Die Weltwoche - 29.08.2019

(Chris Devlin) #1
Weltwoche Nr. 35.19 5
Bild: Str (Photopress-Archiv, Keystone)

L

etzte Woche fand wieder das traditionelle
Weltwoche-Sommerfest mit über 300 Gästen
in Rudi Bindellas wunderschönem Restaurant
«Terrasse» statt. Der Anlass gilt einerseits dem
Dank an unsere Kunden, Freunde und Mit-
arbeiter. Zum anderen huldigen wir der
gros sen Tradition unserer Zeitung.
Die Weltwoche wurde vor bald 86 Jahren
in Zürich gegründet. 1933 war ein verrück-
tes, schicksalsschweres Jahr. In Deutsch-
land hatten eben die Nationalsozialisten
die Macht übernommen. Die Weimarer
Republik war gewaltsam beerdigt worden.
Eine verheerende Wirtschaftskrise hatte
Millionen ins Elend gestürzt. Europa war
ein brodelnder Lavastrom. Aus dem Osten
drohten die Kommunisten mit Revolu-
tion. Die noch jungen Demokratien des
Westens hatten schwere Selbstzweifel.
Würde es Demokratie und Liberalismus in
ein paar Jahren überhaupt noch geben?
Alles wankte oder stürzte ein. Die men-
schengemachte Fehlkonstruktion der Ver-
sailler Friedensordnung lag in Trümmern.
Es war eine Zeit extremer Polarisierungen.
Die Meinungsfronten waren betoniert, der
öffentliche Raum versteinert in Schlacht-
ordnungen. Es gab angeblich nur ein Ent-
weder-oder, links oder rechts, Kommunis-
mus oder Diktatur. In diese politische
Schützengrabenlandschaft hinein wurde
die Weltwoche geboren.
Die Weltwoche verstand sich von Beginn weg
als Befreiungsschlag gegen dieses in seiner
Überhitztheit festgefrorene Klima der Diskus-
sionsverweigerung. Je härter die Konflikt-
linien, desto flinker setzte sich die Weltwoche
darüber hinweg. Das Blatt war gleichsam die
Antithese zu einem Zeitgeist, der den zwin-
genden absoluten Positionsbezug einforderte.
Die Zeitung war unkonventionell in dem Sinn,
dass man sich immer wieder die Freiheit her-
ausnahm, die Dinge ausserhalb der vorgespur-
ten Bahnen wahrzunehmen.
Selbstverständlich: So etwas wie die Welt­
woche konnte nur in der Schweiz entstehen. In
keinem anderen Land wäre dieses gegenläu-
fige, sich immer wieder an Mehrheitsmeinun-
gen und scheinbar unhinterfragbaren Konsen-
sen abarbeitende, sie kontrapunktierende
Blatt denkbar gewesen. Die Schweiz ist als

älteste, tiefste und echteste Demokratie Euro-
pas sozusagen genetisch auf Meinungsvielfalt
codiert. Die Weltwoche erhob diese Prägung
zum Programm.
Die Weltwoche als Antithese: Die Formel
nimmt den berühmten Titel des Basler Histo-
rikers Herbert Lüthy von der «Schweiz als
Antithese» auf. Für den ursprünglich linken
späteren ETH-Historiker, der seinen Ehren-
doktortitel von der Uni Genf abgab, als dort
ein gewisser Jean Ziegler seine Professur be-
kam, war die Schweiz der lebende Beweis da-
für, dass es mitten in Europa ein Land geben
kann, dessen Einwohner sich selbst regieren,
«ohne unter das Joch ihres Regierungsappa-
rats zu fallen».
Die Schweiz ist seit ihrer Initialzündung vor
über 700 Jahren die europäische Gegenthese.

