Die Weltwoche - 29.08.2019

(Chris Devlin) #1

46 Weltwoche Nr. 35.19
Bild: Twitter


Fast ein Jahr nach dem Tötungsverbrechen an
dem damals 35-jährigen Daniel Hillig in
Chemnitz, nach den Demonstrationen, den
Ausschreitungen, den Hitlergruss-Bildern,
die um die Welt gingen, gab es in Chemnitz
zwei Urteile. Eines nach langem Prozess und
unter internationaler Medienbeobachtung:
das Schwurgerichtsverfahren gegen den syri-
schen Asylbewerber Alaa S., der als Beteiligter
an dem tödlichen Messerangriff vom 26. Au-
gust 2018 zu neun Jahren und sechs Monaten
Haft verurteilt wurde. Und einen Richterin-
nenspruch in einem kurzen Verfahren vor dem
Amtsgericht Chemnitz gegen André H. – einer
der Gestalten, die am 27. August im Stadtzen-
trum mit Hitlergruss posierten. Beide Prozes-
se und Urteile zeigen im Schnitt und Gegen-
schnitt jeweils ein Fragment aus dem Kom-
plex namens Chemnitz, um dessen Deutung
bis heute erbittert gekämpft wird: zwischen


verschiedenen Medien, zwischen CDU-Chefin
Annegret Kramp-Karrenbauer und dem we-
gen seiner renitenten Sicht zu Chemnitz ge-
schassten Ex-Geheimdienstchef Hans-Georg
Maassen. Und in der Stadt Chemnitz selbst.

Eigentlich ein Linker
Die Bilder von Männern mit gerecktem Arm
überlagerten damals, 2018, sofort das Tötungs-
verbrechen vom Vortag, zumindest medial.
Einer, der sich besonders intensiv mit dem ver-
botenen Hitlergruss vor den TV-Kameras
zeigte, war André H. Er fiel vor allem deshalb
auf, weil er mit seinen strähnigen, langen Haa-
ren und einem verwaschenen Kapuzen-Sweat-
shirt nicht zu den demonstrierenden Bürgern
passte, auch nicht zu den Dutzenden von
Rechtsradikalen und Fussball-Hooligans. Als
Amateure in den sozialen Medien die Aufnah-
men von ihm vergrösserten, fiel an seiner

Grusshand eine Tätowierung auf: «RAF», das
Kürzel der früheren Terrorgruppe Rote-
Armee- Fraktion.
Vor Gericht sagte H., er schäme sich für sei-
nen Auftritt, er sei an dem Tag betrunken ge-
wesen. Und er gehöre eigentlich zur linken
Szene. Er kam mit hundert Stunden gemein-
nütziger Arbeit davon und dem Versprechen,
eine Entziehungskur zu beginnen. Für die
Amtsrichterin war H. kein Unbekannter. Er
war schon mehrfach wegen kleiner unpoliti-
scher Delikte vor Gericht gestanden. Als H.s
Bild 2018 durch die Medien ging, fiel auch
etlichen Chemnitzern auf, dass sie sein Ge-
sicht schon einmal gesehen hatten – in den
noto rischen Schnorrer- und Trinker-Grüpp-
chen der Stadt.
«Linke Szene», die Bezeichnung suggeriert
bei dem Hitlergrüsser mit dem RAF-Signet
wahrscheinlich mehr, als auf ihn tatsächlich

Chemnitz, ein Jahr danach


Ein getöteter Deutscher, zwei verdächtigte Asylbewerber, angebliche Hetzjagden auf Ausländer:


Im August 2018 befand sich Chemnitz in einer Art Fieberrausch. Was geschah damals wirklich?


Es gibt neue Fakten – und viele offene Fragen. Von Alexander Wendt


Vermeintlicher Neonazi mit RAF-Tätowierung: André H. bei einer Demonstration, 26. August 2018.

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