National Geographic Germany - 09.2019

(Ann) #1

Laut einer Schätzung der Nasa verliert die


Arktis jährlich etwa 54 000 Quadratkilometer


Eis. Die Verfasser des Nationalen Klimaberichts


von 2014 rechnen damit, dass das Nordpolar-


meer vor dem Jahr 2050 im Sommer eisfrei sein


wird. „Alles geschieht viel schneller, als wir


dachten“, sagt Michael Sfraga, der das Polarin-


stitut am Wilson Center in Washington leitet.


„Vor unseren Augen entsteht gerade ein Ozean.“


D

ER WETTBEWERB wird
sich nicht wirklich um
Gebietsansprüche dre-
hen. Bis auf wenige
strittige Abschnitte
sind die Grenzen in der
Arktis festgelegt. Viel-
mehr werden Staaten
und Konzerne um ihre

Anteile an den Billionen Dollar konkurrieren,


die mit Gold, Diamanten und seltenen Erden


sowie mit Erdöl, Erdgas und Fischerei zu ver-


dienen sind. Und es geht um den Zugang zu den


neuen Seewegen.


Das zurückweichende Eis hat an einigen Stel-


len schon umfangreiche Investitionen nach sich


gezogen. Russland und Norwegen sind die ak-


tivsten Arktisstaaten. In den vergangenen zehn


Jahren haben sie Milliarden für die Infrastruktur


zur Gewinnung von Erdgas und Erdöl, für Tief-


seehäfen und für Schiffe ausgegeben, die das


eisige Nordpolarmeer befahren können. China


versucht ebenfalls, in der Region Fuß zu fassen,


indem es russische Erdgasprojekte unterstützt


und anderen Küstenländern Entwicklungskre-


dite bietet. Die Chinesen bauen außerdem eine


eigene Eisbrecherflotte auf – eine klare Zu-


kunftsinvestition für einen Staat, der mehr als


4 000 Kilometer südlich des Nordpols liegt.


Im Gegensatz dazu haben die meisten west-


lichen Länder den Norden bislang weitgehend


ignoriert. Das gilt auch für Kanada und die Ver-


einigten Staaten, die zusammen fast die Hälfte


der arktischen Küstenlinie kontrollieren. Die


USA verfügen über gerade einmal fünf Eisbre-


cher (Russland besitzt 51) und haben keine Tief-


wasserhäfen nördlich des Polarkreises.


Der Traum von einer boomenden Arktis wird


aufgrund dieses Ungleichgewichts von der Be-


fürchtung begleitet, dass ein neuer Kalter Krieg


ausbrechen könnte. Die Angst vor solchen Kon-


flikten war der eigentliche Anlass für Pompeos


Auftritt vor dem Arktischen Rat. „Die Region ist


zur Arena für Macht und Konkurrenz geworden.
Die acht arktischen Staaten müssen sich dieser
Zukunft anpassen“, sagte er. „Wir betreten ein
neues Zeitalter des strategischen Dialogs ... Dazu
gehören Bedrohungen für die Arktis sowie un-

sere gemeinsamen Interessen in der Region.“
Doch das Problem der USA ist: Einige Staaten
haben beim Wettrennen in den Norden bereits
einen soliden Vorsprung.
Auf der King-William-Insel bekommen die
Ranger wenig mit vom Ringen um die Vorherr-
schaft. Sie fahren in einer langen Schneemobil-
karawane nach Westen. Einige ziehen schwer
beladene Holzschlitten hinter sich her, mit Le-
bensmitteln, Camping- und Militärausrüstung.
Nach mehreren Stunden bitterkalter Fahrt durch
die Dunkelheit erreicht die Kolonne den zuge-
frorenen See Kakivakturvik.
Im hellen Lichtschein der Stirnlampen und
Scheinwerfer verteilen sich die Ranger und
bauen große Zelte auf dem Eis auf. Karibufelle
und Planen, Schaumstoffmatratzen, Schlafsäcke
sowie Kühlboxen mit Essensvorräten werden
hineingetragen.
Bald leuchtet warmes Licht in den Zelten.
Kerosinkocher flüstern. Becher mit dampfen-
dem Tee werden herumgereicht. Dann geht es
nach draußen. In kleinen Gruppen schwärmen
die Ranger aus. Sie hacken Löcher in das 30 Zen-
timeter dicke Eis und lassen Fangnetze in das
schwarze Wasser hinunter.
In der kanadischen Arktis verbinden die Ran-
ger die Militärübungen mit traditionellen Tätig-
keiten wie Jagen und Fischen. Beides sind bis
heute feste Bestandteile ihres Lebens im hohen
Norden. In den kommenden Tagen will Atqit-
tuqs Gruppe die Beschaffung von Nahrung mit
militärischen Orientierungsübungen und GPS-
Training verbinden.
Starker Wind peitscht vom vereisten Meer
heran. Wolken und dichter Nebel hängen tief
über der Tundra. Ein paar Mal steigt das Ther-
mometer gegen null, fällt dann aber wieder weit
unter den Gefrierpunkt. Für Ende November ist
das normal. Bald konzentrieren sich die Aktivi-
täten der Truppe auf die kleine weißgraue Welt
rund ums Lager.
Der Tag beginnt und endet an den Netzen. Es

gibt so viele iqalupik, Seesaiblinge, dass bald
neben jedem Zelt gefrorene rosafarbene Fische
mit dem Schwanz zuerst in den tiefen Schnee-
verwehungen stecken. Wer Hunger hat, greift
einfach aus dem Zelt.

98 NATIONAL GEOGRAPHIC

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