National Geographic Germany - 09.2019

(Ann) #1

Der Rest des Tages wird durch zahllose klei-


nen Aufgaben gefüllt. In den wenigen Stunden


mit Tageslicht müssen die Ranger die Kocher in


Gang halten, Eis für Trinkwasser schmelzen und


Zelte umsetzen, wenn das Eis unter ihnen zu


Matsch wird. In der Kälte gehen die Schneemo-


bile ständig kaputt. Einmal tauchen in der Nähe


eine Eisbärin und zwei Junge auf, was den Toi-


lettengang – wegen der Kälte ohnehin unange-


nehm – auch noch riskant macht.


Unter den Rangern befindet sich


Jacob Atqittuq, der 74 Jahre alte


Vater von Marvin. Er kam in einem


Iglu zur Welt. Brutale Winter hat er


ebenso überlebt wie hungrige


Bären, Erfrierungen, Bootsunfälle


und sogar eine Hungersnot, bei der


viele Inuit umkamen. Morgens wacht er als Ers-


ter auf. Am Fußende der breiten Matratze, auf


der wir schlafen, bereitet er süßes Fladenbrot zu


und singt leise alte Kirchenlieder auf Inuktitut.


Sein Sohn Marvin erzählt, wie er aus der Ark-


tis weggehen wollte. Er hatte eine berufsbildende


Schule im Süden von Kanada gefunden, die


Kurse in der Reparatur von kleinen Motoren


anbot. Aber Jacob hatte ein paar Jahre zuvor


mitansehen müssen, wie ein anderer Sohn auf


eines der kanadischen Internate geschickt


wurde, in denen indigenes Wissen und Traditi-


onen brutal unterdrückt wurden. Er überredete


Marvin zum Bleiben: Lern die alten Traditionen


kennen. Und halt die Familie zusammen.


Bis jetzt bereut der Sohn seine Entscheidung


nicht. Heute ist er selbst Vater und bei der Frei-


willigen Feuerwehr in Gjoa Haven. Er hat eine


Stelle bei einer Wartungsfirma für Telefonlei-


tungen. Er lernt so viel wie möglich von Jacob.


Doch ihre Lebenswelten unterscheiden sich


stark. Jacobs Arktis ist alt und einfach. In Mar-


vins gibt es weniger Zukunftsaussichten, dafür


aber mehr Drogen. Marvin weiß, dass sich seine


Arktis grundlegend verändert. Er hat von der


Eisschmelze gelesen und von einem Krieg, der


den Norden erreichen könnte. Er weiß, dass in


seiner Kindheit das Wetter anders war. Es ist


nicht wärmer, aber unberechenbarer geworden.


Vom Goldrausch hört er oft, aber erkennen


kann er ihn nicht. „Es soll so viel passieren“, er-


zählt er. Er kennt die Prognosen, dass für den


Abbau der versteckten Schätze der Region neue


Infrastruktur und Arbeitsplätze nötig sind. „Ich


sehe kaum Veränderungen. Und ich habe nicht


den Eindruck, als wäre ich daran beteiligt.“


Am nächsten Morgen begleite ich die Atqit-
tuqs und einige andere auf die Karibujagd. Ein
Schneesturm zieht auf und verschluckt unsere
Jagdgesellschaft. Mit GPS und seiner eigenen,
inneren Karte führt uns Jacob zurück ins Lager.

Ich fahre hinter Marvin her. Die Welt um mich
herum ist so grell weiß, dass ich nicht weiß, wo
der Boden aufhört und der Sturm anfängt. Meine
Sturmhaube verrutscht und legt ein paar Qua-

dratzentimeter Haut frei. Ich spüre ein Brennen,
als hätte jemand eine glühende Münze auf meine
Wange gedrückt, aber ich bin zu sehr damit be-
schäftigt, Anschluss zu halten, und kann mich
nicht darum kümmern. Später im Zelt bemerkt
Jacob die Erfrierung und drückt mit dem Dau-
men darauf. „Gut“, sagt er anerkennend.

A

N EINEM MORGEN im
August 2007 begann die
Öffnung der neuen
Grenze im hohen Nor-
den. Zwei russische
Tauchboote gingen im
Arktischen Ozean auf
4 000 Meter Tiefe und
stellten am Nordpol auf
dem Meeresboden eine Flagge aus Titan auf.
Die Bilder von der russischen Trikolore in der
Tiefsee gingen um die Welt und wurden im
Westen schnell verurteilt.
Es war eines der wärmsten Jahre seit Beginn
der Wetteraufzeichnungen. Schon einen Monat
später berichteten Wissenschaftler, dass ihre
Satellitenbeobachtungen den stärksten jemals
gemessenen Meereisrückgang ergeben hätten.
„Es war der massivste arktische Eisverlust in der
Menschheitsgeschichte. Selbst extrem pessimis-
tische Klimamodelle hatten ihn nicht vorherge-
sagt“, erklärt Jonathan Markowitz, Professor für
internationale Beziehungen an der University

of Southern California. „Dieser Schock machte
plötzlich deutlich, wie schnell das Eis ver-
schwindet.“ Doch er löste noch etwas anderes
aus. „Einige Länder sahen darin ihre Chance“,
sagt Markowitz.

KANADA UND DIE USA GEHÖRT FAST DIE HÄLFTE


DER ARKTISCHEN KÜSTENLINIE. ABER BISLANG


HABEN SIE DEN NORDEN PRAKTISCH IGNORIERT.


WETTLAUF IM EIS 99
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