfügung.
Der Da-Vinci-Biograf Walter Isaacson freut sich schon auf den Tag, an
dem alle Notizbücher übersetzt und digitalisiert sein werden. „Dann wer-
den wir da Vincis Werk in seiner ganzen Herrlichkeit erblicken“, sagt er.
So wie da Vinci kein Ende des Strebens nach Wissen sah, so unbegrenzt
viele Überraschungen scheint sein Erbe noch für uns bereitzuhalten. „Ich
denke immer, dass ich mit da Vinci abschließen kann“, bekennt der Kunst-
historiker Walter Kemp, der das Leben des Mannes aus Vinci nun schon
seit fünf Jahrzehnten erforscht. „Aber er ist immer wieder da.“ N
Aus dem Englischen von Karin Rausch
Die Bestsellerautorin Claudia Kalb schreibt über Medizin und andere Wissens-
themen – und über Genies wie da Vinci oder Picasso. Dies ist ihre dritte
Zusammenarbeit mit den Fotografen Paolo Woods und Gabriele Galimberti.
In den Steinbrüchen
von Carrara im Nord-
westen Italiens – wo
Michelangelo vor fünf
Jahrhunderten Marmor
für seine Statuen aus-
wählte – steht eine Sta-
tue von Leonardo da
Vinci, angefertigt vom
italienischen Unter-
nehmen Torart. Es ist
die Nachbildung einer
Skulptur aus dem
- Jahrhundert, die
sich in den Uffizien
in Florenz befindet.
Torart ist unter ande-
rem darauf spezialisiert,
mittels computer-
generierten Plänen,
Roboterskal pellen und
Hochdruckwasser-
strahlern hochwertige
Replikate herzustellen.
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