Als um sie herum die Fürsten das Kommando
übernahmen, zog sich die Eidgenossenschaft
ins Reduit lokaler Selbstverwaltungen zurück.
Vom Absolutismus der frühen Neuzeit setzten
sich die «svizzeri» mit einem Staatsverständ-
nis ab, das auf einem verwirrenden Geflecht
von Einzelbünden beruhte.
Die Schweiz ging kaum beirrbar ihren
eigenen Weg, während um sie herum Reiche,
Monarchien und Diktaturen zusammen-
krachten. Das Einzige, was in der kriegeri-
schen europäischen Geschichte eigentlich nie
oder fast nie einstürzte, war dieser verwund-
bare kleine Steinhaufen ohne Kolonien,
Bodenschätze und Meeranstoss in einer Art
Mittelpunkt des Kontinents, die Schweiz.
Wenn man die «störrische Widerstands-
kraft» als schweizerisches Merkmal ernst
nimmt; wenn man sich mit Lüthy vor Augen
hält, dass die Schweiz gegen den Strom der

Editorial


Schweiz als


Antithese


Ohne Schweiz keine Weltwoche.
Ohne Weltwoche keine Schweiz?
Von Roger Köppel

gesamteuropäischen Geschichte die Perioden
des Absolutismus, des Rassennationalismus,
des Faschismus/Kommunismus und des heu-
tigen EU-Supranationalismus zwar durch-
laufen hat, jedoch ohne daran teilzunehmen,
dann wird der Gedanke klar, warum nur die
Schweiz die politische Unterlage bilden
konnte, auf der eine unkonventionelle Zei-
tung wie die Weltwoche entstehen konnte. Ohne
Schweiz keine Weltwoche.
Und ohne Weltwoche keine Schweiz? Tatsache
ist, dass die Meinungsbandbreiten in den offi-
ziellen Medien nicht breiter werden, sondern
wieder enger. Seit einigen Jahren sind es die
Journalisten, die neue Schützengräben aus-
heben, die Meinungsfronten erneut fest-
mauern und verbetonieren. Ob Kernenergie,
Klima, Trump, SVP, Gender, Kinderkrippen,
Vaterschaftsurlaub, Brexit, Pestizide,
Salvini, China oder Orbán – die media-
len Meinungseinpeitscher geben den
Ton und die Richtung vor. Betreutes
Denken überall, wer sich nicht ins
Glied einreiht, macht sich verdächtig.
Am Sommerfest legten wir für unsere
Gäste den legendären Lüthy-Text über
die «Schweiz als Antithese» aus dem
Jahr 1961 in Kopie zum Mitnehmen auf.
Der Historiker hatte sich darin poli-
tisch gegen die «Tyrannis der gleich-
geschalteten Befehlszentrale» ge-
wandt. Ein visionäres Wort. Heute
würde Lüthy gegen die mediale Gleich-
schaltung, also für die möglichst
anarchische Vielfalt an Positionen und
Meinungen als unverzichtbare Voraus-
setzung für das Funktionieren einer
direkten Demokratie eintreten.
Die Demokratie ist für Lüthy «die
Staatsform der Alternativen». Nur
dort, wo die Leute frei zwischen mehre-
ren Varianten wählen können – ohne
Sanktionsdrohungen einer ausländi-
schen oder inländischen Macht –, gibt
es Demokratie. Wo der Wähler hingegen
bestraft oder mit «Ausgleichsmassnahmen»
belegt wird, wenn er nicht so abstimmt, wie
die Mächtigen wollen, endet die Demokratie,
haben wir die «alternativlose Demokratie»,
die Nicht-Demokratie zum Beispiel des insti-
tutionellen EU-Rahmenvertrags.
Die Schweiz und mit ihr die Weltwoche stehen
für die Demokratie als Staatsform der Alter-
nativen und der echten Meinungsvielfalt ein.
Sie stellen sich damit automatisch gegen das
Unding einer alternativlosen Demokratie, ge-
gen die Nicht-Demokratie, die vom modisch
gewordenen Irrtum ausgeht, dass es zu allen
Fragen, die uns heute oder in Zukunft beschäf-
tigen, nur eine Wahrheit, nur eine Sichtweise
geben könne. Das ist nicht nur undemokra-
tisch, das ist auch falsch. Meinungsfreiheit ist
immer die Freiheit, eine andere Meinung zu
haben. Und zu äussern.

Visionäres Wort: Historiker Herbert Lüthy.
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