Die Weltwoche - 29.08.2019

(Chris Devlin) #1
Weltwoche Nr. 35.19 51
Bild: Amanda Perobelli (Reuters)

Die meisten Brasilianer kennen den Urwald
nur aus Schulbüchern und Naturfilmen. Für
jemanden aus Rio de Janeiro oder São Paulo ist
der Amazonas etwa so weit entfernt wie Island
für einen Griechen. Von den 208 Millionen
Brasilianern leben gerade mal 12 Prozent im
Amazonasgebiet, die meisten von ihnen nicht
einmal im richtigen Urwald.
Wer glaubt, die Brasilianer interessierten
sich nicht für den Schutz der Regenwälder, der
irrt sich gewaltig. Umweltschutz ist populär.
Immer findet irgendwo eine Protestaktion
statt. Nur lässt sich politische Propaganda
selten von der Realität unterscheiden. Stell­
vertretend dafür ist ein Foto, das kürzlich in
den sozialen Netzwerken viral ging: Eine
Make­ up­Künstlerin aus dem Süden bemalte
ihren schönen Körper mit Russzeichnungen
von brennenden Pinien und Giraffen. Beides
gibt es im Amazonas nicht.
Bereits vor Lula und Rousseff regierte mit
Fernando Cardoso (1995 bis 2003) ein Sozialist,
wenn auch ein nicht ganz so radikaler. Die
politische Linke hatte ein Vierteljahrhundert
lang Zeit, die Brandrodung zu bekämpfen.
Doch in den letzten 25 Jahren wurde mehr
Wald zerstört als je zuvor. Die Arbeiterpartei
hat die radikale Landlosenbewegung MST ge­
radezu ermuntert, sich das Land zu nehmen,
wie es ihr beliebte.
Gegen Lula und Rousseff wurde nie eine in­
ternationale Krise ausgerufen. Im Gegenteil,
Prominente wie Bono Vox oder Roger Waters
schmolzen nur so dahin vor Bewunderung
für Lula und Co. Doch das Geschrei um die

Die andere Sicht


«Alberner Mythos»


Das sagt der brasilianische Umweltminister Ricardo Salles
zu den Vorwürfen gegen die Regierung Bolsonaro.
Von Alex Baur

Der 44­jährige Anwalt und vormalige
Umweltsekretär von São Paulo trat Anfang
Jahr sein Amt als Umweltminister von Bra­
silien an. Er gilt als Exponent der «neuen
Rechten», selber bezeichnet sich Ricardo
Salles als «wirtschaftsliberal, über allem
aber als Demokrat». In einem ausführlichen
Interview mit der Zeitung Estadão nahm er
am Wochenende ausführlich
Stellung zu den Vorwürfen
gegen die Regierung in Be­
zug auf die Brände im
Amazonasgebiet. Eine Zu­
sammenfassung:

_ Brasilien ist gerade dar-
an, die Lunge des Planeten
zu verbrennen. Laut Salles
ist das ein «alberner My­
thos». Das Amazonas gebiet
bildet einen geschlossenen
Kreislauf, er gibt so viel CO2
in die Atmosphäre ab, wie er
absorbiert. Der Regenwald ist aber lebens­
wichtig für den regionalen Wasserhaushalt.
Für Brasilien selber ist es von höchster
Priorität, das natürliche Gleichgewicht im
Amazonasgebiet zu bewahren.

_ Die illegalen Rodungen haben unter
der Regierung Bolsonaro um 88 Prozent
zugenommen. Diese Behauptung basiert
auf der falschen Auslegung von Daten, die
in politischer Absicht vom nationalen
Raumfahrtinstitut Inpe Medien zugespielt
wurden. Richtig ist, dass die Brandrodun­
gen im Amazonasgebiet seit 2012 zugenom­
men haben. Salles: «Wir haben die Zu­
nahme der Entwaldung nie geleugnet.»
Wie es dieses Jahr aussieht, kann man noch
nicht wissen, weil die Trockenperiode
(August bis Oktober) erst begonnen hat.

_ Inpe-Präsident Ricardo Galvão wurde
im Juli entlassen, weil er Zahlen öffent-
lich machte, die der Regierung nicht ge-
fallen. Die Regierung braucht zuverlässige
Daten, egal, ob sie ihr gefallen oder nicht. Es
wurde ein internationaler Wettbewerb aus­
geschrieben, um die Satelliten­kontrollen
zu verbessern. Eine engere Zusammen­
arbeit mit den USA, die präzisere Daten
liefern, ist geplant. Einigen Leuten des Inpe

gefällt das aber nicht, sie wollen die Satel­
litenüberwachung nicht aus der Hand ge­
ben. Doch Nationalismus oder Antiameri­
kanismus ist hier fehl am Platz. Das ist der
wahre Grund des Konfliktes.

_ Die Regierung Bolsonaro unternimmt
nichts gegen die Waldrodungen, sondern
fördert diese sogar rheto-
risch. Falsch. Die Frage ist
nicht ob, sondern wie man den
Raubbau im Amazonasgebiet
effizient bekämpft. Der
Amazonas­Regenwald ist so
gross wie ganz Westeuropa,
allein der Entwaldungs­
bogen, der am meisten Sor­
gen bereitet, umfasst eine
Million Quadratkilometer. Es
ist sehr schwierig, ein solches
Gebiet zu kontrollieren. Das
Hauptproblem ist die Armut.
Es mangelt nicht an Ge­
setzen, doch wer im Elend lebt, kümmert
sich nicht um Gesetze. Man muss den Men­
schen eine legale Möglichkeit bieten, die
natürlichen Ressourcen zu nutzen, nur so
kann man Regeln vorgeben. Salles: «Das
Schlimmste wäre, so zu tun, als gäbe es
keine Bewohnter am Amazonas, und diese
so in die Gesetzlosigkeit zu stürzen.»

_ Deutschland und Norwegen haben
dem Amazonas-Fonds die Gelder ent-
zogen, weil die Regierung Bolsonaro den
Schutz des Regenwaldes sabotiert. Bra­
silien unterstützt den Fonds, doch die neue
Regierung fordert, dass die Privatwirtschaft
eingebunden wird. Projekte, die auf dem
Markt nicht bestehen, sind nicht nach­
haltig. Bemängelt wird auch der Finanzie­
rungsmodus. Die Geberländer überweisen
ihren Beitrag an den brasilianischen Staat,
doch dieser kann das Geld nur an NGOs
weiterleiten, ohne selber Einfluss auf deren
Aktivitäten zu nehmen. Deutschland und
Norwegen sind frei, die Gelder direkt an die
NGOs zu bezahlen, dann tragen sie aber
auch die volle Verantwortung gegenüber
ihren Steuerzahlern.

Ricardo Salles.

Lange Tradition: Brandrodung in Brasilien.


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